Ringo´s Plattenkiste - Gentle Giant - The missing Piece
Gentle Giant - The missing Piece
Es waren mal 3 – nein, keine Schweinchen - junge, schottische Brüder mit Namen Shulman. Die gründeten Mitte der Sechziger eine Popgruppe mit dem Namen Simon Dupree and the big Sound. Die Shulmans – Ray, Derek und Philip - waren ausgezeichnete und vielseitig versierte Musiker, die man heute als Multiinstrumentalisten bezeichnen würde. Neben den 3 Brüdern, von denen Derek sich hinter dem Pseudonym Simon Dupree verbarg, spielten noch Peter O’Flaherty, Eric Hine und Peter Ransley mit. Die Musik des Sextetts war eingängig, poppig und kommerziell. Insgesamt betrachtet also nichts Besonderes. Simon Dupree veröffentlichte neben einem Album diverse Singles, die sich sehr schlecht verkauften. So wurde bald auf Drängen ihrer Plattenfirma der Sound nach und nach psychedelischer, was damals mega-angesagt und verkaufsfördernd war und auch bei Simon Dupree funktionieren sollte. Aufgrund des immer noch ausbleibenden Erfolgs übte Manager John King ein wenig mehr wohldosierten Druck aus und erzwang förmlich die Aufnahme “, einer Coverversion von „Kites“, einem Lied der Rooftop Singers. King versprach sich davon einen Charterfolg. Die Musiker wollten zwar nicht so recht, aber King blieb hartnäckig und sollte auch recht behalten. Die Single war sehr erfolgreich und erreichte Platz 9 der Charts. Big Sound brachten später noch eine Single unter dem Decknamen The Moles heraus, eine psychedelische Nummer mit dem Titel „We are the Moles, Part 1 & 2“. Die Presse munkelte schon bald, hinter der seltsamen Band mit dem seltsamen Namen und der seltsamen Musik verbergen sich die Beatles. Pink Floyd´s Syd Barret war es, der die Moles als Simon Dupree und seine Mannen enttarnte. Danach aber kam nichts Erwähnenswertes mehr nach.
Bis auf zwei Dinge:
• für kurze Zeit saß ein gewisser Reginald Dwight an den Keyboards. Dwight machte später Karriere als Elton John.
• Aus der aufgelösten Band Simon Dupree and the big Sound ging eine exzellente und originelle Prog-Gruppe hervor.
Leider blieb dieser – im Gegensatz zu anderen, ähnlichen Bands – der große Erfolg verwehrt.
1970 machten die Shulmans Bekanntschaft mit zwei weiteren Musikern, nämlich dem klassisch ausgebildeten Kerry Minnear und dem Bluesgitarristen Gary Green. Die Band wechselte ihren Stil radikal und änderte auch den Namen in Gentle Giant. Gentle Giant waren neu, originell und äußerst kreativ. Im Gegensatz zur üblichen Rockband stand nicht die Gitarre im Vordergrund, der Sound war vielmehr durch die Multiinstrumentalisten geprägt, die für Rockbands allerlei ungewöhnliche Instrumente verwendeten. Saxophon, Trompete, Mandoline, Geige und sehr häufig auch Blockflöten. Hinzu kam, dass gleich drei Mitglieder für die Lead-Vocals zuständig waren: Derek und Phil Shulman, sowie Kerry Minnear, der allerdings nie live sang. Die Entstehung des Bandnamens ist ein wenig verkopft, denn die Musiker erdachten sich einen fiktiven freundlichen – nein, nicht Freund -Riesen, der ihrer Musik lauscht und ihr verfällt. Inspiriert wurden sie wohl neben diversen bewussteinserweiternden Substanzen auch von Francois Rabelais` Geschichtenzyklus um die beiden Riesen Gargantua und Pantagruel. Der Track Pantagruels Nativity auf dem Album Acquiring the Taste deutet auch darauf hin. Genauso verkopft wie der Bandname war auch ihre Musik selbst. Nomen est Omen.
