Das Story-Format: Bewusstseinsstrom des Digitalen Zeitalters
Das Story-Format
Bewusstseinsstrom des Digitalen Zeitalters
Die Anderen nutzen sie mit Begeisterung um jeden kleinen Pubs des Lebens zu dokumentieren. Immerhin: Die Geplagten können sich trösten: Nach einem Tag ist alles vorbei. Wenn da nicht schon wieder neue Stories im Anmarsch wären …
Der Strom des Bewusstseins ist ein künstlerisches Mittel, das wir eher aus den Zeiten von Virginia Woolf, William Faulkner oder James Joyce kennen. Besonderes das letzte Kapitel aus Ulysses ist dafür berühmt, dass es ohne Punkt und Komma - im übertragenen Sinne ebenso wie im Wörtlichen - das aufzeigt, was durch den Kopf von Molly geht. Falls jemand meiner Leser*innen es mal bis dahin geschafft haben sollte: Glückwunsch. Der Strom des Bewusstseins ist der Versuch das abzubilden, was an Gedanken durch den Kopf der Handelnden geht. Damit werden diese für die Leser*innen verständlicher, werden Entscheidungen, die getroffen wurden deutlicher und man bekommt einen abgerundeten Charakter. Allerdings muss man sich auch darauf einstellen, dass diese Erzählperspektive auch einen Nachteil hat: Man wird tatsächlich allen Gedanken und allen Gefühlsfärbungen unterworfen, schaukelt also auf dem Gemüt des Handelnden hin und her, wird im besten Falle aufgeklärt, im nicht besten Falle unnötig verwirrt. Falls die Autoren Meister*innen ihres Faches sind, eröffnet sich aber ein weiterer Raum, ein weiterer Zugang zu den Figuren. Das erste Kapitel in Mrs. Dallowby, dass von Glockenklängen strukturiert ist, zeigt das. Wer einmal das erste Kapitel von Schall und Wahn von Faulkner gelesen hat, wird die Hauptperson Benjy nicht so schnell vergessen.
Ebenso wie für Benjy Personen und Ereignisse plötzlich auftauchen und wieder verschwinden, ebenso ist es bei denen, die sich eine Story in den Sozialen Medien anschauen. Gefrorene Momente in Bildern oder flüssige Momente in Videos laufen an uns vorbei, Orte tauchen aus dem Nichts auf und gehen wieder ins Nichts. Menschen, die wir nicht kennen, tuen Dinge, die wir vielleicht noch nachvollziehen können, aber bevor wir richtig begreifen können, was da passiert ist alles schon wieder fort. Selten halten wir an oder spulen sozusagen zurück, wir sind auf der Suche nach neuen Eindrücken und spulen lieber vor - auch die lästige Werbung natürlich, die sich immer in Dinge einschleicht, die wir eigentlich ohne sie besser genießen könnten. Bild um Bild, Video um Video zieht vorbei wie damals, als die Verwandten die Bilder aus dem Urlaub endlich auf Dias bannten und uns dazu nötigten sie gebührend zu bewundern. Immerhin gab es damals wenigstens einen Kommentar, der gewisse Dinge einordnete. Heute wirkt das Bild, das Video für sich. Es muss nichts erklären. Es ist ein aus der Zeit gefallener Moment, den wir uns beliebig anschauen können, wenn wir wollen.
Stories sind deswegen so populär, weil sie dem Drang des Menschen sich selbst darzustellen entsprechen. Natürlich auch, weil sie perfekt sind für Leute, die Geld verdienen wollen. Die paarsozialen Beziehungen im Netz werden durch Stories noch verstärkt, weil Stories anderes als YouTube-Videos dynamischer sind und uns noch näher an die Person selbst ranlassen. Da räkelt sich der Mensch auf dem Sofa und unterhält sich mit uns darüber, wie man das Innere Kind mit Hilfe seiner Seminare wiederfindet. Wer das für erfunden hält, dem sei versichert: Das kommt vor. Ebenso natürlich auch wie die scheinbar perfekten Inszenierungen eines wunderbaren, einzigartig Lebensstils. Seit Erfindung der Stories müssen sich Paparazzi nicht mehr in Gebüschen verstecken, die wirklich relevanten heißen News liefern die Prominanten dank Stories nach Hause. Als Beispiel müsste man hier die unendliche Wendler-Saga anführen, bei denen Schlagerstar, Frau und Eltern eine durchaus amüsante Soap inszenieren, die Unterhaltungswert verspricht und die dann von den Medien weiter fortgetragen und -gesponnen wird. Mir auch unverständlich: Warum man unbedingt seine sportlichen Aktivitäten in einer Story festhalten muss, außer man möchte unbedingt seine Pülverchen und seine Kochbücher verkaufen.
