Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit Roy »Judge« Bean?
Wie war das mit Roy »Judge« Bean?
: Wenn sich in der amerikanischen Pionierzeit an der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation erste Strukturen einer bürgerlichen Gesellschaft bildeten, wurden in der Regel ein County Sheriff gewählt oder ein Town-Marshal ernannt. Aber dann brauchte es ein Gericht, das Straftäter aburteilte.
Die unterste Ebene der Gerichtsbarkeit in den USA war der „Justice of Peace“, der „Friedensrichter“. Es gibt ihn in manchen amerikanischen Bundesstaaten noch heute. Er wurde meistens gewählt, und er mußte keineswegs Jurist sein. In unserem Rechtssystem würden wir ihn als „Schiedsmann“ bezeichnen, einen Menschen, der bei kleinen Rechtsstreitigkeiten oder Ordnungswidrigkeiten vermittelte und urteilte. Meist nahm er auch die Aufgaben eines Standesbeamten wahr.
In der Pionierzeit spielten diese Männer eine wichtige Rolle, da das nächste Bezirks- oder gar Bundesgericht überlicherweise weit weg war. Da diese Männer in der Regel keine juristische Ausbildung hatten, basierten ihre Urteilssprüche eher auf Lebenserfahrung und den Erfordernissen des unmittelbaren Umfelds. (Manchmal hatten sie ihre juristischen Erfahrungen als Angeklagte vor Gericht gesammelt.) In Texas prägte man dafür den bildhaften Begriff „Salbeibuschjustiz“ (Sage Brush Justice).
Das muß man wissen, um zu verstehen, wie ein Mann wie Roy Bean zum Richter werden konnte.
Er ist im März 1903 gestorben und gilt noch heute in Texas als charakteristischer Vertreter dieser Form der Rechtspflege in den wilden Pionierjahren. Filme und Romane haben ihn teilweise zu einem Monster gemacht. Nichts ist falscher.
1825 in Kentucky geboren, schmarotzte Bean sich – anders kann man es nicht sagen – viele Jahre lang auf Kosten seiner älteren Brüder durchs Leben. Zeitweise gehörte er im Amerikanischen Bürgerkrieg der Konföderierten Armee an, meist aber verdiente er seinen Lebensunterhalt durch Schmuggelgeschäfte. Er trieb Handel während der Seeblockade der Südstaatenhäfen und verlegte seine Aktivitäten schließlich an die mexikanische Grenze, wo er Diebesgut von Texas nach Mexiko schaffte und verkaufte. Er panschte Milch und Alkohol, handelte mit gestohlenem Vieh, heiratete eine Mexikanerin, mit der er 4 Kinder zeugte und wurde geschieden nachdem er versucht hatte, seine Frau umzubringen.
Schon seit den 1870er Jahren betrieb er immer wieder kleine Spelunken. Anfang der 1880er Jahre folgte er den Gleisen der „Southern Pacific Eisenbahn“ und versorgte die irischen Streckenarbeiter mit Alkohol und Frauen. 1882 wurde er in der Zeltstadt Eagles Nest erstmals zum Friedensrichter gewählt, weil er sich einen Namen als geschickter Schlichter von Streitigkeiten gemacht hatte. Es gab kein anderes Gericht weit und breit, so lieferten sogar die Texas Rangers Gefangene hier ein, um sie aburteilen zu lassen. Das funktionierte offenbar so gut, daß die Justizbehörden von Texas seine Wahl am 2. August 1882 bestätigten und ihm sogar eine Kompanie Rangers zur Verfügung stellten, um in dem wilden Eisenbahnercamp Vinegaroon Ordnung zu schaffen.
Bean eröffnete auch hier einen Saloon und schuf sich mit Bauernschläue, Schlitzohrigkeit und völlig skrupellos unter den etwa 8.000 rauen Eisenbahnarbeitern eine erstaunliche Reputation.