Ende 1970 erschien das selbstbetitelte Debutalbum, produziert von Tony Visconti, der zuvor schon für T. Rex und David Bowie gearbeitet hatte. Das Album war musikalisch abwechslungsreich, verschnörkelt und verspielt. Die Band vermischte Rock, Folk, Klassik, Blues und Jazz zu einem sehr melodiösen und extravaganten Ergebnis. Die Kompositionen stammten hauptsächlich von Ray Shulman und Kerry Minnear, die Texte schrieb hauptsächlich Phil Shulman. Das Cover zeigte den namengebenden Riesen, der allerdings besser auf den Buchdeckel eines Kinderbuchs gepasst hätte. Die 7 teils sehr langen Kompositionen zeigten bereits das Potential der Band an. Die Musik war zwar versponnen und vertrackt, aber doch noch recht eingängig und melodiös. Der Erstling verkaufte sich aber leider nicht besonders, sicherte der Band aber einen kleinen, treuen Fankreis. Ein seltsames Detail: Das US-amerikanische Hip-Hop-Duo Madvillain verwendete 2004 auf dem Song „Strange Ways“ ein Sample aus „Funny Ways“.
Das nachfolgende Album zeigte einen gewaltigen Sprung nach vorne. Die Musik war noch vertrackter und verspielter, die Arrangements noch komplexer und komplizierter. Die Kompositionen waren geprägt von Tempo- und Taktwechseln, Kontrapunktionen, Polymetrischen Rhythmen, mehrstimmigem Gesang und altertümlichen Kompositionstechniken. Auch dieses Album fand wenig Anklang bei der breiten Käuferschaft, festigte aber ihren Status bei den Fans. Acquiring kann als eine Art klanggewordenes Manifest betrachtet werden.
Wie in den Liner-Notes nachzulesen ist, war es das erklärte Ziel der Band, die Grenzen zeitgenössischer Popmusik zu verlassen und den Gedanken an jedwede Kommerzialität zu vermeiden. Jede Komposition sollte einzigartig sein. Der Hörer wurde aufgefordert, sich zurück zu lehnen, zu genießen und auf den Geschmack zu kommen (Acquiring the Taste). Ein gewagter und hoher Anspruch, dem sie aber durchaus gerecht wurden. Gentle Giant folgten diesem Leitsatz programmatisch.
Hier liegt aber wohl auch einer der Gründe für das Ausbleiben des großen Erfolgs zugrunde. Eben dieser selbstgestellte Anspruch verbot ja quasi von selbst den kommerziellen Erfolg. Gentle Giant fanden eine kleine Schar treuer Käufer und Fans und entwickelten ihren ureigenen, spleenigen und sperrigen Stil weiter.
Acquiring the Taste fand auch bei Ian Anderson Gefallen. So war es kein Wunder, dass er Gentle Giant bat, Jethro Tull auf der 72er Tour als Vorgruppe zu begleiten. Sogar der selbstgefällige und anspruchsvolle Frank Zappa erwähnte Gentle Giant einmal lobend in einem Interview im Jahre 1975.
Nach dem Album wechselte die Besetzung ein wenig. Der ursprüngliche Drummer Martin Smith wurde 1972 durch Malcolm Mortimore ersetzt, der allerdings wegen eines Motorradunfalls nur für ein Jahr und ein Album blieb, bevor der endgültige Drummer, John Weathers, zur Band stieß. Nach dem vierten Album stieg auch einer der Shulmans aus: Phil verließ Gentle Giant 1973 aus persönlichen Gründen, da er inzwischen 3 Kinder hatte und mehr für seine Familie da sein wollte. Die beiden anderen Shulmans dachten zuerst, dies sei das Ende der Band, aber sie machten gottseidank weiter.
