Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Brauchts das? - E. T. - Der Außerirdische und sein perfektes Drehbuch

Brauchts das?E. T. - Der Außerirdische
und sein perfektes Drehbuch

Ein Drehbuch zu lesen, ist einfach. Daraus einen funktionierenden Film herauszulesen, ist  schon schwieriger. Die Szenenüberschriften sind dabei die erste Hürde, die man sich verinnerlichen muss, um ein Drehbuch flüssig lesen zu können. Da steht dann INT – ELLIOTTS ZIMMER – TAG. Der Leser erfährt, dass es einen Innenaufnahme ist, die am Tag in Elliotts Zimmer spielt. Oder es heißt EXT – GARTENLAUBE –NACHT. Dann wird die Szene wohl draußen bei Nacht an der Gartenlaube spielen. Das liest sich im ersten Augenblick verwirrend, man gewöhnt sich aber dran.

Schwieriger haben es da schon die Leute, die ein solches Werk verfassen müssen. Melissa Mathison hat in ihrer Vita gerade mal sieben Drehbücher stehen, aber sie hat den Dreh raus. Wie beispielsweise ihr Drehbuch zu E.T. zeigt, ein Paradigma des Hollywoods-Standards. Zu den schönen Worten später noch mehr.

Wie sieht so eine Drehbuchseite aus? Eine Seite entspricht einer Filmminute, zumindest bei routinierten Autoren. Die GILMORE GIRLS bilden da zum Beispiel eine Ausnahme, weil die enorm viel quasseln und deren Text deshalb nicht auf eine Seite passt. Der Amerikaner schreibt einzeilig mit Courier 12 auf Papier, dessen Größe dem deutschen DIN A4 sehr nahe kommt. Da der Deutsche sich als Individualist versteht, legt er sich im Gegensatz zum Amerikaner nicht auf einen Schrifttyp fest, hält aber die Regel ein, dass eine Drehbuchseite einer Filmminute entspricht. Das sind allerdings alles Füllinformationen, um mit Wissen zu prahlen.


Wenden wir uns lieber dem herausstechenden Wort PARADIGMA zu. Das ist kein geistiger Erguss von hiesiger Seite, sondern das Lieblingswort von Syd Field. Wer ist nun Syd Field? Jemand, der auf Melissa Mathison besonders stolz sein muss.

Am Anfang war nicht unbedingt alles besser, aber bestimmt anders. Da kurbelte einer wild an der Kamera herum und warf den Darstellern lustige Regieanweisungen zu. Ein Film entstand nicht am Schreibtisch, sondern wenn die Sonne schien und die Szenerie ausreichend beleuchtete. Später kamen die ganzen Oberen, von denen Griffith und der alte Eisenstein zu den bekanntesten gehörten. Montage, Kameraführung, mit all dem konnte der Zuschauer manipuliert werden. Und auch mit dem Aufbau der Geschichte.

Eine Entwicklung in der Geschichte des Drehbuchs ist eigentlich kaum vorhanden. Manche sind gut, viele sind schlecht. Mit einigen wird experimentiert, andere werden ständig umgeschrieben. Struktur? Ja, die ist vorhanden. Anfang, Geschichte, Auflösung. Ansonsten ist alles möglich. Und Syd Field hat sich damit beschäftigt. Syd Field hat analysiert, gelesen, geschrieben und weiter analysiert. Jetzt verdient er sehr viel Geld mit Büchern über Drehbücher. Und alles läuft auf eines hinaus: sein Paradigma.

Man könnte es natürlich auch Grundmuster nennen, oder System, oder Leitbild, oder Kingalalabo. Aber in all seinen Schriften benutzt Field exzessiv das Wort Paradigma. Und es ist ein zu schönes Wort, als dass man es ungenutzt lassen könnte.

Bevor wir zum Kern dieser Ausführungen kommen, der vielleicht wesentlich kürzer ausfällt als die Einleitung, ein wichtiges Wort zum Verständnis. Syd Field hat nicht das Drehbuchschreiben erfunden. Er hat auch nicht das Verfassen von Drehbüchern revolutioniert oder etwas Neues dazu erfunden. Und dennoch ist er zum Guru ernannt worden, wie das halt so ist mit den Gurus. Syd Field hat beobachtet, analysiert und niedergeschrieben. Warum funktionieren manche Filme, warum andere nicht? Wie sind Filme aufgebaut und warum sind sie so konstruiert? Syd Field hat das zusammengefasst und damit sein Paradigma geschaffen.

