»Hinterm Mond« bekommen SF-Autorinnen eine Stimme
»Hinterm Mond« ...
... bekommen SF-Autorinnen eine Stimme
Der Journalist Norbert Fiks hatte zur dritten Auflage von »Hinterm Mond«, dem Tag der Science-Fiction-Literatur in Ostfriesland, eingeladen. Fünf Stunden lang wurde am 9. Oktober im Leeraner Kulturspeicher gelesen und diskutiert – und mancher Denkanstoß gegeben.
»Wir werden immer mehr«, freute sich der Gastgeber beim Anblick des vollen Saals. Rund 50 SF-Fans und -Autoren waren zum Teil von weither gekommen – etwa aus Hannover, Kiel, Berlin, Dresden, Wiesbaden und Ludwigshafen –, um an dieser besonderen Veranstaltung teilzunehmen. Sie war eine der ersten dieser Art nach monatelangem Corona-Lockdown. In dem urigen Veranstaltungshaus am Hafen saßen unter anderem die SF-Autoren Uwe Post und Uwe Hermann, die beide das Programm von »Hinterm Mond 2018« mitgestaltet hatten, der Berliner Autor und Übersetzer Bernhard Kempen, die Autorin und (seit neuestem) Herausgeberin Aiki Mira, das Urgestein des DDR-Fandoms und Pentacon-Organisator Rolf P. Krämer (RPK), die Bloggerin Yvonne Tunnat alias Rezensionsnerdista, einige Aktive des PERRY-RHODAN-Fandoms und Mitglieder der Science Fiction Gruppe Hannover, aber auch viele SF-Fans aus der Umgebung.
Im Mittelpunkt standen vier Autorinnen, denn es ging in Leer um das Thema »Science-Fiction und Frauen«: Regine Bott, Theresa Hannig, Jacqueline Montemurri und Madeleine Puljic gaben Einblick in ihre aktuellen Werke und diskutierten über die Themen Gleichberechtigung, Sichtbarkeit und Wertschätzung von Frauen in der als Männerdomäne wahrgenommenem SF-Szene. Schon bei der Vorbereitung von »Hinterm Mond 2018«, als nur Männer zu Wort kamen, sei ihm klar gewesen, dass er für das nächste Mal Frauen einladen werde, sagte Norbert Fiks bei der Begrüßung.
Den Auftakt machte Theresa Hannig mit einem Impulsreferat, in dem sie auf die Situation von Frauen im Literaturbetrieb einging. 55 Prozent der in der Künstlersozialkasse erfassten hauptberuflich tätigen Autor*innen in Deutschland seien Frauen. Doch im Literaturbetrieb würden doppelt so viele Werke von Männern wie von Frauen rezensiert, habe die Initiative Frauenzählen festgestellt. Im phantastischen Genre – Science-Fiction, Fantasy, Horror – liege der Frauenanteil sogar nur bei etwa 20 Prozent. Doch nur weil das Buch einer Frau nicht besprochen werde, bedeute das nicht, dass es nicht gut sei, betonte Hannig.
Laut einer Umfrage der britischen Tageszeitung The Guardian werden von Männern verfasste Bücher zu 55 Prozent von Männern und zu 45 Prozent von Frauen gelesen. Bei von Frauen verfassten Büchern liegt der Anteil der lesenden Männer bei nur 19 Prozent. »Das bestätigt das Gefühl: Die Frauen sind nicht da«, sagte Theresa Hannig. »Hinterm Mond«-Organisator Norbert Fiks hatte selbst vor Kurzem mit einer Grafik auf Twitter für Diskussionsstoff gesorgt. Sie illustriert, dass der Frauenanteil beim Deutschen Science-Fiction-Preis und beim Kurd-Laßwitz-Preis unter zehn Prozent liegt.
Es sei »super schwierig«, überhaupt etwas über Science-Fiction-Autorinnen herauszufinden, »weil sie verschwinden«, fuhr die Referentin fort. Die Suchmaschine Google erschwere es aufgrund ihrer Algorithmen, an die gewünschten Informationen zu kommen. »Das ist nicht auch nur ansatzweise ausgeglichen«, so Hannig. Beim Suchbegriff »Autor« gibt es fast eine Milliarde Einträge, bei »Autorin« gerade einmal gut 20 Millionen (ihre Zahlen waren von September 2021).
Die Autorin, die bis 2019 selbst »fast nur Literatur von Männern« las, setzt sich inzwischen aktiv dafür ein, ihren Berufskolleginnen mehr Sichtbarkeit im Netz zu verschaffen. Sie legte 2019 unter dem Hashtag #wikifueralle eine Wikipedia-Seite an, die deutschsprachige Science-Fiction-Autorinnen auflistet. »Ich habe total viel Gegenwind gekriegt, in der Community waren viele dagegen«, so Hannig. Inzwischen werde die Liste mit rund 150 Einträgen aber von der Community gepflegt und fast doppelt so häufig frequentiert wie die mit den SF-Autoren.
