Halbwertszeittheorem und Ramschtisch - Lesen im "Fast-Food-Buch-Zeitalter"
Andere Zeit, anderer Ort, ähnliche Szene: Auf der Heimfahrt nach der Arbeit führt mich der Weg zu einem Gartenfachmarkt an der Ausfallstraße. Da gibt es die Stiefmütterchen, die ich für den Blumenkasten im Fenster benötige, die Ranunkeln, und ich nutze die Gelegenheit, um noch ein paar Schälchen mit Katzenfutter - halt ... da bremst mich eine große Kiste aus.
Bücher? Ahh ... ein Buch über Pflanzenpflege, da ist eins über das Dörren von Obst und Gemüse ... jo, das sind die Bücher, die man da so erwartet. Aber halt - nein - das ist - oha - wow - Hakan Nesser ... was kostet der? 2,99 Euro ... gekauft, ab in den Wagen. Ein Hohlbein ... auch 2,99 Euro, super. Ein historischer Krimi, eine Satire auf die englische Upperclass, ein George, ein Wallace, am liebsten würde ich die alle einpacken. Schnäppchen, echte ... *urgs* Bohlen ... der muss nun wirklich nicht sein. David Gemmel, schon besser. Wie ... zwei Romane in einem Band? Auch nur 2,99? Genial.
Abends am Rechner, ich krieg grad gar nichts hin. Ich "zappe" mich durch die virtuelle Welt und lande bei meinem elektronischen Buchdealer, der mit größerer Akribie als jeder andere Buchhändler (und besser scheinbar als ich) Informationen über meine Lesegewohnheiten sammelt, und ich bin erstaunt darüber, wie er immer wieder genau weiß, womit er mich dazu bringt, hektisch durch die Stöberecke mit radikal reduzierten Büchern zu kramen.
Und ich werde immer wieder schwach, wenn ich beim Einkaufen (im Supermarkt an der Ecke, im Gartencenter - was beim Federkiel des ersten Schriftstellers sucht eine Kiste Buchremittende mit Fantasy-Büchern in einem Gartencenter? Zahnarzt oder dem Fischhändler) vom Ramschtisch der Buchdruckergilde gestoppt werde.
Es hat etwas von Fastfood, und ich nenne einen Teil der Bücher, die ich hin und wieder in mich hineinstopfe, inzwischen auch ganz bewusst meine Fastfood-Literatur. Man konsumiert gewisse Bücher, legt sie dann wieder beiseite und weiß ein paar Wochen später nicht einmal mehr genau, dass man sie überhaupt gelesen hat, geschweige denn was in ihnen passierte. Sie haben keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, inhaltlich oder hinsichtlich der Autorenleistung. Dies sind jene Bücher, die man dann in eine Ecke stellt und vergisst.
Eine wahre Flut an Büchern stürzt auf den Leser herein. Im Jahr 2006 wurden im deutschen Buchmarkt ca. 9,3 Milliarden Euro Umsatz gemacht, darunter durch etwa 100.000 Bücher, die in dieser Zeit in Deutschland neu erschienen sind.
Die Zahl der Neuerscheinungen muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. . Ein bisschen Mathe: 100.000 Bücher, das sind statistisch gesehen über 270 neue Bücher jeden einzelnen Tag des Jahres, jede Stunde erscheinen damit statistisch gesehen knapp 11 neue Bücher. Wenn ich davon ausgehe, dass ein Buch 100 Seiten haben könnte (nur zwecks der einfacheren Rechnerei einmal angenommen), dann wären das .... mir wird gerade schwindelig.
Aber halt. Von diesen ganzen Seiten ist nur ein relativ kleiner Teil für mich bestimmt. Neben Fachbüchern und EDV-Büchern, die ich eher beruflich lese, lese ich zur Entspannung Romane und Krimis. Das schränkt ja dankenswerterweise meine Literaturwelt doch ein wenig ein.
2006 war ein erfolgreiches Jahr für die Belletristik. Der Anteil der Warengruppe am Umsatz erhöhte sich in den Vertriebswegen Sortimentsbuchhandel, Warenhäuser und E-Commerce von 30,7 auf 32,3 Prozent. Maßgeblich verantwortlich dafür waren die Romane, die mittlerweile über die Hälfte des Umsatzes der Belletristik ausmachen (51,5 Prozent, Vorjahr 48,6 Prozent).1
Bleibt ja doch noch allerhand zu lesen - so viel kann man eigentlich gar nicht lesen. So ist der Markt riesig und uneinschätzbar geworden. Betritt man eine Buchhandlung und spaziert durch die einzelnen Abteilungen, findet man zu jedem Genre, jedem Grobthema und jedem Geschmack mindestens zwei, wahrscheinlicher aber vier bis fünf gegen- bzw. gleichläufige Bücher(reihen). Besonders augenfällig war und ist mir das immer wieder im Bereich der Fantasy. Die "Potterklone" sind Legion. Das heißt nicht in Konsequenz, dass es nur eines jeweils geben darf, das wäre a) bescheuert, b) dumm, c) langweilig und d) sowie unrealistisch, zumal ein Klon nicht unbedingt schlecht sein muss und sich ohnehin die Frage stellt, ob es überhaupt noch die Möglichkeit gibt, wirklich neue Literatur zu schaffen.
