Ein paar Anmerkungen... zum Dorian Hunter-Hörspiel 22.1
Natürlich hat Marco Göllner sich nach seinen Grundsatz gehalten: Nach Motiven des Romanes, das heißt er hat die Handlung stark verändert.
Der DK-Roman Nr. 19 spielt hauptsächlich in der Vergangenheit und schilderte Erlebnisse aus dem 2. Leben von Dorian Hunter als Juan Gracia de Tabera.
Am Anfang und am Ende tauchte Dorian Hunter auf. Sonst niemand Bekanntes aus der DK-Crew oder der Schwarzen Familie tauchen im Heftroman auf. Die Heftseiten 5 - 17 sind sozusagen die Einleitung der Geschichte von Christina Nelson, die durch ein Tor der Dämonen in die Vergangenheit geschleudert wird.
Ab dem 4. Kapitel (Seite 17) erzählt die Vampirin Esmeralda alias Tina Nelson ihrem Mann Lester war ihr in der Vergangenheit passiert ist. Ab 12. Kapitel (Seite 61) spielt die Romanhandlung wieder in der Gegenwart und Dorian Hunter kann verhindern, dass Lester Nelson von seiner Frau Tina, die seit über vierhundertfünfzig Jahren auf ihre Rache wartet, getötet wird.
Genug der Einleitung, kommen wir zu den einzelnen Tracks:
Folgendes kann man in DK-Heft 19 lesen:
„Heute ist der 20. September des Jahres 1506.“
Esmeralda hatte die Augen geschlossen. Sie atmete auf. Es war ein für ihre Zwecke gutes Datum. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie aller Blicke auf sich gerichtet. Man betrachtete sie mehr oder weniger gespannt, skeptisch und belustigt. Nun, den Zweiflern würden in spätestens sechs Tagen die Augen vor Überraschung übergehen, wenn ihre Prophezeiung Wirklichkeit wurde.
„Wenn heute der 20. September ist, dann wird in sechs Tagen Philipp von Kastilien sterben. Dies wird sich am 26. September zutragen.“
Im Hörspiel sagt Esmeralda den Tod von Christoph Kolumbus im März 1506 voraus und zwei Tage später stirbt er [Kolumbus ist am 20. Mai 1506 in Valladolid gestorben]. Am 20. September wird sie dann vor dem Tribunal der Inquisition vorhört.
Hier hört das Dorian Hunter-Hörspiel 22.1 „Esmeralda – Verrat“ auf. Übermorgen machen wir mit dem Dorian Hunter-Hörspiel 22.2 „Esmeralda – Rache“ weiter.
Diesen Roman-Anfang hat Euch Marco Göllner vorenthalten, denn er wollte ja seine Storyline durchziehen.
Es war ihre Hochzeitsreise, doch es wurde eine Fahrt in die Hölle.
Begonnen hatte alles mit einem Autounfall auf der E 25, der Verbindung zwischen Sevilla und Cordoba. Drei ineinander verkeilte Autos blockierten die Straße. Lester Nelson wurde von den Polizisten auf eine Nebenstraße eingewiesen. Zu allem Überfluß mußte seine ohnehin ängstliche Frau noch mit ansehen, wie aus einem der Wracks ein Toter geborgen wurde, dem beide Beine abgerissen worden waren. Dieser Anblick war selbst für Lester, der sich für abgebrüht hielt, zuviel gewesen.
Und jetzt hatte er sich hoffnungslos verfahren. Weit und breit keine Umleitungs- oder Hinweisschilder, und es fuhren auch keine anderen Autos auf dieser Straße.
Tina jammerte. Anfangs versuchte Lester, sie zu beruhigen, aber als alles gute Zureden nicht half und sie immer hysterischer wurde, fuhr er sie ziemlich grob an. Danach hielt sie wenigstens eine Weile den Mund.
Am Himmel brauten sich dunkle Gewitterwolken zusammen. Urplötzlich brach die Nacht herein. Für einige Sekunden herrschte eine fast unheimliche Stille. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Und dann ging es los.
Blitze zuckten über das Firmament. Der Donner rollte über das Land und ließ die Erde erbeben. Die Schleusen des Himmels öffneten sich wie am Jüngsten Tag. Es goß in Strömen.
Tina schrie auf und klammerte sich an Lesters Arm. Er wollte sie abschütteln, bekam seinen Arm aber nur gerade so lange frei, um die Scheibenwischer einzuschalten.
Plötzlich schrie sie. Es war ein Entsetzensschrei, wie Lester ihn vorher von ihr noch nie gehört hatte. Beinahe hätte er die Herrschaft über den Wagen verloren, konnte das Lenkrad aber gerade noch herumreißen. Tina hing an ihm, als ginge es um ihr Leben.
„Halt den Mund!“ brüllte er außer sich vor Zorn. „Zum Teufel, laß mich los! Oder willst du, daß wir im Straßengraben landen?“
Tinas Schrei erstarb in einem Schluchzer. Sie klammerte sich noch immer an ihn und bohrte ihm ihre Nägel in den Oberarm.
„Ruf nicht den Teufel an!“ flehte sie mit schriller, unnatürlicher Stimme. „Er kommt sonst zu uns. Er lauert uns bereits auf. Sieh nur seine Spuren auf der Straße!“
Lester verlor die Beherrschung. Er riß sich mit aller Kraft von ihr los und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Der Wagen rumpelte über Schlaglöcher. Lester trat instinktiv auf die Bremse. Tina wurde nach vorne geschleudert und schlug mit dem Kopf krachend gegen die Windschutzscheibe.
