Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit John Chisum?
: Sein Name ist mit einer der dramatischsten Episoden der amerikanischen Pionierzeit verbunden und daher mit vielen Klischees behaftet. Die Unterhaltungsindustrie – Hollywood-Filme und Romane – haben sich seiner bemächtigt.
Am 22. Dezember 1884 starb JOHN CHISUM, zeitweilig einer der größten Rancher im amerikanischen Westen. Man nannte ihn den „Cattle King of the Pecos“.
Chisum wurde am 16. August 1824 in Tennessee geboren. Seine Eltern zogen 1837 in die junge Republik Texas, wo er zunächst auf der Farm der Familie arbeitete und dann ein kleines Bauunternehmen gründete. Er wurde zeitweise im Lamar County zum „County Clerk“ gewählt, nach damaligen Begriffen eine Art Landrat.
Chisum, dessen Familie schottische, englische und walisische Wurzeln hatte, stieg erstmals 1854 in das Rinderzucht-Geschäft ein und trieb in den Jahren vor dem amerikanischen Bürgerkrieg erste Longhornherden nach New Mexico. Hier besetzte er mit seiner Cowboy-Mannschaft Land am Pecos River. Das Gebiet war noch unvermessen, so dass Chisum – dem Beispiel anderer Kolonisten folgend – das Land einfach in Besitz nahm. Im Bosque Grande-Gebiet, etwa 40 Meilen entfernt von Fort Sumner, baute er eine Ranch auf, auf deren Weiden schließlich um die 100.000 Rinder standen. 1866-67 schloss Chisum einen Vertrag mit dem texanischen Rancher Charles Goodnight. Sie kooperierten beim Verkauf von Schlachtvieh an die US-Armee und an Minengesellschaften in New Mexico und Colorado. Ein gutes und sicheres Geschäft.
Bekannt wurde Chisums Name durch die sogenannte LINCOLN COUNTY FEHDE, die in ganz Amerika Aufsehen erregte und einen jungen Mann zur Western-Legende mutieren ließ: BILLY THE KID.
Chisum arbeitete zeitweise mit dem Rechtsanwalt Alexander McSween zusammen, der sich dem Gebaren einer Gruppe von Geschäftsleuten entgegensetzte, die sich mit Hilfe eines korrupten Netzwerks von Politikern eine beherrschende Stellung in New Mexico verschafft hatten. Diese Männer, die von James Dolan, Lawrence Murphy und James Riley geführt wurden, hatten sich lukrative Liefer- und Versorgungsverträge mit der US-Armee in Fort Stanton gesichert. Sie bildeten den sogenannten „Santa Fe Ring“, der mafiaähnliche Strukturen aufwies. Ihre Beziehungen reichten bis in den Gouverneurspalast; auch der Justizminister von New Mexico gehörte zu ihnen. Sie hatten sich eine Monopolstellung aufgebaut und dominierten das Ranch- und Farmland, vor allem das große Lincoln County, geschäftlich. New Mexico war noch kein vollgültiger US-Bundesstaat, sondern ein „Territorium“, in dem die Bundesbehörden bei allen Entscheidungen das letzte Wort hatten. McSween versuchte, dagegenzuhalten. Er unterstützte den englischen Rancher John Tunstall, der den Einfluss des Santa-Fe-Rings brechen wollte. Chisum hielt sich zwar im Hintergrund, aber er gab Tunstall und McSween finanzielle Unterstützung, als sie in der County-Hauptstadt Lincoln einen Generalstore und eine Bank gründeten – in direkter Konkurrenz zur Dolan-Murphy-Fraktion. Dolan und Murphy hatten bis dahin niemals gezögert, mögliche Rivalen mit brutalen Mitteln auszuschalten. Auch der amtierende County-Sheriff Brady stand auf ihrer Gehaltsliste.
Sie hatten jahrelang verhindert, dass sich andere Geschäfte im Lincoln County etablieren konnten. Daher diktierten sie faktisch die Preise für alle Waren. Als Tunstall und McSween ihnen gefährlich wurden, weil beide die kleinen Farmer des Bezirks hinter sich brachten und sie zu günstigeren Bedingungen mit Saatgut und anderen Waren versorgten, ließ die Dolan-Fraktion beide ermorden. Diese Tat löste letztlich den Lincoln-County-Krieg aus.
William Bonney, der für Tunstall gearbeitet und ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm entwickelt hatte, nahm mit seiner Gruppe, die sich selbst „Regulatoren“ nannte, Rache. Der County-Sheriff William J. Brady wurde auf offener Straße in Lincoln erschossen. Das Eingreifen der Armee, die sich mit den „Regulatoren“ einen Kampf lieferte, der als „Schlacht von Lincoln“ in die Geschichte einging, rief die Bundesbehörden auf den Plan. Der in die Geschäfte des Santa-Fe-Rings verwickelte Gouverneur Axtell wurde seines Amtes enthoben. Der ehemalige Offizier Lew Wallace wurde an seiner Stelle eingesetzt. Er versuchte, die blutige Fehde zu beenden.