Als Grundlage für unsere Betrachtungen nehmen wir einen Film mit 120 Minuten Laufzeit. Wiederholung: Das entspricht 120 Drehbuchseiten. Und was für ein Zufall, der oben erwähnte Film E.T. – THE EXTRA-TERRESTRIAL hat in der Jubiläumsausgabe exakt 120 Minuten. Die originale Kinofassung übrigens nur 115 Minuten, aber wir werden jetzt nicht kleinlich.

Die erste Schicht teilt den Film in DREI AKTE. Mit 120 Seiten lässt es sich leichter rechnen, und so haben wir den ersten und dritten Akt mit 30 Seiten und den mittleren, zweiten Akt mit 60 Seiten. Der erste Akt ist die Exposition. Wir wissen um ein Raumschiff, das einen seiner Mitreisenden zurücklässt. Wir lernen Elliott, seine Familie und die Familienverhältnisse kennen. Das Ende von Akt eins und zwei wird mit jeweils einem sogenannten PLOT POINT eingeleitet. Ein Plot Point beschreibt ein Ereignis, das die Handlung voran- oder in eine andere Richtung treibt.

Der ideale Plot Point im ersten Akt käme bei einer Akt-Länge von dreißig Minuten also bei … richtig, bei zirka 25 Minuten. Der Außerirdische und Elliott begegnen sich und fassen Vertrauen zueinander. Das ist der Knackpunkt, nein, Plot Point. Natürlich ist das Ziel der Geschichte, den Weltenbummler zurück ins Weltall zu befördern. Das wissen wir aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht, denn Elliott will den kauzigen Blumensammler aus der fernen Galaxie behalten. Also ist der Plot Point für den weiteren Verlauf der Geschichte, dass die beiden sich annähern.

Bei Minute dreißig sind wir im zweiten Akt. Die zwei sehr unterschiedlichen werden so was wie Freunde. Der zweite Akt ist die eigentliche Handlung. Familienleben, das Geheimnis um den Außerirdischen im Wandschrank, voneinander lernen. Bei Minute dreißig wird zum ersten Mal gezeigt, dass Elliott und E.T. empathisch verbunden sind. Ein genialer Grundstein, an dem sich die Handlung zu einem Spannungsbogen hin orientiert. Denn, wir erinnern uns, auch der zweite Akt hat einen Plot Point. Der zweite Akt dauert 60 Minuten, dazu kommen die 30 Minuten des ersten Akts, macht also 90 minus zirka 10 Minuten. Jetzt kommt … na, wer meldet sich?

Verräterwarnung! Die Regierung dringt in das Haus der Familie ein und stellt es unter Quarantäne. Das ist der Plot Point von Akt zwei. Man könnte meinen, dass bei Minute neunzig der Plot Point E.T.s Tod sei. Mist… jetzt hab ich es verraten. Ja, das Alien stirbt. Egal, der Tod von E.T. ist nicht der Plot Point, der alles hin zur Auflösung führt. Elliotts Mutter sieht das erste Mal E.T. in ihrem Haus. Elliot ist schwer krank. Der Außerirdische verwelkt. Und die G-Men übernehmen das Kommando. Das ist der Plot Point. Bis hierher war es ein Film mit und um Kinder. Und mit einem putzigen Alien. Jetzt brechen Erwachsene in diese Welt ein. Sie zerstören die vorangegangene Ordnung. Wenn E.T. stirbt, ist das nur die Überleitung zum dritten Akt, der eine Länge von . . . (wer aufgepasst hat, kann hier eben mal selbst die Seitenzahl eintragen).

Verweilen wir noch ein wenig bei Akt zwei. In Akt zwei befindet sich noch ein ganz wichtiger Punkt für ein perfektes Drehbuch. Er nennt sich KONFRONTATION. Idealerweise ist die Konfrontation die Mitte des Films. Die Konfrontation unterbricht die Handlung nicht, entschlüsselt aber das Ziel des dritten Akts. E.T. – THE EXTRA-TERRESTRIAL hat die wohl bekannteste Konfrontation in der Filmgeschichte des Hollywood-Kinos. Und sie befindet sich auch bei Minute 60.