Es gehe im Sinne einer positiven Verstärkung darum, Sichtbarkeit zu schaffen, die für Relevanz sorge und letztendlich zu mehr Wertschätzung von Frauen führe. Ein erster Schritt zur Lösung des Problems sei es zu erkennen, dass Handlungsbedarf bestehe und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, so Hannig. Sie arbeitet derzeit an einem Projekt, das belastbare Daten dazu liefern soll, wie das Geschlechterverhältnis bei den veröffentlichten SF-Werken ist. Diese Daten, hofft sie, von der Deutschen Nationalbibliothek, dem Online-Buchhändler Amazon und Barsortimenter Libri zu bekommen.
Nach diesem faktenreichen Einstieg nahm als erste Madeleine Puljic am Lesetisch Platz und stellte ihren Roman »Zweite Heimat. Die Reise der Celeste« vor. »Dieses Buch existiert, weil ich eine Frau bin«, betonte die gebürtige Österreicherin, die sich unter anderem bei PERRY RHODAN Neo als SF-Autorin einen Namen gemacht hat. Deshalb sei sie vom Verlag gefragt worden. Sie berichtete davon, dass der Verlag ihr dennoch vorgeschlagen habe, ihren Vornamen auf dem Cover zu M. abzukürzen, damit auf den ersten Blick nicht ersichtlich sei, dass er von einer Frau geschrieben wurde. »Jeder Mensch hat seinen eigenen Stil, jeder Mensch schreibt anders.« Ob ein Buch von einem Mann oder einer Frau geschrieben sei, mache qualitativ keinen Unterschied. Es gehe darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Literatur von Frauen nicht schlechter sei als die von Männern, stimmte sie Theresa Hannig zu. Wenn jedoch ein Mann frage, warum er Bücher von einer Frau lesen solle, wenn sich diese nicht von denen eines Mannes unterschieden, könne sie nur antworten: »Genau deshalb. Es geht nicht darum, zu sagen: ›Lies Frauen, es eröffnen sich dir dann andere Möglichkeiten‹, sondern ›Lies auch Frauen, denn diese schreiben nicht schlechter‹.« In »Zweite Heimat« nahm sie die Zuhörer mit auf eine Weltraum-Mission, die die Grundlagen für eine Besiedlung des Mars als »Planet B« legen soll. »Es ist keine Liebesgeschichte«, nahm Puljic die Erwartungshaltung von Lesern an sie als schreibende Frau auf die Schippe. Die Mission des Raumschiffs »Celeste« verläuft anders als erwartet, denn auf dem Mars gelandete Aliens kommen der Crew zuvor.
»Born« heißt der Thriller von Regine Bott, die sich entschieden hat, ihre SF-Romane unter einem Pseudonym zu veröffentlichen: Kris Brynn. »Ich bin multipersonal unterwegs: Es ist für mich okay«, betonte sie, bevor sie als Zweite ihr Werk dem Publikum näherbrachte. Die Literaturwissenschaftlerin erklärte, dass Hard-SF ihre Sache nicht sei. Bei ihr stünden keine technischen Details im Vordergrund, sondern die Interaktion der handelnden Figuren, der »soziomolekulare Komplex«. Science-Fiction sei ein »Auffangbecken« für verschiedene Genres. »Da hat alles Platz, und ich kippe da ganz viel rein.« »Born« ist in einer Mega-City in naher Zukunft angesiedelt. Von Bruder- und Schwesternschaften nach alttestamentarischem Kodex geleitete vertikale Farmen und Gewächshäuser außerhalb der City sichern deren Versorgung. Das Leben von Nalani, Taxifahrerin in der Megacity – stets begleitet von dem Hologramm Fergus –, gerät aus den Fugen, als ihr Bruder Tomas sie verzweifelt kontaktiert. Denn auf der Farm, in der er arbeitet, scheint irgendetwas schief zu laufen. »Ich habe sehr viel Spaß an meinen Charakteren«, so Bott. Diese auszuformen und mit Leben zu füllen »macht mir fast noch mehr Spaß, als den Plot zu entwickeln«. Wer gute Dialoge schreiben wolle, dem riet sie, Drehbücher zu lesen und sich im Fernsehen Serien anzuschauen.
