NEO, totgesagt, verschmäht, erfolgreich - Ein Zwischenfazit zum 100.
NEO, totgesagt, verschmäht, erfolgreich
Ein Zwischenfazit zum 100.
100 Folgen NEO, wer hätte damit vor vier Jahren gerechnet?
Ich nicht, um ehrlich zu sein, haben es doch bislang die neueren Neben(lese)produkte zu Perry Rhodan kaum geschafft, zweistellige Folgenzahlen zu erreichen und wenn sie es taten, war trotzdem recht schnell ein Punkt erreicht, ab dem es nicht weitergehen konnte. Thematisch waren gerade die neueren Buchreihen nichts für mich, aber NEO war und ist diesbezüglich anders. NEO hat mir von Anfang an viel Spaß bereitet, durch das Spiel mit "Was wäre gewesen, wenn...?" und "Wenn wir mal annehmen, dass...", bestimmt auch mit „Das machen wir dieses Mal aber ganz anders…“!
Der Einstieg in die Handlung, die scheinbar erste Begegnung der Menschheit mit den Arkoniden (Atlan war und ist ja für den eigentlichen Erstkontakt zuständig) bleibt der zentrale Dreh- und Angelpunkt bei Perry Rhodan. – Was passiert, wenn wir mit einer technisch überlegenen Zivilisation konfrontiert werden, die auf uns nicht gerade wohlwollend herabblickt, aber in gewisser Art und Weise auf uns angewiesen ist?
Allzu groß sind hierbei die Unterschiede zwischen EA und NEO nicht, wie ich finde (hier stecken die Unterschiede vor allem in Details). Da sind einmal die Schlafmützen unter der arkonidischen Besatzung sowie Thora und Crest auf der einen Seite und Perry & Co. auf der anderen Seite mit der doch eher tatendurstigen Menschheit, die es im fiktiven Jahr 2037 doch noch nicht geschafft hat, sich selbst auszulöschen. Nach und nach überwinden Perry & Co. auch hier die Widerstände und es kommt wie es kommen soll…
Neben altbekannten Namen tauchen von Sue Miafiore bis Reekha Chetzkel auch noch einige andere Figuren auf, die doch alles irgendwie etwas anders ablaufen lassen als wir es schon immer bei Perry kannten und kennen, dafür fehlen andere und vor allem lieb gewonnene Charaktere völlig.
Der Overhead erscheint früher als gewohnt und was er tut unterscheidet sich auch auf interessante Art und Weise von dem, was man zum Beispiel aus dem Silberband #4 kennt. Es sind viele Kleinigkeiten, die im NEOversum anders ablaufen als im altbekannten Perryversum und so nicht nur für Abwechslung sorgen, sondern auch ganz neue Aspekte einbringen.
Die Genesis-Krise (seit spätestens Band 100 kennen wir ja auch die näheren Umstände, was warum dazu geführt hat), bei der die Mutantenkräfte tüchtig durcheinander gewürfelt wurden, dürfte der erste Schritt sein, der irgendwann in der Second Genesis-Krise wohl einen zumindest der EA-Version ähnlichen Verlauf nehmen sollte. – Bei einigen Mutanten zurück zu ihren ursprünglichen und eigentlichen Fähigkeiten! Ras Tschubai sollte ein Teleporter sein, John Marshall Telepath! – Hier gehen mir alternative Darstellungen langsam aber sicher zu weit.
Und wozu genau brauchen wir Sid? Um einen heranwachsenden Mutanten dabei zu begleiten, wie er reift? – Das hätten wir zum Beispiel auch durch eine noch stärker veränderte Version von Tako Kakuta erleben können, vor allem hätte er dann nicht vor seiner Zeit gehen müssen. Denn es ist bei NEO so vieles anders als wir es bisher kannten, da hätte es wirklich nicht geschadet, die eine oder andere Figur general zu überholen. Aber das ist persönliches Wunschdenken, mir hätte es nichts ausgemacht, Figuren noch etwas deutlicher zu verändern, auf Sid hätte ich dadurch gerne verzichtet, aber andere mögen das wiederum völlig anders sehen und gut finden!
Sehr gut gefällt mir hingegen ein alter Bekannter: Homer G. Adams! Er ist in der Hauptserie meist eine im Hintergrund agierende Figur, doch bei NEO übernimmt er einen aktiveren Part, was mir sehr gut gefällt. Er kann so eine Lösung für Probleme aus dem Hut zaubern, die ansonsten arg an den Haaren herbeigezogen wirken könnte. - Wie die aufkeimende Erkenntnis, dass die Erde am Ende wohl DER Ursprungsplanet ist und nicht nur eine aufgegebene Kolonie. Man erkennt etwas schon in den 2030ern, das sich in der Erstauflage erst nach 200 Heften und mehr als 400 Jahren Handlungszeit entwickelt hat. Also wieder ein Beispiel jener Dinge, die ich ganz klar als Stärke von NEO gegenüber der Hauptserie empfinde.
