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Darf’s ein bisschen negativer sein? - Dystopie (März 2015)

Auf eine Mail mit Uschi ZietschDarf’s ein bisschen negativer sein?
Dystopie

Große Fragen, die die Welt bedeuten: Warum sind Dystopien beliebt? Ist es unser Hang zum Pessimismus, ist es eine Frage der Dramatik? Hat der Autor überhaupt eine Wahl? Und wie stehen Utopie und Diktatur zueinander? Ich rede mit Uschi Zietsch über perfekte Welten und nicht ganz so perfekte Fragen. Wenn ich dieses Mal Uschi ein wenig verwirre, dann geschieht das ohne Absicht. Ganz ehrlich! Auch, dass ich ihr ein bisschen unheimlich bin.


Andreas: Das Sub-Genre der Dystopie ist ein allzeit beliebtes Genre, das gerade zur Zeit in Buch- und Filmreihen immer wieder auftaucht. Die Dystopie wirkt wie die Wahnvorstellung eines Pessimisten, der sich überlegt, was alles schiefgehen könnte. Ist aber die Dystopie nicht vielmehr die einzige verwendbare Form der Zukunft in einem Roman, da ein Roman Konflikte und Spannungen braucht? Selbst eine so glückliche Gesellschaft wie die der Föderation in Star Trek braucht Konflikte, um erzählbar zu sein.
Uschi:
Ja, natürlich. Es wäre ein ziemlich kurzer Roman: „Sie lebten glücklich in einer schönen Welt.“ Ende.
Wahnsinnig spannend. Was will man da für eine Geschichte erzählen? Ich erinnere mich dabei an ein Schreibseminar vor Jahren, an eine Kurzgeschichte einer Seminarteilnehmerin, die es tatsächlich geschafft hat, eine Geschichte zu erzählen, die Potential für jede Menge Konflikte geboten hätte ... aber sie hat sie tatsächlich alle umschifft! Dazu haben wir alle ihr gratuliert. Das muss man erst mal hinkriegen. Aber natürlich war es keine Geschichte, die man zweimal lesen will; vor allem, selbst in unserem langweiligen Alltag passieren doch permanent die skurrilsten Dinge. Und sei es nur, dass man das Käsebrot in die Spülmaschine und den benutzten Teller in den Kühlschrank stellt.
Gut, es ist selbstverständlich möglich, Konflikte in einer modernen, angenehmen Zukunftswelt darzustellen, wobei das bedeutet, dass diese Welt eben auch nicht perfekt ist, und dass irgendwas am System nicht stimmt. Selbst ein einfacher Krimifall gefährdet da schon das gesamte System, denn die Aufklärung kann nicht so verlaufen wie bei uns (dann wären wir bei uns) und eigentlich sollten die Präventionen auch anders sein. Das zeigt uns: Der Schein ist trügerisch! Woran denke ich dabei? Richtig. „Brazil“. Der großartigste dieser Schöne-Welt-Filmen, der mit einer winzigen Verwechslung beginnt ...
Wenn dem aber nicht so ist und wir keine Dystopie wollen, weil das System echt toll funktioniert (hurra!), dann erfolgt der Angriff eben von außen – also wirklich von ganz da draußen im finstren All –, durch Aliens oder machtgierige Nachfahren, die alles zerbomben wollen. Ob man das unbedingt in die Zukunft transferieren muss, sei laut Roland Emmerich dahingestellt, aber das wäre dann wenigstens ein Konflikt, der das System an sich als positiv dargestellt belässt, aber das genau deswegen vernichtet werden kann oder sogar soll.

Andreas: Ist eine Dystopie am Ende nicht einfach nur eine realistische Utopie, die per se eine nicht realisierbare, romantische Wunschvorstellung ist?  Würde man eine Utopie realistisch bis zum Ende „durcherzählen“, müsste dort nicht immer die Dystopie mehr oder weniger stark durchschimmern, weil die Utopie mit ihrer Wunschvorstellung auf das einzelne Individuum diktatorisch wirken muss??
Uschi: Äh, das musste ich mir jetzt dreimal durchlesen, es hat mich überrascht, es ist schon spät am Abend und ich habe, glaube es oder nicht, gerade eine Menge solcher Themen hinter mir, weil ich aktuell Ernst Vlceks „Gib mir Menschen“, eine Story-Anthologie, bearbeite. In vielen dieser Storys glauben die Menschen (bis auf einen) ganz fest an eine wunderbare Zukunft, und keiner (außer dem einen) merkt, dass das nur durch Diktatur funktionieren kann. Wie reagiert er darauf? Genau wie in deiner Überlegung auch spielt er im Verlauf der Geschichten die Utopie bis zum besagten bitteren Ende durch; ob er die Dystopie verhindern kann, tja, das ist dann jedes Mal die spannende Frage.
Eine Geschichte mag das beste Beispiel dafür sein, sie ist nur eine halbe Seite lang, trägt den Titel „Ein Motor wie Monika“ und zeigt auf, wie zerbrechlich das Gefüge der Utopie ist.
Ein bisschen ist mir jetzt aber unheimlich, weil du gar nichts von meiner Bearbeitung gewusst hast und ausgerechnet bei dieser Kolumne dermaßen zeitnah auf ausgerechnet dieses Thema kommst. Für Ernst wäre das schon wieder der Initialfunke für eine weitere dieser Storys gewesen, mit einem schönen Horror-Aspekt.
Aber noch mal ein Wort von mir dazu. Ich weiß nicht, ob eine Utopie wirklich unmöglich sein kann. Ich nehme an, mit unserem derzeitigen Entwicklungsstand ist sie nicht möglich, weil wir zu viel Aggressionspotential in uns haben, von dem wir uns aus den einen oder anderen Motiven beherrschen lassen.
Durch die Historie hindurch hat es immer wieder Friedensperioden in Hochkulturen gegeben, vielleicht sogar über Jahrzehnte. Aber dann hat es doch wieder gekracht – sei es von außen, weil andere den Reichtum und den Frieden geneidet haben, oder sei es von innen heraus durch Dekadenz und Langeweile. Oder durch Pappnasen, die es halt lieber krachen lassen wollen. Filz und Korruption sind, glaube ich, die unausrottbarsten Grundzüge der menschlichen Gesellschaft, die jede Utopie auf Dauer unmöglich machen.

Kommentare  

#1 RoM 2015-03-15 12:15
Hoi, Andreas.
Der von Uschi erwähnten Teilnehmerin ist in der Tat der Hut zu ziehen, wenn sie für Ihre Story nicht den direkten Weg bekannter Konfliktsituationen gegangen ist.

Die Dystopie per se charakterisiert sich ja durch eine (scheinbar) allgegenwärtige wie totale Unterdrückung menschlicher Bedürfnisse & Willensbekundungen. Gleichschaltung, Verfolgung - das klassische Repertoire des Totalitarismus, nicht zu vergessen.
Aber ich denke, daß es darunter (unterhalb der Dystopie) nicht minder viele, dramatische Stories zu erzählen gibt.
Konflikt ist ja nicht gleichbedeutend mit Dystopie.

Stimmt, Uschi - ein Utopia ist nur verklärende Projektion eigener Machtträume (s. all die Sektierer der Historie/Gegenwart). Ein perfektes Utopia ist nur die Variante eines Dystopia.

Jung hätte wohl Euren gedanklichen Gleichklang auch als Synchronizität bezeichnen konnen. :-)

bonté
#2 RoM 2015-03-15 12:20
...einen Gruß noch an den, Voriges lesenden, Admin! ;-)
Merci pour votre travail.

bonté

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