„E.T. home phone!“
E.T. ist ein fester Bestandteil des Lebens der Kinder in jenem Haus in diesem Vorort von Los Angeles geworden. Er bringt sich selber das Sprechen bei, versteht Fernsehen, liest Comics und lernt, dass er seinen Kumpels im Raumschiff mal Bescheid stoßen muss. Er muss telefonieren nach Haus’, bei Minute 60. Elliott hätte das schrumpelige Ding von auswärts gerne behalten, aber er respektiert natürlich den Wunsch, dass der kleine Braune die Schnauze voll davon hat, immer nach oben schauen zu müssen, und dass er wieder mit Wesen um die Häuser ziehen möchte, die auf seiner Augenhöhe sind.

Dritter Akt: Noch Fragen? E.T. ist tot, die Leitung ins All steht aber noch. Minute 95. Die Blumenkinder aus dem All melden sich, ihr Kumpel erwacht aus seiner Leichenstarre, und Elliott muss was machen. Die Kinder reißen den Erwachsenen wieder die Verantwortung aus den Händen und bringen Bruder E.T. in den Wald zum zurückgekehrten Raumschiff. Die ehrlichsten Tränen in der modernen Kinogeschichte fließen beim Publikum. Eine Studie der UCLA hat ergeben, dass weit mehr Erwachsene als Kinder E.T. gesehen haben. Aber das nur nebenbei.

Wiederholen wir das PARADIGMA, weil es ein schönes Wort für ein ideales Drehbuch nach Hollywood-Standard ist:
Erster Akt, Exposition und/oder Einführung, 30 Minuten mit Plot Point bei zirka 25 Minuten. Wir lernen Akteure und ihre Handlungsweisen kennen sowie ihr notwendiges Umfeld. Die Handlung kann schon längst begonnen haben, aber der Plot Point lenkt den Zuschauer in oder informiert ihn über eine für die Auflösung relevante Richtung.
Zweiter Akt, Handlung, 60 Minuten mit Konfrontation bei der Hälfte und dem zweiten Plot Point bei zirka Filmminute 85. Die Handlung wird vorangetrieben und vertieft. Bei der Konfrontation wird ein Element hinzugefügt, das die Handlung nicht unterbricht, ihr aber eine vollkommen neue, für einen Spannungsbogen wichtige Wendung gibt. Es ist der Plot Point, der unterbricht und alles soweit durcheinander würfelt, dass der dritte Akt mit einer neuen Voraussetzung beginnen kann.
Dritter Akt, Auflösung, 30 Minuten.

Melissa Mathison hat eine wundervolle Geschichte über Freundschaft und Verständnis geschrieben, gespickt mit genialen Einfällen, Anspielungen und Aussagen. Mathison hat diese anrührende Geschichte in den richtigen Rahmen gesetzt und es verstanden, die Akzente der Geschichte richtig zu setzen. Und dass Spielberg die Kamera zur psychologischen Manipulation des Zuschauers nur sehr selten einmal über die Köpfe der Kinder heben ließ, findet sich nicht im von Syd Field angeführten Grundmuster. Die Geschichte und ihre filmtechnische Umsetzung bestimmen den Film. Das Paradigma ist dabei der Leitfaden, zugegeben ein sehr präziser Leitfaden.

Und Melissa Mathison setzt noch eins drauf, geht über das bisher Erörterte hinaus. Die Männer der Regierung, die Bösen also, bilden bei E.T. eine zweite Erzählebene. Man sieht sie selten, dafür sind ihre Auftritte umso einprägsamer. Sie sind dem Raumschiff auf der Spur, verlieren E.T. aber aus den Augen. Sie nehmen die Spur im Vorort wieder auf. Mit Abhörgeräten machen sie das Haus ausfindig. Die Regierung überfällt die Familie, macht E.T. dingfest und übernimmt das Kommando. Dann allerdings werden die Häscher ausgetrickst und E.T. kann ihnen entkommen – „fliegen nach Haus“.

In der Exposition der ersten zehn Minuten sind die Regierungsmänner das erste Mal auf der Suche. Um den ersten Plot Point herum verlieren sie E.T. aus den Augen, was sie in den Vorort treibt. Der zweite Akt, die Geschichte, befasst sich mit der immer enger werdenden Schlinge, welche sie um E.T. ziehen. Während der Konfrontation auf der Regierungsebene finden sie das Haus, in dem E.T. Unterschlupf gewährt wird. Während des zweiten Plot Points umstellen sie das Haus und werden der Familie samt Gast habhaft. Im dritten Akt besteht die Auflösung darin, die Regierungsmänner ziemlich blöd aussehen zu lassen. Sie werden von den Kindern an der Nase herumgeführt und dürfen zukünftig wieder Radkappen fotografieren, um die Existenz von Außerirdischen zu beweisen.