Immerhin verfügte Bean über ein Gesetzbuch, die „Rechtsstatuten von Texas“ von 1879 – das war mehr, als manch andere „Friedensrichter“ von sich sagen konnten. Die Verhandlungen fanden in seinem Saloon statt. Draußen brachte er ein Schild mit der Aufschrift an: „Das Gesetz westlich des Pecos.“
Als Vinegaroon abstarb, zog er weiter und eröffnete in einem anderen Eisenbahnernest einen neuen Saloon. Er nannte die Siedlung „Langtry“, nach der von ihm verehrten englischen Schauspielerin Lillie Langtry. 1884 wurde er auch hier von den Bewohnern zum Friedensrichter gewählt. Bei gutem Wetter fanden die Verhandlungen auf der Veranda des Saloons statt. Bean erwartete, daß die Besucher der Gerichtstage – die er wie Volksfeste gestaltete – sich in seinem Saloon mit Getränken versorgten. Geschworene ließ er nicht zu, schwere Kriminalfälle verhandelte er nicht. Er verhängte allenfalls Prügelstrafen, meist aber Geldbußen, die sich nach der Höhe des Besitzes der Angeklagten richteten; das Geld steckte er ein.
Als der texanische Justizminister ihn aufforderte, die eingezogenen Summen an den Staat abzuliefern, erwiderte Bean ungerührt, dass er kein Einkommen vom Staat für seine Richtertätigkeit erhalte und die Kosten für das Gericht selbst bestreiten würde.
Die originellen Urteile seines Gerichts sind Legion. 1892 kam ein Streckenarbeiter bei einer Schlägerei ums Leben. Bean amtierte auch als Leichenbeschauer. Als er in der Tasche des Toten einen Revolver und 40 Dollar in bar fand, nahm er das Geld an sich und verurteilte den Toten wegen Tragens einer verborgenen Waffe zu 40 Dollar Strafe.
Dank seiner Popularität, die bald über die Grenzregion von Texas hinausreichte, erschloß Bean sich auch andere Einkommensquellen. Er veranlaßte die Eisenbahn, regelmäßig in Langtry anzuhalten, so daß er den Reisenden Getränke servieren konnte. Und er organisierte am 21. Februar 1896 einen Meisterschaftskampf im Schwergewichtsboxen zwischen Bob Fitzsimmons und Peter Maher auf einer Sandbank des Rio Grande, jenseits der texanischen Grenze – solche Preiskämpfe waren damals in Texas gesetzlich verboten. (Fitzsimmons gewann in der 1. Runde.) Für Hochzeiten berechnete er 5 Dollar Gebühren.
Bis 1902 wurde Bean regelmäßig durch Wahl in seinem Richteramt bestätigt. Als er älter wurde, spendete er Summen, die er in seinem Gericht einnahm, an arme Bewohner der Siedlung und kaufte Feuerholz für die kleine örtliche Schule. Trotz seiner Kautzigkeit war er ein geachteter Mann. Am 16. März 1903 – vor 115 Jahren – starb er nach einem Trinkgelage in San Antonio und wurde unter starker Anteilnahme der Bevölkerung in Del Rio begraben.
Entgegen blutrünstigen Legenden, hat Bean allenfalls zweimal ein Todesurteil gesprochen – und keines davon wurde vollstreckt. Historiker sehen ihn und ähnliche Gestalten heute mit einer gewissen Milde als Pioniere von Gesetz und Ordnung in den einst wilden Siedlungsgebieten.
Sein „Gerichts-Saloon“ in Langtry steht heute unter dem Schutz des Staates Texas.
Als ich vor 25 Jahren dort war, war die Siedlung eine Geisterstadt direkt am Rio Grande.
Meine Fotos zeigen Roy Bean, eine seiner Gerichtssitzungen, seinen „Gerichts-Saloon“ außen und innen, die Gedenktafel und sein Grab in Del Rio.
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de