Er wollte sich fürsorglich um sie kümmern, doch sie schlug nach ihm, schwer atmend und schluchzend ihn anflehend: ,,Fahr weiter! Halte nicht an! Bitte, Lester, bringe mich fort von hier! Siehst du nicht die Spur des Teufels?“
Das Mitleid, das er für sie empfunden hatte, war sofort wieder weggewischt. Er hatte gute Lust, ihr noch eine runterzuhauen,
Aber plötzlich stutzte er. Sein Blick fiel auf die Straße. Er sah Vertiefungen im Asphalt, die er zuerst für Schlaglöcher gehalten hatte. Die Umrisse waren zu regelmäßig. Es handelte sich tatsächlich um Fußabdrücke und Abdrücke von Pferdehufen. Sie waren überdimensional groß und so angeordnet, als stammten sie von jemandem, der mit einen normalen Fuß und einem Pferdehuf herumlief.
„So fahr doch bitte, bitte weiter!“ flehte Tina schluchzend.
Lester zwinkerte mit den Augen und fuhr langsam wieder an. Der Regen trommelte auf das Wagendach. Das Trommeln wurde lauter.
„Fahr schneller!“ bat Tina, die ihn sonst eher zu langsamem Fahren anhielt.
„Ich fahre fünfzig. Mehr ist bei dieser schlechten Sicht nicht drinnen.“
Die Scheibenwischer wurden der Wasserfluten kaum Herr. Als der Regen einen Atemzug lang etwas nachließ, stellte Lester erleichtert fest, daß im Asphalt keine Fußspuren mehr zu sehen waren.
Alles nur Einbildung, sagte er sich. Er war von der langen Fahrt übermüdet, und Tinas Hysterie und abergläubische Furcht taten ihr übriges. Wenn das Unwetter anhielt, würde er nicht mehr bis Cordoba, Tinas Geburtsstadt, durchfahren, sondern bei der nächsten Absteige übernachten.
„Was ist das, Lester?“ erkundigte sich Tina zitternd.
Das Trommeln des Regens war zu einem ohrenbetäubenden Stakkato angeschwollen; es hörte sich so an, als würden Steine aufs Wagendach prasseln.
„Es hagelt!“ stellte Lester verblüfft fest. Und das mitten im September in Südspanien! Aber jeder Zweifel war ausgeschlossen. Lester sah ganz deutlich durch die Windschutzscheibe, wie die Hagelkörner auf der Kühlerhaube des Wagens tanzten. Manche waren so groß wie Taubeneier.
Die Straße war mit einer weißen, glitzernden Schicht bedeckt. Das Licht der Scheinwerfer brach sich in den Eiskristallen. Und es hagelte immer stärker. Die Körner, von denen manche nun schon die Größe einer Männerfaust hatten, sausten wie Geschosse auf den Wagen herunter.
„Ich halte es nicht mehr aus!“ kreischte Tina und hielt sich die Ohren zu.
Lester konnte sie sogar verstehen. Der Wagen ließ sich kaum noch steuern. Doch trotz des ohrenbetäubenden Lärms glaubte Lester das Knirschen der von den Rädern zermalmten Hagelkörner zu hören. Es hörte sich so an, als ob jemandem die Knochen gebrochen würden.
Hier ging es nicht weiter. Lester ließ den Wagen ausrollen. Kaum stand er still, hörte der Hagel so abrupt auf, wie er eingesetzt hatte.
Tina saß völlig apathisch da. In diesem Augenblick sah sie wie eine Schwachsinnige aus. Als Lester sich jedoch anschickte, die Wagentür zu öffnen und auszusteigen, warf sie sich auf ihn und versuchte, ihn zurückzuhalten.
„Lester, wo willst du hin? Bleib bei mir!“
Er stieß sie fort.
„Sei nicht närrisch! Ich will mich nur einmal umsehen.“
Er stieg aus und versank bis zu den Knöcheln in den knirschenden Eiskörnern. Die Karosserie seines Wagens war völlig verbeult. Das Blech sah aus, als hätte man es mit dem Vorschlaghammer bearbeitet.
„Lester!“
Er wirbelte herum, als er Tinas Aufschrei hörte, eine passende Zurechtweisung auf der Zunge; sein Ärger verrauchte aber sofort, als er in die Richtung ihrer ausgestreckten Hand blickte.
Im Licht der Scheinwerfer war eine nicht deutlich zu erkennende Gestalt aufgetaucht. Lester konnte nur feststellen, daß sie in einen schwarzen Umhang gehüllt war.
„He, Sie da!“ rief Lester in seinem gebrochenen Spanisch. „Können Sie uns sagen, wo wir hier sind?“
Die Gestalt wich einige Schritte zurück. Dann ertönte ein schrilles Lachen, und eine krächzende Stimme sagte irgendetwas, das Lester nicht verstand.
„Lester!“ rief Tina mit weinerlicher Stimme. „Komm, fahren wir schnell weiter, bevor...“
Lester griff blitzschnell durch die offene Tür in den Wagen und schal-tete das Fernlicht ein, sah aber nur noch, wie die Gestalt mit wehendem Umhang feldeinwärts rannte. Er war nun sicher, daß es sich um eine Frau handelte.
„Komische Alte“, murmelte er, während er sich wieder hinter das Lenkrad klemmte. „Was hat sie uns denn zugerufen? Hast du es verstanden?“
Tina fröstelte und sagte: „Versprich mir, daß du bis Cordoba durchfährst, Lester! Halte nicht mehr an, was auch passiert! Ich werde erst aufatmen, wenn wir bei meinen Eltern sind.“
Er fuhr wieder an. Einen Kilometer weiter war die Straße frei von Hagelkörnern.
„Willst du mir nicht endlich verraten, was die Alte gesagt hat?“
Tina hatte die Lippen fest zusammengepreßt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihm Antwort gab, und ihre Stimme klang fremd, als sie sagte:
„Sie hat uns prophezeit, daß wir unserem Schicksal nicht entrinnen könnten. Einen von uns beiden erwarte das Fegefeuer, den anderen der Tod.“
Lester lachte auf, schüttelte den Kopf und lachte wieder. „So ein Un-sinn!“
Ein Blick in Tinas Gesicht zeigte ihm jedoch, daß sie nicht seiner Meinung war.