Auch der Umstand, dass Atlan nicht für rund 70 weitere Jahre gepennt hat, weil er Angst vor einem Atomkrieg hatte, ist ein Plus. Atlan wurde dieses Mal glücklicherweise recht flott aktiv in die Handlung eingebunden und dann leider auf Arkon entsorgt. Das wirkte auf mich so, als wäre nicht so ganz klar gewesen, wie man ihn hätte einbinden können, sehr schade! Da hätte ich zumindest eine elegantere „Entsorgung“ gut gefunden, nicht ganz so plump. Atlan startete mE sehr gut in die NEO-Handlung hinein, entwickelte sich aber schnell zu einem Rohrkrepierer, was dieser Figur ganz und gar nicht gerecht wird. Hier sollte nach Band 100 schnell nachgebessert werden…
Nun, wir schreiben die Jahre 201x und nicht mehr 196x, manches ist einfach ganz anders anzugehen (rein von der Konzeption her, aber auch die Schreibstile haben sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert) als damals und vor allem hat sich der Erstauflagenkosmos erweitert, so dass ganz andere Probleme direkt thematisiert und kombiniert werden können. Wir Leser und vor allem die Autoren kennen heute Zusammenhänge im Rhodan-Kosmos, die in den 1960ern, `70ern, `80ern und `90ern erst nach und nach ergänzt und hinzugefügt wurden. Was heute Fakt ist, stand in der Frühzeit der Serie längst nicht fest, aber heute kann man darauf zurückgreifen, kann Querverweise und Zusammenhänge ganz anders angehen.
Was den großen handlungstechnischen Überbau, das "Ringen", anbelangt, bin ich eigentlich ganz schnöde vom Konflikt ES/Anti-ES ausgegangen, das hätte mir auch schon gereicht, da erscheint mir der kosmische Überbau direkt zum Einstieg doch arg groß dimensioniert. Zumal Rico auf der einen und Rico auf der anderen Seite ein Element ist, das sich gut für den Konflikt von ES und Anti-ES eignen würde. Aber vielleicht ist auch dieser Konflikt mit einbezogen worden, nur muss er noch beim Namen genannt werden…
Das frühzeitige Einbinden der MdI und der Haluter macht Spaß, ihre jeweiligen Rollen entwickeln sich, sie bieten etwas altbekanntes, das nun ganz anders eingeflochten wird und langsam aber sicher Fahrt aufnimmt. Und vor allem bieten sie den Ansatzpunkt für eine Zeitreise, quasi eine kleine Zeitschleife, die im guten Vorsatz, etwas zu verändern, scheitert und dadurch sich selbst nicht ad absurdum führt. Obendrein ist sie so dimensioniert, dass sie lediglich einen eng begrenzten Raum einnimmt. Der von der Zeitreise, vielmehr den Zeitreisen, berührte Personenkreis ist nicht ausufernd groß, doch ein Detail hinterlässt bei mir einen sehr faden Beigeschmack.
Der Purrer verkommt so zu einem bloßen Vehikel für einen Hinweis. Das Rätsel um seine Herkunft war etwas, wovon ich mir viel versprochen habe, die Auflösung „im Vorbeigehen“ in Band 100 hinterlässt bei mir keinen guten Eindruck. Chabalh wirkt im Nachhinein wie eine gute Idee, die irgendwann in Vergessenheit geraten ist und deren Geschichte nun in Band 100 schnell noch erklärt werden musste. Ich hatte mir diesbezüglich mehr erhofft…
Gravierender finde ich da eher die für mich enttäuschende Umsetzung der "Galaktisches Rätsel"-Thematik. Gerade da wären mehr Rätsel, mehr Mutanteneinsätze sehr viel besser gewesen, finde ich. So wirkte es auf mich wie das Abarbeiten eines nicht ganz so beliebten Themas. Rätsel und Fallen, die durch Mutantenkräfte zu bezwingen sind, Teamarbeit mehrerer Personen, um das nächste Level zu erreichen, das fehlt mir.
Aber auch von Dekadenz und Verfall habe ich bei den Abenteuern auf Arkon nichts bemerkt. Da gibt es doch massig Potenzial, bei beiden Themenkomplexen, das deutlich packender und farbenfroher hätte ausgeschöpft werden dürfen.