Jacqueline Montemurri, die im vergangenen Jahr mit der Kurzgeschichte »Der Koloss aus dem Orbit« den Kurd-Laßwitz-Preis gewonnen hat, präsentierte in Leer Auszüge aus ihrem gleichnamigen Roman: Das Geheimnis des »Kolosses«, eines vermeintlichen Raumschiffs, das seit Jahren die Erde umkreist, soll endlich gelüftet werden. Für diese nicht allzu begehrte Aufgabe wird eine Crew aus gescheiterten Existenzen zusammengestellt, zu der die drogensüchtige Journalistin Dysti und der ausgemusterte Cyborg Xell gehören. Als sie das Geheimnis des »Kolosses« entdecken, können sie sich nur durch eine Flucht 250 Jahre in die Zukunft retten. Die Idylle, die sie dort vorfinden, trügt jedoch. Das Buch sei »wie eine Art Roadmovie aufgebaut«, erklärte Montemurri. Die Luft- und Raumfahrttechnikerin gab Einblicke in ihre Arbeitsweise. »Ich versuche nie, meine Charaktere in gut und böse einzuteilen. Die einen haben dieses, die anderen jenes Ziel – und manchmal kollidiert das.« Ihren Roman erzählt sie aus der Ich-Perspektive einer Frau. Dass sie in der Lage ist, aus der Sicht eines Mannes zu erzählen, hat sie als Autorin der Reihe »Karl Mays Magischer Orient« bewiesen.
Theresa Hannig bestritt das Finale bei »Hinterm Mond 2021«. Sie las aus dem Manuskript ihres erst im Februar 2022 erscheinenden Romans »Pantopia«, in dem sie eine Utopie in naher Zukunft entwirft – ohne Aliens oder Raumschiffe. »Dystopien gehen mir ganz schön auf den Sack. Ich habe keinen Bock mehr, mir zum 100.000. Mal erzählen zu lassen, wie die Welt untergeht«, betonte sie. Alles gut werden zu lassen, habe sich jedoch als schwieriges Unterfangen herausgestellt. Hauptfiguren in »Pantopia« sind Henry und Patricia, die bei dem Vorhaben, für ihre Firma eine autonome Trading-Software zu entwickeln, durch einen Fehler im Code unbeabsichtigt die erste starke künstliche Intelligenz auf diesem Planeten entstehen lassen. Deren Name: Einbug. Die KI begreift, dass sie, um zu überleben, nicht nur die Menschen besser kennenlernen, sondern auch die Welt verändern muss. So gründet Einbug mit Patricias und Henrys Hilfe die Weltrepublik Pantopia, in der es keine Nationalstaaten mehr gibt und die Menschenrechte uneingeschränkt gelten. »Die KI erkennt sich im Kant’schen Sinne als vernunftbegabtes Wesen«, so Hannig. Nicht nur der Aufklärer Kant, sondern auch der amerikanische Philosoph John Rawls (1921-2002) habe ihre Arbeit inspiriert. Die Autorin, die sich als »total politisch« bezeichnete und seit Kurzem Mitglied im Gemeinderat ihres Wohnortes in der Nähe von München ist, betonte, dass man das Künftige nicht als gegeben hinnehmen müsse. »Wir können alle etwas verändern. Zukunft passiert nicht, wir machen sie selbst.« Eine Aussage, die auch als Aufforderung zu einem Paradigmenwechsel im Literaturbetrieb verstanden werden kann, um die diskutierte Ungleichbehandlung von Frauen abzuschaffen.
Begonnen hatte der 3. Tag der Science-Fiction-Literatur am Vorabend mit einem Treffen in einem örtlichen Bistro. Früh angereiste Fans und Autorinnen hatten Gelegenheit, sich in zwangloser Runde kennenzulernen und auszutauschen. RPK lockerte die Runde mit einigen seiner humoristischen Gedichte auf. Ebenso so zwanglos ging es nach dem Lesungsmarathon beim Italiener weiter, wohin Norbert Fiks und seine Frau Karin Lüppen die Autorinnen und eine Handvoll Gäste geführt hatten. Ob es eine vierte Auflage von »Hinterm Mond« geben wird, ließ der Gastgeber offen: »Es dürfte schwer werden, etwas Adäquates auf die Beine zu stellen. Dieser Tag war für mich der Höhepunkt meines bisherigen Daseins als SF-Fan.«
Foto: Klaus Ortgies, Dennis Schremper und Norbert Fiks
Kommentare
Ich persönlich halte es so, dass ich Bücher, die mir nicht gefallen, eher nicht bespreche - völlig unabhängig davon, ob sie von einem Mann oder einer Frau geschrieben worden sind.
Darüber hinaus ist schon der Begriff Rezensionen in der Form völlig nichtssagend. Im Spiegel, in der Zeit, auf Phantastik.de oder auf Amazon? Stichproben auf 100 Blogs?
Zitat: Klar, weil das Genre als Marktsektion und Gewinnerzeuger verschwindet. Sieht man sich das Angebot an YA und den Historischen Roman an, dürften es wohl mehr Frauen als Männer sein. Auf der aktuellen Top 20 der Spiegeltaschenbuchbestsellerliste steht es diese Woche 10 zu 10. Und was sagt uns das?