Zehn Kilometer weiter ging es bergab. Unten war die Straße überschwemmt. Ein Pferdefuhrwerk und ein Lastwagen standen quer. Der Kutscher und der Lastwagenfahrer diskutierten erregt miteinander. Als Lester den Morris wenige Schritte vor ihnen anhielt, gestikulierten sie temperamentvoll in seine Richtung. Aus ihren Handbewegungen schloß Lester, daß sie ihm zu erkennen geben wollten, daß es hier nicht weiterging und er besser umkehren sollte.
„Erkundige dich einmal, wo wir hier sind und was der kürzeste Weg nach Cordoba ist“, bat Lester seine Frau und stieg aus.
Tina blieb im Wagen sitzen und unterhielt sich durch das heruntergekurbelte Fenster mit den beiden Männern.
„Was sagen sie?“ erkundigte sich Lester schließlich ungehalten, der kaum ein Wort verstanden hatte.
„Wir sind in der Nähe von El Rubio, gut zwanzig Kilometer von der E 25 entfernt“, sagte Tina. „Die beiden meinen, daß wir am sichersten nach Cordoba kämen, wenn wir über Estapa und Puente Genil führen.“
„Gibt es denn keinen kürzeren Weg?“ fragte Lester.
„Doch“, sagte Tina und biß sich auf die Lippe. „Es gibt eine Abkürzung, aber die beiden meinen, sie sei gefährlich.“
„Inwiefern gefährlich?“
„Ich weiß es nicht - und möchte es auch gar nicht wissen“, sagte Tina fröstelnd. „Mir genügt es, daß sich der Kutscher bekreuzigte, als der Lastwagenfahrer die Abkürzung erwähnte. Sie sind sich jedenfalls beide einig, daß sie lieber meilenweit gehen würden, als die Abkürzung zu nehmen.“
„Und den Grund dafür haben sie nicht genannt?“
Tina wandte sich noch einmal an die beiden Einheimischen. Diesmal bekreuzigten sich beide und gestikulierten beschwörend.
„Was ist?“ fragte Lester ungehalten.
„Sie drücken sich nicht klar aus“, meinte Tina unsicher. „Aber in dem Gebiet, durch das die Abkürzung führt, passieren anscheinend unheimliche Dinge. Menschen sollen dort spurlos verschwunden sein und, und... Ich habe Angst, Lester. Wir wollen doch besser den Umweg über Puente Genil machen.“
„Du glaubst doch nicht, daß ich etwas auf dieses Geschwätz gebe“, sag-te Lester abfällig. „Du willst so schnell wie möglich zu deinen Eltern - also nehmen wir die Abkürzung. Und kein Wort mehr darüber!“
2.
„Das ist keine Straße, sondern ein Eselspfad“, murmelte Lester.
Tina schwieg. Sie hatte kein Wort mehr gesprochen, seit sie von der überschwemmten Straße in diesen Feldweg abgebogen waren. Lester ließ sie schmollen. Er war ebenfalls zu stur, um den Versuch einer Versöhnung zu machen. In der Hochzeitsnacht würde schon alles wieder ins Lot kommen.
Links und rechts des Weges standen jetzt Bäume. Lester fuhr in eine Kurve und plötzlich tauchte völlig überraschend ein Gebäude vor ihm auf.
Er bremste abrupt und ließ den Wagen vor dem Haus rollen.
„Halleluja!“ rief er freudig aus. „Ich dachte schon, dieses Gebiet sei völlig ausgestorben. Wir haben Glück, Tina. Das sieht mir ganz nach einer Hosteria aus. Hie bekommen wir sicher Zimmer für eine Nacht.“
Tina drückte sich tiefer in den Sitz und warf scheue Blicke durch die Seitenfenster des Wagens. Das ineinander verschachtelte Gebäude war im maurischem Stil gehalten. Die Läden der kleinen Fenster im Obergeschoß waren alle geschlossen; nur hinter einem brannte Licht. Die Fenster des Erdgeschosses waren dagegen fast alle erhellt. Die Tür zum Hauptgebäude stand offen. Ein verrottetes Schild über der zweiten Tür, von der eine Treppe in ein Kellergewölbe führte, verkündete, daß dies die Bodega war, aber es drangen keine Geräusche an ihr Ohr, die verkündeten, daß sich hier Gäste in weinseliger Laune unterhielten.
In der Tür war ein Mann mit einer schmutzigen Schürze erschienen. Er war korpulent, hatte ein feistes Gesicht, aber seine Haltung verriet andalusischen Stolz. Zweifellos handelte es sich um den Wirt und Besitzer des Gasthofes.
„Hallo, Patron!“ rief Lester vergnügt, während er aus dem Wagen stieg. „Haben Sie in Ihrer Hosteria noch Zimmer frei - Cuarto?“
Der Wirt runzelte zuerst die Stirn, dann schien er zu verstehen. Er kam mit einem breiten, freundlichen Lächeln näher.
„Si, Señor. Cuarto - cama matrimonio.“
„Ausgezeichnet!“ rief Lester überschwenglich. „Ein Zimmer mit Doppelbett wäre richtig. Das brauchen wir, nicht wahr, Tina?“
Tina saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz. Sie wandte kurz den Kopf und sagte trotzig: „Ich steige nicht aus.“
„Willst du im Wagen übernachten?“
Tinas Verkrampfung löste sich etwas. In ihre Augen kam wieder der ängstliche Ausdruck, ihr Ton wurde bittend.