Die eigentliche Motivation für das Verwenden von Stories liegt wohl in einem wesentlichen Punkt des Menschseins: Nicht nur, dass wir Herdentiere sind und von dem Wohlwollen einzelner Stammesmitglieder in früheren Zeiten abhängig waren - ja, genau, deswegen ist es so schwer nervige Bekannte abzuservieren - sondern wir wollen natürlich für das, was wir tun, das was wir sind bewundert werden. Was Instagram schon vorher ausgenutzt hat, wird nochmal ausgebaut. Es ist ja auch verständlich: Wenn ich für etwas brenne, das kann dann auch die eigene Persönlichkeit sein, möchte ich, dass das die Welt weiß. Im schlimmsten Fall möchte ich die Welt missionieren und mache dann Fitness- und Diätratschläge kombiniert gleich mit dem Link zu meinen Mittelchen im Online-Shop. Im besten Falle möchte ich der Welt einfach nur zeigen, was ich gemacht habe. Manchmal ist man auch nicht unbedingt auf Likes aus, aber natürlich ist es nett, wenn man welche bekommt. Irgendwann wollte Instagram die Likes zwar abschaffen, daraus ist aber bisher nichts geworden. Wie könnte man denn sonst auch sich stolz auf die Brust schlagen und sagen: Herr, ich danke Dir, dass ich eine Million Follower habe und nicht wie dieser Anfänger dort nur eine halbe Million …
Zugegeben: Ein wenig durch das Schlüsselloch gucken möchten wir dann doch auch alle, oder? Mäuschen spielen? Was macht Adele jetzt wieder? Wie sieht das Studio bei Gefragt - Gejagt aus? Eigenen sich nicht Storys auch hervorragend dazu über Andere herzuziehen und zu tratschen? Beim nächsten Smalltalk kurz erwähnen, dass der Wendler mal wieder unmöglich ist, das kann man auf Instagram ja nachlesen und -sehen? Es ist ja nicht so, als ob wir dazu gezwungen werden Storys zu schauen, gar sie aufzunehmen. Sie sind völlig freiwillig. Wenn man sie anschaut, dann in vollem Bewusstsein auch, dass man Dinge sieht und erfährt, die nicht so aufregend sind oder einen nicht interessieren.
Allerdings bleiben Storys immer an der Oberfläche. Während Schriftsteller*innen den Strom des Bewusstseins auf Papier bannen und damit tief in die Gedankenwelt der Protagonisten*innen einführen können, bleibt das, was die Story erfasst an der Oberfläche. Natürlich wird öfters mal gesagt, man fühle sich heute nicht so gut, aber wollte dennoch eine Story aufgenommen haben. Doch wirklich in die Tiefe der Person führt die Story nicht. Selbst, wenn man eine Zeitlang einer Person folgt und allmählich ahnt, was für Vorlieben sie hat oder was für Abneigungen: Den eigentlichen Menschen lerne ich so nicht kennen. Ich lerne die Facette kennen, die der Mensch von sich ins Netz gestellt hat. Wie der Mensch sich gibt. Wie der im normalen Alltag ist - davon habe ich keine Ahnung. Vielleicht deckt sich das, vielleicht auch nicht.
Storys sind so wie das Leben, das man inszeniert: Sie können nervig sein, neue Einblicke verursachen oder einen auch achselzuckend zurücklassen. Andererseits sind sie auch nur ein Mittel. Für manche Mittel zum Zweck. Wie man dieses Mittel verwendet liegt bei jedem Einzelnen.