Es macht nur deutlich, warum die durchschnittliche Halbwertszeit eines neu erschienen Buches rapide kurz geworden ist. Klar, es gibt ja genug Nachschub, und um Kunden zum Kauf zu verleiten, muss ständig etwas Neues gebracht werden.
Verkaufszahlen x Medienaufmerksamkeit2 + Exotikfaktor (wahlweise Skandalfaktor), unter Umständen potenziert durch mögliche Fan-Produkte, Merchandising und Cross-Selling (Serie, Kinofilm, Comic etc)3 + Covergestaltung und Kundenstoppelement am Verkaufstisch - schlecht gewählter Erscheinungstermin / Anzahl der gleichzeitig in diesem Genre erscheinenden Konkurrenzprodukten.
Letzten Endes ist es egal ob diese Theorie in ihrer Polemik stimmt oder nicht. Bücher wandern immer schneller nach vorne auf den Ramschtisch. Klar, man muss Platz schaffen für die nächste Garde, die schon in den Kartons im Lager wartet. Nach einem knappen halben Jahr wird ein Buch zum "Preisreduzierten Mängelexemplar", und *schwupps* ist das Buch auf dem Ramschtisch gelandet. Manche zu Recht, manche einfach nur weil es von hinten nachdrängt.
Unmöglich alles zu lesen, alles wahrzunehmen. Wenn, wie jedes Jahr um die beginnende Zeit des Blätterfallens, die Kataloge der verschiedenen Verlage ankommen, sitze ich vollkommen begeistert vor den Blättern, bewaffnet mit einem dicken Stift, und markiere mir die Bücher, die ich "unbedingt" haben muss. Nach der Hälfte stelle ich mit Schrecken fest, dass ich diese ganzen Bücher nie alle werde lesen können, dabei habe ich noch gar nicht einmal über das Geld nachgedacht. Und so wie die Filmfreaks sagen "Warte mal ein halbes Jahr, dann kostet die komplette erste Staffel von Boston Legal nur noch die Hälfte", sage ich mir dann "Warte mal ein halbes Jahr, dann findest du sie auf dem Wühltisch". Und tatsächlich wird dem so sein, und tatsächlich wird ein ganzer Teil davon leider nicht mehr sein als Fast-food.
Und ich merke, je mehr Fast-food es gibt, je mehr Stöberecken und Ramschtische, je häufiger ich als Kundin durch meine Klickgewohnheiten entlarvt werde und je mehr man mich verlockt, desto mehr genieße ich sie, die kleinen Buchhandlungen mit ihrem besonderen Sortiment, dem bekannten Gesicht des Buchhändlers (wahlweise der Buchhändlerin) meines Vertrauens, die mich kennt, weiß was ich gerne lese und mich hin und wieder auch auf Bücher hinweist, die ich normalerweise nicht näher betrachten würde, die sich aber als kleine Schätze erweisen. Desto mehr liebe ich Slow-shopping, das dem Slow-food vorausgeht,´das neben der kleinen Buchhandlung auch bedeutet, in einer der Ketten, die wie Lesetempel in den Einkaufsmeilen stehen, in einem der stylishen knallroten Sofas zu sitzen, vielleicht sogar einen Cappuccino oder Café Latte-Caramel-Shot-Cream-Topping-Double auf dem Tischchen neben mir. In der Hand ein gutes Buch, das ich mir dann doch nicht kaufen werde ... oder vielleicht doch? Netterweise haben die cleveren Shoppingpsychologen da schon im Vorfeld an mich gedacht und überall diese wunderschönen großen Einkaufstaschen platziert, in denen man die Bücher, die man sich ja vorgeblich "nur mal anschauen" will, nach dem Probeschmökern gleich mal probetragen kann.
Ich bin damit immer noch in hohem Maß durch einen bekannten Namen oder ein toll gestaltetes Cover zu fangen und zu verführen und werde mich wohl auch wieder über die Kiste mit den Ramschbüchern im Supermarkt oder im Gartencenter werfen. Und ich gebe es zu - ungern aber ich tu es - ich esse Fastfood, und ich kaufe am Ramschtisch ein, aber ich merke auch immer mehr, dass Geiz so gar nicht geil ist, Fast-food(bücher) immer nur zeitlich begrenzt meinen (Lese)Hunger stillen und das Halbwertszeittheorem mich glücklicherweise nur eingeschränkt im Griff hat.
Nennt man das nun Überfütterung?
Börsenverein des Dt. Buchhandels, Buchmarkt.de
1 Börsenverein des Dt. Buchhandels, Pressemitteilung 12.7.2007