„Lester, laß uns, bitte, weiterfahren!“ sagte sie mit weinerlicher Stimme. „Dieses Haus ist mir unheimlich. Es macht einen so verkommenen Eindruck. Schau nur, wie schmutzig das alles ist! Fahren wir weiter!“
Lester spürte wieder, wie die Wut in ihm hochstieg. Er setzte gerade zu einer heftigen Entgegnung an, doch da schaltete sich der Wirt ein.
„Ah, Sie sind Engländer!“ meinte er in akzentreichem Englisch. „Ich hät-te es am Kennzeichen sehen müssen. Sie haben englischen Wagen. Da schauen!“ Er deutete zum anderen Ende des Parkplatzes. Wegen der Dunkelheit war der Wagen nicht sofort aufgefallen. „Das sein auch Engländer. Er Gast bei mir. Heute nacht hier verbringen.“
„Ein Landsmann von mir? Was für ein Zufall! Tina, hast du das gehört? Der Wagen dort gehört einem Engländer. Jetzt erkenne ich, daß es sich um einer Rover handelt.“
„Lester, ich möchte weiter“, bat Tina wieder. „Ich fürchte mich.“
„Wovor fürchtest du dich denn nicht?“ rief Lester unbeherrscht. „Du hast vorm Autofahren Angst und vor dem Gewitter, willst nicht bei Nacht auf dieser Straße fahren und nun, wo ich eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden habe, weigerst du dich, den Wagen zu verlassen. Jetzt reicht es mir aber!“
Der Wirt war ihrer kurzen Auseinandersetzung aufmerksam gefolgt, schien aber nicht viel verstanden zu haben. Er fragte mit unsicherem Gesicht: „Soll ich Ihr Gepäck tragen?“
„Ja“, antwortete Lester entschlossen. Er sperrte den Kofferraum auf und nahm einen Koffer heraus. „Das genügt. Wir bleiben nur eine Nacht.“
Der Wirt packte den Koffer und ging auf das Haus zu. Tina schluchzte leise.
„Hab dich nicht so!“ herrschte Lester sie ärgerlich an. „Wenn diese Absteige für einen Rover-Fahrer gut genug ist, werden wir uns auch damit zufriedengeben.“
Er öffnete die Beifahrertür, zog Tina am Arm heraus und führte sie zum Eingang des Gasthofes. Ihr Widerstand war gebrochen; sie setzte sich nicht mehr zur Wehr, aber die Tränen rannen ihr nur so übers Gesicht.
Das konnte ja eine heitere Hochzeitsnacht werden! Tina war zudem noch unberührt.
Der Wirt stellte den Koffer an der Rezeption ab und ging hinter das Pult. Im Vorübergehen schlug er mit der Hand auf eine Glocke.
„Rita, meine Frau, wird Ihnen Zimmer zeigen“, erklärte er.
„Ich freue mich aufs Bett“, sagte Lester und zwinkerte Tina zu, die sich aber von ihm abwandte.
„Sie werden sich in meinem Haus sehr wohl fühlen“, versicherte der Wirt. „Ich gebe Ihnen die besten Zimmer. Ja, ja, es ist ein ruhmreiches erwürdiges Haus. Alte Mauern. Uralt, Señor. Si. Ein Haus mit - wie sagt man - mit Tradition.“
Er schnippte mit dem Finger, als er das gesuchte Wort gefunden hatte.
Lester blickte sich ungeduldig um.
„Wo ist Ihr anderer Gast? Der Engländer? Hat er sich auf sein Zimmer zurückgezogen?“
„Si. Aber er versprochen, in Bodega meinen Wein zu kosten. Vorzüglicher Wein, Señor. Der Amontillado südlich von Cordoba.“
Lester nickte. Er wurde ungeduldig. „Wo bleibt denn Ihre Frau?“
Der Wirt zog unwillig die Stirn kraus. Wieder schlug er die Glocke, kräftiger diesmal, dachte jedoch nicht daran, seine Gäste selbst aufs Zimmer zu führen. Stattdessen versuchte er ihnen die Wartezeit kurzweiliger zu gestalten, indem er über die Geschichte seines Hauses plauderte.
„Die meisten Mauern stammen noch aus dem 15. Jahrhundert“, erklärte er. „Damals haben hier Teufelsanbeter ihre Schwarzen Messen -äh - zelebriert. So sagt man doch, Señor - äh...“
„Lester Nelson“, half ihm Lester weiter. „Das ist meine Frau Christina. Wir sind frisch vermählt und befinden uns auf der Reise zu meinen Schwiegereltern, die in Cordoba wohnen.“
Lester hoffte, damit den Wissensdurst des Wirtes gestillt zu haben und fügte noch hinzu: „Die Meldeformulare können wir sicherlich auch morgen vor der Abreise ausfüllen.“
„Aber natürlich, Señor Nelson. Das alles hat Zeit. Man sagt auch, daß früher im Innenhof dieses Anwesens die Angeklagten der Inquisition zu-sammengetrieben wurden. Von hier aus wurden sie nach Cordoba gebracht. Ja, ja. Diese uralten Mauern haben viel Leid gesehen. Kennen Sie die Spanische Inquisition, Señor Nelson? Sie war grausamer als die Inquisition des übrigen Europa. Ich kenne furchtbare Geschichten.“
Lester gab ihm mit einem Seitenblick auf Tina, die sich fröstelnd in eine Wandnische neben der Treppe drückte, ein Zeichen.
„Meine Frau ist überaus ängstlich“, verriet er dem Wirt in vertraulichem Ton.