John Chisum trauerte zwar um seinen Geschäftspartner McSween, aber er war nicht daran interessiert, sich tiefer in die Fehde im Lincoln County hineinziehen zu lassen. Chisum hatte kein Interesse an politischen Verstrickungen. Er war am Kampf gegen Viehdiebe interessiert, die seine Herden dezimierten. Und er hatte das Monopol der Dolan-Murphy-Fraktion brechen wollen; das war gelungen. Ihm ging es jetzt nur noch darum, dass es Ruhe im Lincoln County gab und er sich auf seine Geschäfte konzentrieren konnte. Persönliche Feindseligkeiten waren Störfaktoren. Hinzu kam, dass es auch in seinem Interesse lag, dass die Hintergründe der Auseinandersetzungen unter den Teppich gekehrt wurden. Es gab in dieser Fehde keine unbefleckten Helden. Faktisch jeder hatte sich die Hände schmutzig gemacht. Für alle Beteiligten war es das Beste, wenn der Mantel des Schweigens über die Ereignisse gedeckt wurde. Die Absicht des neuen Gouverneurs Lew Wallace, die Vorgänge aufzuklären und die Verantwortlichen zu bestrafen lagen weder in Chisums Interesse, und schon gar nicht im Interesse seiner Gegner.
Damit wurden Billy the Kid und seine Regulatoren zum Problem, denn dem jungen Mann waren die ökonomischen und politischen Verstrickungen egal. Er hatte den Mördern von John Tunstall Rache geschworen und dachte nicht daran, sein Wissen für sich zu behalten. Er kannte alle Beteiligten an der Fehde und konnte ein gefährlicher Zeuge werden. Er hatte sich am 15. März 1879 mit Gouverneur Lew Wallace getroffen und sich ihm als Kronzeuge angeboten. Dafür sollte er straffrei ausgehen. Aber das Gericht in Las Cruces hielt sich nicht an diese Vereinbarung und verurteilte Billy zum Tode. Der junge Mann fühlte sich betrogen. Chisum hatte Billy the Kid und seine Männer finanziert. Jetzt zog er sich zurück und wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Stattdessen unterstützte er den Wahlkampf eines gewissen Pat Garrett für das Amt des County-Sheriffs, der Gesetz und Ordnung wiederherstellen sollte.
Billy brach aus dem Gefängnis in Lincoln aus und erschoss dabei zwei Deputies. Damit begann eine gnadenlose Jagd auf ihn, die damit endete, dass Sheriff Garrett ihn am 14. Juli 1881 in Fort Sumner im Haus von Pete Maxwell erschoss, als der junge Mann aus dem Schlafzimmer seiner Geliebten, der Schwester Maxwells, kam.
Billy the Kid war vorher noch einmal auf der Ranch Chisums gewesen und hatte 500 $ verlangte, die Chisum ihm als Lohn schuldete. Der Rancher wollte nichts mehr davon wissen und weigerte sich zu zahlen, war aber bereit, Billy eine kleine Pferdeherde zu überlassen und seine Flucht zu schützen. Bonney war uneinsichtig. Er wollte das Lincoln County nicht verlassen, bevor nicht der letzte Verantwortliche an den Morden an Tunstall und McSween zur Verantwortung gezogen war. Er schwor Chisum, ihm Rinder im Wert von 500 Dollar zu stehlen, wenn er nicht sein Geld erhielt.
Chisum und zwei weitere Rancher beschlossen daraufhin, die Billy-the-Kid-Bande unschädlich machen zu lassen. Damit erhielt Sheriff Garrett faktisch freie Hand, Bonney nicht lebend davonkommen zu lassen. Mit dem Tod Billy the Kids verschwand zudem ein gefährlicher Zeuge. Eine Aufklärung über die Hintergründe der Fehde wurde damit unmöglich. Seither wird auch spekuliert, dass Pat Garrett für sein Schweigen hoch bezahlt wurde. Die Annahme, dass er 1908 aus dem Hinterhalt erschossen wurde, weil er gedroht hatte, sein Wissen über die lange zurückliegende Fehde preiszugeben, ist nicht weit hergeholt.
Chisum musste sich 1884 einer Kiefernoperation unterziehen, nach der es zu Komplikationen kam. Er starb am 23. Dezember 1884 in dem Kurort Eureka Springs in Arkansas. Sein Besitz hatte einen Wert von einer halben Milliion Dollar – das war ein beträchtliches Vermögen in jener Zeit, entsprechend etwa 12-15 Millionen heute. Da er unverheiratet war, erbten seine Brüder und seine Nichte Sallie Lucy. Sally lebte bis 1934 im Lincoln County. Sie hinterließ exakte Beschreibungen einiger Vorgänge um ihren Onkel, Pat Garrett und Billy the Kid.
Chisums Rolle im Lincoln County Krieg wurde nie zur Gänze geklärt. Er wusste zweifellos über alle Vorgänge Bescheid, die zu den gewalttätigen Zusammenstößen führten. Gleichwohl wurde Chisum nie direkt mit illegalen Geschäften in Verbindung gebracht. Er gilt heute als einer der großen „Rinderbarone“ der Pionierzeit und wurde in das „National Cowboy & Western Heritage Museum“ in Oklahoma City aufgenommen
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de