Ist das nicht genial? Aber hallo, das ist doch ein Spaß für die ganze Familie. Plot Point raten oder im Fernsehfilm der Woche die Konfrontation suchen. Das Spiel sollte man sich aus dem Kopf schlagen, wenn man einen Film das erste Mal sieht, das versaut einem echt die Stimmung. Aber ein Versuch lohnt sich, denn Syd Field ist nicht umsonst zum Guru von Hollywood und somit zum Idol aufstrebender Jungfilmer in aller Welt geworden. Die Programmkino-Junkies werden aberwitzig viele Filme benennen können, die die Struktur des Paradigmas (immer noch ein schönes Wort) absolut ignorieren oder absichtlich brechen. Und das ist auch gut so, denn wer die Regeln kennt, kann umso besser mit ihnen spielen. Aber hier ging es um zwei andere Dinge: E.T. und Syd Fields Paradigma. Alles andere zu einem späteren Zeitpunkt.

Ein gutes Drehbuch funktioniert mit dem Spiel der Emotionen. Und nicht vergessen, dass Action und Horror ebenfalls Emotionen vermitteln. Einführung, Geschichte, Auflösung. Das alles muss harmonieren, ineinandergreifen und den Zuschauer berühren. Oder zu Tode ängstigen. Syd Field hat sehr vielen Menschen geholfen mit gewissen Strukturen eine wunderbare Geschichte wunderbar für die Leinwand zuzubereiten. Sehr viele gute Drehbücher sind mit dieser Struktur erstellt. Doch nicht jedes Drehbuch mit dieser Struktur muss deswegen gut sein. Das Paradigma ist grafisch sehr simpel, gibt dem Autoren allerdings harten Nüsse zu knacken, worauf es tatsächlich an bestimmten Stellen im Film ankommt, und worüber der Film letztendlich erzählt.

Die Grundidee von E.T. ist alles andere als originell, in ihrer Umsetzung ist sie allerdings einmalig. Das Paradigma hat dazu beigetragen, dass wir als Zuschauer mitgetragen wurden, dass wir uns fallen ließen und die alte Runzel-Haube in unser Herz geschlossen haben. Aber über das Schreiben der  perfekten Geschichte lässt sich einfach kein Artikel verfassen.

Kommentare  

#1 Andrew P. Wolz 2010-01-26 00:19
Da bekomme ich glatt Lust, noch mal (nach vielen Jahren) E.T. anzuschauen und Plot Point Bingo zu spielen. Hoffentlich bekomm ich das bei anderen Filmen wieder aus dem Kopf.
#2 Norbert 2010-01-26 10:41
Zugegeben, als ich E.T. Das erste Mal sah, habe ich auch heulend im Kino gesessen. Inzwischen ertrage ich ihn ob seines enormen Kitschgehaltes nicht mehr. Aber, es hat bei den ersten zwei, drei Malen funktioniert, was zeigt, dass der Film alles richtig gemacht hat.
Unter den von Dir oben aufgeführten Aspekten habe ich mir noch nie einen Film angesehen, will ich eigentlich auch nicht. Aber verdammt, Mainstream, jetzt kriege ich das Ding nicht mehr aus dem Kopf. Schäm' Dich...
#3 Laurin 2010-01-26 16:12
Oha....böse Falle!
Ich hab ihn zwei mal gesehen, nie dabei geheult und war das erste mal fest der Meinung, der gehört ins Kinderprogramm :-*
#4 Andrew P. Wolz 2010-01-26 16:58
Als ich ihn damals in einem sehr kleinen Kino gesehen habe, waren fast alle Plätze von einer nicht gerade ruhigen Schulklasse besetzt - und als Erwachsene neben mir nur zwei Lehrer... Da konnte ich nur heimlich weinen.
#5 Mainstream 2010-01-27 07:07
-
Aber Laurin, immerhin zweimal gesehen...
Beim dritten Mal funktionierts. Probiers.

Norbert, einfach die Uhr am DVD-Player abkleben,
dann kommt man auch nicht in Versuchung...
Und im Kino, da ist die Atmosphäre eh ganz anders,
da denkt man gar nicht an so einen Firlefanz.

...oder doch?
#6 Laurin 2010-01-29 17:50
#5 Mainstream:

Ich würde ihn mir auch ein drittes mal ansehen (niedlich ist er ja wenn er telefonieren will :lol: ), aber die Tränen kommen mir meistens immer nach der Ziehung der Lottozahlen :cry: !

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.