Der Wirt mißverstand das, zwinkerte und raunte dann anzüglich: „Ich verstehe. Flitterwochen. Habe Verständnis, Señor Nelson. In Ihrem Kopf nur Platz dafür. Aber ein Geheimnis will ich Ihnen noch verraten: Man sagt, daß es in diesem Haus spukt. Es gibt ein Tor, durch das man ins Reich der Finsternis kommt - zu den Opfern der Spanischen Inquisition.“
Tina gab einen seltsamen Laut von sich. Lester, der befürchtete, daß sie die letzten Worte des Wirtes gehört hatte, sagte rasch: „Ja, ja, schon gut. Unterhalten wir uns später darüber. Nun, ich sehe, daß Ihre Frau zu tun hat. Geben Sie mir den Schlüssel! Ich finde unser Zimmer auch allein.“
„Nein, nein, Señor Nelson!“, wehrte der Wirt kategorisch ab. „Ich werde Rita holen.“
Er entfernte sich mit einem Schwall zünftiger Flüche.
„Hast du so etwas schon einmal erlebt?“ fragte Lester seine Frau. „Läßt uns ganz einfach stehen.“
„Nützen wir die Gelegenheit und...“ Tina, die gerade einen letzten Versuch unternehmen wollte, Lester doch noch umzustimmen, verstummte. Ihre Augen weiteten sich, starrten an ihrem Mann vorbei.
Lester drehte sich um. Eine Frau in einem dunklen Umhang und mit einem Schleier vor dem Gesicht war aufgetaucht. Wortlos nahm sie den Zimmerschlüssel und den Koffer an sich und stieg damit die Treppe hinauf. Tina starrte ihr wie einem Gespenst nach. Sie war leichenblaß geworden. Ihre vor der Brust gefalteten Hände zitterten.
„Ah!“, sagte Lester in die entstandene Stille hinein und lachte ge-künstelt. „Sie müssen Rita sein und wollen uns aufs Zimmer bringen. Sehr aufmerksam.“
Die Frau im schwarzen Umhang drehte sich auf der Treppe halb um. Der Schleier verschob sich etwas, und Lester sah darunter ein von unzähligen Narben entstelltes Gesicht.
„Ich bin nicht Rita“, sagte sie mit Grabesstimme. „Mein Name ist Esmeralda.“
Lester schluckte. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals schon ein häßlicheres und abstoßenderes Geschöpf als diese Frau gesehen zu haben.
„Ach so“, krächzte er. Er faßte Tina unter und führte sie die Treppe hinauf. Sie war steif wie eine Schaufensterpuppe. Ein Blick in ihr Gesicht, das sich leicht bläulich verfärbt hatte und in dem nur ein Muskel an der Unterlippe zuckte, verriet ihm, daß Tina am Ende ihrer Kräfte war. Sie konnte jeden Augenblick ohnmächtig werden. Aber das war immerhin noch besser, als wenn sie einen Schreikrampf bekommen würde.
Die häßliche Alte hatte den oberen Treppenabsatz erreicht, schlurfte mit dem Koffer einen gefliesten Korridor entlang und blieb am Ende vor einer Tür stehen. Sie sperrte auf und ließ die Tür aufschwingen.
„Hier ist Ihr Zimmer“, sagte sie mit ihrer hohlen, geisterhaften und Furcht einflößenden Stimme.
Lester zwängte sich mit Tina an ihr vorbei, brachte ein „Danke“ hervor und stieß dann mit dem Fuß die Tür hinter sich zu um den Anblick dieser unheimlichen Frau nicht länger ertragen zu müssen.
Tina fiel auf das Doppelbett und begann haltlos zu schluchzen.
Lester hatte Mitleid mit ihr und zeigte Verständnis, doch sie wollte sich nicht berühren lassen, und langsam verdrängte der aufkeimende Ärger wieder sein Mitleid.
Endlich erschlaffte Tinas bebender Körper. Sie hob den Kopf und blickte ihn aus nassen geröteten Augen an.
„Diese Frau...“, begann sie, wurde aber sofort wieder von einem Weinkrampf überwältigt.
„Schon gut, Tina“, redete Lester ihr zu. „Sie ist kein schöner Anblick, ich weiß, aber ich bin ja bei dir. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich wie meinen kostbarsten Schatz behüten. Denn das bist du ja.“
„Diese Frau - ist mit der Alten identisch, die uns auf der Fahrt hierher verflucht hat. Ich habe siewiedererkannt. Da bin ich ganz sicher. Lester...“
„Blödsinn!“ herrschte Lester sie an. „Alles nur Hysterie. Du hast Angst vor der Hochzeitsnacht, deshalb redest du dir allen möglichen Unsinn ein. Mach dich ein wenig frisch, dann gehen wir in die Bodega hinunter und trinken ein Gläschen Wein. Das wird dich von deinen Ängsten kurieren.“
3.
„Ich bin untröstlich, Señor Nelson“, empfing sie der Wirt, als Lester mit seiner Frau in die Bodega kam. „Warum haben Sie nicht gewartet, bis ich mit Rita zurückkam?“
„War das denn nicht Ihre Frau, die uns aufs Zimmer brachte?“ fragte Lester zurück.
Jetzt war es an dem Wirt, verblüfft zu sein.
„Eine Frau hat Ihnen das Zimmer gezeigt?“ wunderte er sich. „Aber das ist...“
Lester gebot ihm durch einen Wink zu schweigen. Er hatte bemerkt, daß Tinas Gesicht schon wieder wächsern wurde und wechselte sofort das Thema.
„Lassen Sie uns Ihren Amontillado kosten, damit ich herausfinden kann, ob er wirklich so gut ist, wie Sie behauptet haben.“
„Sie, Señor Lester. Sie werden nicht enttäuscht sein.“
Jetzt erst fiel Lester auf, daß außer ihnen noch ein Gast in der Bodega war. Er saß im Hintergrund und mit dem Rücken zu ihnen bei einem Glas Rotwein.
„Ist das der Engländer?“ erkundigte sich Lester überflüssigerweise, denn er hatte am Schnitt des Anzuges sofort erkannt, daß er englischen Ursprungs war.