Und wo sind die Individualverformer? Ein geradezu heimtückischer Gegner, der schleichend und fast schon lovecraftartig hätte eingeführt werden können, wird einfach völlig ignoriert. Sehr schade, die waren damals meine Lieblingsgegner, gerade in den Hörspielen.
Diese drei Kritikpunkte zerstören meinen positiven Gesamteindruck nicht, aber sie führen zu Abzügen in der B-Note, was die Hauptserie in den vergangenen Jahren immer wieder getan hat, hin und wieder deutlich gravierender und nachhaltiger.
Als dort die Herkunft der Cynos offenbart wurde, hinterließ die Art und Weise, wie das geschah, einen sehr negativen Eindruck bei mir. Ich bin auch heute noch enttäuscht, wie brachial banal dieses faszinierende Volk entzaubert wurde. Aber das ist die Hauptserie…
Wo die IV fehlen, sind aber auch weiterhin die Topsider vorhanden, weit farbenfroher und vielschichtiger als jemals zuvor. Deren Schilderungen haben mir gut gefallen, Eric Manolis Aufenthalt auf Topsid fand ich klasse, wie auch die Tatsache, dass Atlan dort aktiv war. Es sind oft diese alternativen Schilderungen und farbenfrohen Einschübe, die mir bei NEO einfach Spaß machen!
Wie auch die Fantan, die in der Erstauflage im Vorbeigehen entsorgt wurden. Die haben nun ein bizarres Profil, sie wirken wie fremde Wesen, deren Beweggründe wir nur schwer nachvollziehen können und damit liefert mir persönlich NEO etwas, das die Erstauflage schon lange nicht mehr geschafft hat.
Es gäbe noch einige andere für mich positive Aspekte hervorzuheben, wie Ernst Ellert, Gucky, Harno, Julian Tifflor, die Ferronen oder die Naats, aber auch eher negative wie die Darstellung der Goldenen sowie deren Weltensaat, doch irgendwann muss auch mal gut sein und ich möchte den Rahmen nicht sprengen.
Unterm Strich fühle ich mich im NEOversum einfach sehr wohl und bin gespannt, wie die Umweltangepassten dort entstehen, wie manche altbekannten Dinge anders oder doch sehr ähnlich umgesetzt sein werden. Aber auch, wie so manche Kurve nun nach Band 100 doch noch gekriegt wird. Wie lange es mit NEO weitergehen wird, kann niemand vorhersagen, ich hoffe einfach auf so viele Bände wie möglich und weiterhin tolle Geschichten, die mit dem Wissen von heute das Geschehen der damaligen Zukunft neu inszenieren…
In diesem Sinne uns allen viel Spaß im NEOversum!
Kommentare
Echt, liest sich das so? - Hm, ich habe schlicht und ergreifend Dinge aufgeführt, die mir gefallen und eben auch andere Dinge, die mir nicht gefallen, da muss ich nicht krampfhaft nach etwas suchen...
Im Original ging es immer nur um das Unbekannte, die Expedition, tatkräftige Leute tun was. Technik, die begeistert. Tempo. Und von den Begleiterscheinungen, die so etwas bei einem etwas realistischeren Blick mitgebracht hätte, wollte keiner was wissen.
NEO ist dagegen hauptsächlich ein Kammerspiel. Da muss man sich nur mal den alten 100 mit der aktuellen 101 vergleichen. Damals ging es weiter ins Universum mit der nächsten technischen Großtat. Heute schippert man durchs Sonnensystem. Klar ist das realistischer und zeitgemäß, in vielerlei Hinsicht ist Scheers Imperialismus heute ungenießbar. Aber es ist auch potenziell dröge, und der erweitere Umfang kann da sowohl Chance wie auch Falle sein. Und oft war es leider eine Falle.
Vieles an der Konzeption konnte mich nicht überzeugen. Schon im Original halte ich - nur um ein Beispiel zu nennen - die regelmäßige Erdinvasion mittlerweile für das Einfallsloseste überhaupt, da interessiert es mich in der NEO-Variante erst recht nicht.
Zitat:
Die alte Nr. 100 zählt nun nicht gerade zu den besten Romanen der Serie.
NEO ist bisher viel geschlossener als das Original. Die Protagonisten sind viel differenzierter gezeichnet. Früher war das doch eher unpersönlich, die Mutanten z.B. blieben sehr blaß.
Zitat: Das stimmt für die Originalserie, für NEO ist die Besetzung des Sonnensystems durch die Arkoniden dagegen folgerichtig. Scheers Märchen von den kleinen, unbedeutenden Terranern, die dem größten Imperium der Milchstraße erfolgreich Paroli bieten, ist da doch viel mehr an den Haaren herbeigezogen.