Das Sakko spannte sich über breite Schultern und warf unter den Achseln Falten. Den besten Schneider hatte der Kerl bestimmt nicht.
Ohne eine Antwort des Wirtes abzuwarten, nahm er Tina an der Hand und strebte auf den Fremden zu.
„Hallo, Landsmann!“ rief er fröhlich. „Was für ein Glück, in dieser Einöde jemanden aus der fernen Heimat zu treffen! Wurden Sie auch vom Hagel überrascht? Oder wie wurden Sie in diese gottverlassene Gegend verschlagen?“
Der Fremde drehte sich langsam um. Lester blickte in ein schmales, markantes Gesicht, das von einem dichten Schnurrbart verunstaltet wurde. Er geriet sofort in den Bann der grünen Augen mit dem unergründlichen, stechenden Blick, der an Lester vorbei glitt und sich an Tina festsog. Die Augen hatten etwas Dämonisches. Der Fremde erhob sich.
„Mein Name ist Lester Nelson. Und das ist meine Frau Tina“, sagte Le-ster schnell, um das Eis zu brechen. „Sie trinken doch ein Glas mit uns? So ein Zufall wie unsere Begegnung muß einfach begossen werden.“
Der Fremde, der noch immer nicht seinen Namen genannt hatte, wandte nur widerwillig den Blick von Tina ab und Lester zu.
„Ich bin nicht zufällig hier“, sagte er, „aber ich nehme Ihre Einladung gerne an. Leider bin ich nicht gerade das, was man einen geselligen Typ nennen könnte.“
„Sind Sie geschäftlich hier?“ Lester lachte, in der Meinung, damit Stimmung zu machen. „Welche Geschäfte könnten einen Untertan Ihrer Majestät der Königin in diese Gegend führen, Mr. - äh, wie war doch Ihr Name?“
„Dorian Hunter.“
Der Wirt brachte eine Flasche und vier der landesüblichen Tulpengläser. Das vierte Glas hatte er offenbar für sich mitgebracht. Doch das paßte Lester nicht. Er stieß es wie unabsichtlich vom Tisch. Danach entschuldigte er sich so über Gebühr, daß der der Wirt ein neues Glas holte. Lester eilte ihm nach, um unter vier Augen mit ihm zu sprechen.
„War die Frau, die uns aufs Zimmer brachte, bestimmt nicht Ihre Rita?“ fragte er den Wirt.
„Welche Frau?“ fragte dieser verdutzt.
Lester beschrieb sie ihm vorsichtig, um den Mann nicht zu kränken falls es sich dabei doch um seine Frau handelte.
„Wollen Sie mich beleidigen, Señor Lester?“ empörte sich der Wirt. „Meine Rita ist eine Schönheit. Sie sollten sie sehen.“
„Gut, gut. Wenn es sich um eine Bedienstete handelt, dann bringen Sie ihr, bitte, schonend bei, daß sie meiner Frau aus dem Weg gehen soll. Tina ist überaus sensibel, müssen Sie wissen. Der Anblick der Alten hat sie furchtbar erschreckt.“
Der Wirt betrachtete ihn mit ausdruckslosem Gesicht, und Lester dachte, er hätte seinen Stolz verletzt, erkannte aber bald, daß der Wirt ihn einfach für verrückt hielt. Er sagte: „In meinem Haus gibt es keine Be-diensteten. Sie müssen sich irren, Señor Nelson.“
In diesem Moment hörte Lester in seinem Rücken Gepolter, als würde eine Bank umkippen, und Glas klirren. Er drehte sich um.
Tina war aufgesprungen. Die Bank hinter ihr war umgestürzt. Sie hielt die Rechte noch hoch, als hielte sie ein Glas darin; doch es war ihren zitternden Fingern entglitten.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken, Mrs. Nelson“, beteuerte der Fremde, der sich Dorian Hunter nannte, gerade und erhob sich ebenfalls. „Es tut mir leid.“
Ohne ein weiteres Wort verließ er die Bodega. Lester lief zu seiner Frau.
„Was war denn los?“ fragte er sie besorgt. „Was hat dieser Rüpel zu dir gesagt? Ich werde ihn...“
Tina klammerte sich an ihn. „Bring mich, bitte, aufs Zimmer, Lester! Und halte mich ganz fest! Ich möchte in deinen Armen all diese Schrecken vergessen.“
Auf dem Zimmer umarmte Lester seine Frau leidenschaftlich, und sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn. Sie kippten aufs Bett.
Er lag über ihr, und sie schlang die Beine um ihn.
„Laß mich nie mehr los, Lester“, kam es wie ein Hauch über ihre bebenden Lippen. „Ich möchte, daß es immer so bleibt.“
„Aber ja, Liebling“, keuchte er. Endlich war es soweit. „Wir müssen uns nur noch von den Klamotten befreien.“
Seine Worte ernüchterten sie sofort. Sie löste sich aus seiner Umarmung und stand auf. Während er sich hastig entkleidete, stand sie unschlüssig da und blickte schamvoll weg.
„Na, was ist?“ fragte er herausfordernd, als er nackt auf dem Bettrand saß.
„Ich - du mußt etwas Geduld mit mir haben, Lester,“ bat sie und wagte es immer noch nicht, ihn anzublicken. „Bitte, mach das Licht aus!“
„Okay.“
Er drückte den Kippschalter nach unten. Es wurde dunkel in dem klei-nen Zimmer, in dem nur ein Doppelbett, zwei Nachtkästchen, ein winziges Tischchen mit zwei Stühlen und ein Kleiderschrank standen. Es gab kein Bad, nicht einmal eine einfache Waschgelegenheit. Die Toilette befand sich zwanzig Meter von ihrem Zimmer entfernt am anderen Ende des Korridors, gleich neben der Treppe. Durch die Holzläden fielen schmale Streifen Mondlicht.
Lester atmete schneller, als er das Rascheln von Stoff hörte. Er zündete sich mit vor Erregung zitternden Händen eine Zigarette an. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, daß sich Tina hinter der offenen Schranktür entkleidete.
Er seufzte. Eine Jungfrau zu heiraten, war ja schön und gut; es erfüllte einen schon mit Stolz, in der heutigen Zeit bei einem Mädchen der erste zu sein, aber es war auch eine anstrengende Sache.
Endlich quietschte die Schranktür. Er sah Tinas Schatten auf sich zukommen. Schnell drückte er die Zigarette im Aschenbecher aus und wollte das Licht anknipsen.
Sie mußte seine Bewegung bemerkt haben, denn sie sagte schnell: „Kein Licht, bitte!“
„Aber du trägst ja ohnehin ein Nachthemd.“
„Trotzdem.“
„Meinetwegen. Aber nun komm schon!“
„Lester?“
„Was ist denn noch?“
„Ich möchte auf die Toilette.“
Er seufzte. „Beeil dich!“
„Aber die Toilette liegt am anderen Ende des Ganges.“
„Na und? Soll ich dich an der Hand hinführen?“
„Ja, bitte. Ich fürchte mich allein.“
„Jetzt habe ich aber bald die Nase voll“, schimpfte er. „Du kannst einem mit deiner Hysterie die schönsten Augenblicke vergällen.“
„Bitte, geh mit!“ flehte sie. „Ich fürchte mich vor diesem Dorian Hunter. Weißt du, was er sagte?“
„Was denn?“ fragte Lester uninteressiert und zündete sich eine neue Zigarette an.
„Er sagte, daß er es aufrichtig bedauern würde, wenn mir etwas zustieße.“
„Ein Sadist“, sagte Lester. „Ich werde ihn mir morgen vorknöpfen. Dieser Bastard verdirbt mir meine ganze Hochzeitsnacht.“
„Ich fürchte mich, Lester. Begreifst du denn nicht, wie mir zumute ist? Und dazu noch diese unheimliche Frau.“
„Nein, nein, nein!“ rief Lester, warf sich im Bett herum und trommelte wie ein kleines Kind mit den Fäusten auf das Kissen. „Ich mache das nicht mit. Entweder du verschwindest sofort auf die Toilette oder ich jage dich hinaus. Ich höre mir dein Gejammer keine Sekunde mehr länger an. Verschwinde endlich auf den Lokus!“
Tina gab keinen Laut von sich. Er war überzeugt, daß sie das Schluch-zen unterdrückte, aber er hatte kein Mitleid mit ihr. Da hatte er sich ja eine schöne Hysterikerin eingehandelt!
Tina wandte sich um und öffnete die Tür. Er sah noch kurz ihre Silhouette im diffusen Licht, dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloß.
Endlich! Jetzt würden sie bald zur Sache kommen können.
Lester legte sich zurück und verschränkte die Arme im Nacken. Er stellte sich Tina nackt vor. Sie war schon ein verdammt gut gebautes Weib.
Es war schwül im Zimmer. Er schwang sich wieder aus dem Bett, ging zum Fenster und öffnete die Läden, die frische Luft in vollen Zügen einatmend. Plötzlich stutzte er. Dort unten bewegte sich etwas. Er erkannte die häßliche Alte in dem schwarzen Umhang. Sie lüftete ihren Schleier und blickte zu ihm hoch. Unwillkürlich prallte er vor dem häßlichen Anblick zurück. Er hörte sie schaurig lachen, genauso wie die Erscheinung, die ihnen auf der Fahrt hierher über den Weg gelaufen war. Als er wieder aus dem Fenster blickte, war die Alte verschwunden.
Wo blieb denn Tina so lange? Wahrscheinlich hatte sie sich in der Toilette eingesperrt, heulte jetzt Rotz und Wasser und wartete, daß er besorgt nach ihr schaute.
Da konnte sie lange warten.
Er zündete sich wieder eine Zigarette an. Unter solchen Umständen konnte man zum Kettenraucher werden. Als er den Zigarettenstummel ausdrückte, stellte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr fest, daß Tina bereits über zehn Minuten fort war. Also, alles was recht war, aber...
Er schlüpfte in den Pyjama und wollte schon nach ihr sehen, überlegte es sich aber anders und zündete sich noch eine Zigarette an. Diese eine Zigarettenlänge wollte er noch warten - dann würde es den ersten handfesten Ehekrach geben.
Er hatte ausgeraucht, und Tina war immer noch nicht zurück. Zwanzig Minuten waren bereits vergangen. Jetzt verlor er endgültig die Geduld.
Er knipste das Licht an und wollte sich auf den Weg machen.
Gerade als er die Hand nach der Klinke ausstreckte, wurde die Tür von außen aufgestoßen, und hereingestürzt kam die häßliche Alte.
Ihr Gesicht war nun nicht mehr von einem Schleier verhüllt. Lester konnte sie in ihrer ganzen Häßlichkeit sehen. Sie hatte überall Narben. Der Mund war schief, die Lippen dünn, blutleer und aufgeplatzt. Darüber saß eine gespaltene Nase. Das eine Auge war weit aufgerissen, das andere saß etwas weiter unten und war halb geschlossen und ein gelbliches Sekret sickerte aus dem einen Augenwinkel.
Lester wich vor Schreck zurück und stieß mit dem Rücken gegen das Bett.
Die häßliche Alte zückte mit einem unartikulierten Schrei einen Dolch und sprang ihn an. Sie fielen beide aufs Bett. Lester war vor Schreck wie gelähmt. Sie lag auf ihm, hielt ihm die rasierklingenscharfe Dolchklinge an die Kehle und öffnete fauchend den Mund, in dem Lester zwei spitze, lange Zähne erblickte.
„Ja, mein Guter“, keuchte sie kehlig, und Geifer tropfte aus ihrem Mund auf seine Brust. „Damit hast du wohl nicht gerechnet. Die Überraschung ist mir also gelungen. Wie willst du nun sterben? Durch den Dolch - oder den Biß meiner Vampirzähne?“
Jetzt wußte auch Lester, was Angst war.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte die Alte heuchlerisch. „Du zitterst ja wie Espenlaub. Hast du Angst? Ja? Sage mir, ob du dich fürchtest? Los, sage es mir!“
Über Lesters Lippen kam ein gurgelnder Laut.
„Was ist? Hast du die Sprache verloren?“ Die Alte sog den Speichel ein. „Sage Esmeralda, wie du dich fühlst!“
Lester brachte kein Wort über die Lippen. Er wollte nur zu gerne sprechen, irgendetwas sagen, um die offensichtlich wahnsinnige Alte hinzuhalten, aber aus seiner Kehle drangen nur unartikulierte Laute.
Esmeralda drückte fester zu und zeigte ihm dann die Klinge. Sie war voll Blut. Es war sein Blut.
Die Alte streckte die unförmige Zunge heraus und leckte das Blut ab. Lester drehte es fast den Magen um.
„Ah, wie das schmeckt!“ schwärmte Esmeralda. Ihre Stimme klang plötzlich schaurig schrill, dann keuchte und stöhnte sie wieder wie ein Tier. „In dir ist noch viel mehr von diesem roten, warmen, süßen Lebenssaft. Soll ich mir dein Blut holen?“
Lester schluckte den Kloß, der in seiner Kehle steckte herunter und brachte mühsam hervor: „Was wollen Sie von mir?“
„Sagte ich es noch nicht?“ Esmeralda kicherte. „Dich leiden und bluten sehen.“
Lester wollte den Kopf zur Seite drehen, um die häßliche Alte mit den beiden gelben langen Zähnen nicht ansehen zu müssen, aber sie griff mit der freien Linken in sein Haar und drehte seinen Kopf brutal herum.
„.Warum wendest du dich von mir ab?“ wollte sie wissen. „Ich habe es gern, wenn mir meine blutenden Liebhaber ins Auge sehen. Dir ekelt wohl vor mir? Du findest mich häßlich, ja?“
Lester wollte mit dem Kopf eine verneinende Bewegung machen und spürte, wie die scharfe, kalte Klinge in seine Haut eindrang. Sofort hielt er still.
Esmeralda kicherte.
„Natürlich graut dir vor mir. Lüg mich nicht an! Ich weiß selbst, wie häßlich ich bin. Aber ich war auch einmal schön. Die spanischen Edelleute lagen mir zu Füßen. Ich hätte eine gute Partie machen können. Juan Garcia de Tabera hätte mich bestimmt zu seiner Frau genommen. Aber dann richteten mich die Folterknechte der Spanischen Inquisition so zu. Damals im Jahre 15o6.“
Jetzt gab es für Lester keinen Zweifel mehr, daß die Alte verrückt war.
„Das tut mir leid für Sie“, krächzte er.
Sofort fauchte sie ihn wieder an, und aus ihrem aufgerissenen Rachen mit den zwei spitzen Eckzähnen troff Speichel.
„Du glaubst mir nicht“, zischte sie. „Du glaubst, ich sei nicht ganz richtig im Kopf. Aber das ist ein Irrtum. Wahnsinn und Vampirismus harmo-nieren nicht miteinander. Ich bin geistig ganz normal. Meine einzige Anomalität ist meine unstillbare Blutgier. Ich brauche ständig Menschenblut, um selbst am Leben zu bleiben.“
O Gott! dachte Lester. Wieso mußte er dieser psychopathischen Alten in die Hände fallen? Warum gerade er? Blitzartig fiel im Tina ein. War die Alte daran schuld, daß sie von der Toilette nicht mehr zurückkam?“
„Was - was haben Sie mit meiner Frau getan?“ stieß er hervor. „Was haben Sie ihr angetan?“
Die Angst um Tina war jetzt größer als die Angst um sein eigenes Le-ben.
Die Alte kicherte wieder. Es war ein durch Mark und Bein gehendes Lachen, das den Ohren weh tat.
„Ich habe deine Tina nicht einmal angefaßt“, behauptete sie schließlich. „Aber es besteht kein Zweifel, daß deine Frau dasselbe Schicksal ereilt hat wie einst mich. Willst du wissen, was mit mir passierte? Wenn du es hören willst, dann erzähle ich es dir. Dadurch erhältst du eine kurze Gnadenfrist.“
„Ja, bitte, ich möchte es hören.“
„Na schön. Aber glaube ja nicht, daß dich das rettet. Dein Blut gehört mir. Ich bin vielleicht ein wenig sentimental. Mein Fehler ist, daß ich mich meinen Opfern mitteilen möchte. Aber eine solche Närrin bin ich nicht, daß ich mir einen Blutspender wie dich durch die Lappen gehen lasse.“
Lester glaubte schon beinahe selbst, daß die Alte meinte, was sie sagte.
„Wie erging es Ihnen?“ fragte er zähneklappernd, um sie auf andere Gedanken zu bringen.
„Hast du schon etwas vom Tor der Dämonen gehört?“ fragte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Es geht die Legende, daß es in diesen Gemäuern ein magisches Tor gibt, das sich zu gewissen Zeiten auftut und eine Verbindung zum Reich der Finsternis herstellt. Ich habe die Schwelle dieses Tores überschritten und wurde von den Kräften der Schwarzen Magie in die Vergangenheit geschleudert. Ich habe Hunderte von Jahren überbrückt - und fand mich im Jahre 1506 wieder. Inmitten der Schrecken der Spanischen Inquisition.“