Ihren künstlerischen Zenit erreichten sie 1975 mit dem grandiosen Album The Power and the Glory, auf dem erstmals das kuriose Instrument Shulberry zu hören war. Derek Shulman spielte später auch live gelegentlich diese elektrische Ukulele. Gebaut und konstruiert wurde dieses Kuriosum von Dave Zammit, nicht von Derek, wie fälschlicherweise oft zu lesen ist.
Mit dem Nachfolgealbum wurde die Plattenfirma gewechselt und Gentle Giant verließen auch allmählich ihren bisherigen musikalischen Weg. Die Songs wurden ein wenig einfacher und schlichter, insgesamt zugänglicher. Free Hand war das erste Album auf Chrysalis und erreichte immerhin Platz 50 der Album-Charts, die bisher höchste Position.
Es folgte ein weiteres Album, auf dem sich aber bereits eine gewisse Stagnation und eine subtil zu erahnende Richtungslosigkeit bemerkbar machten: Interview, das etwas unausgegoren und uninspiriert wirkt. Nach einem Live-Doppelalbum erschien dann im für alle Progbands schicksalhaften Jahr 1977 das Album, um das es heute geht.
The missing Piece, das Grüne Album, erschien kurz nach dem Live-Doppelalbum Playing the Fool.
Die Besetzung sah aus wie folgt:
Wie man auf den ersten Blick sieht, sind nicht nur die Haare kürzer geworden und die Hippie-Klamotten verschwunden, sondern auch das Instrumentarium ist im Vergleich zu früher deutlich abgespeckt. Der Trend zur Vereinfachung hatte ja bereits dezent auf dem Vorgängeralbum begonnen und wurde hier nun konsequent fortgesetzt. Auf The missing Piece gab es keine Spur mehr von Saxophon, Blockflöten, Geige, Trompete und Triangel. Gentle Giant hatten ihren ursprünglichen Anspruch inzwischen kritisch analysiert und betrachtet. Der ausbleibende finanzielle Erfolg hatte sie wohl nach all den Jahren doch etwas frustriert und vermutlich ein wenig neidisch auf ihre Kollegen von Genesis oder Yes schielen lassen, die sehr wohl anspruchsvolle Musik machten, aber dennoch Erfolg damit hatten. Und auch gut davon leben konnten.
Die Band steckte in einem Dilemma. Einerseits wollten sie erfolgreiche Musik produzieren, andererseits aber auch nicht ihre treue Fangemeinde vergraulen. Ihre Plattenfirma war auch nicht gerade optimistisch. Sicher, GG verkauften ihre Alben zwar nach wie vor, aber die Verkaufszahlen stiegen leider auch nicht. GG wurden gedrängt, ihren Fokus neben dem europäischen auch auf den US-Markt zu legen.
Der klassisch ausgebildete Keyboarder Kerry Minnear blickt mit gemischten Gefühlen auf diese Phase der Entwicklung
"Zu diesem Zeitpunkt waren sicherlich ein oder zwei Mitglieder der Band frustriert über die selbstauferlegte Zwangsjacke, wegen der wir uns verpflichtet sahen, experimentelle und anspruchsvolle Musik zu spielen. Ray (Shulman) beschäftigte sich zu dieser Zeit ziemlich intensiv mit Punk, weil dies für ihn ein roher Ausbruch von Energie und Begeisterung war. Ich denke, das hat ihn angesprochen, weil es so völlig anders war als unsere Musik. Ich muss gestehen, dass ich ein bisschen unzufrieden mit einigen Dingen war, die in der Band vor sich gingen. Ich persönlich hatte viel weniger dafür übrig, mich von diesen Einschränkungen zu befreien, die wir uns selbst auferlegt hatten.“
Die Aufnahmen fanden erstmals nicht im heimischen Großbritannien statt, sondern auf dem Kontinent. Genauer gesagt in den Niederlanden, im Relight Studio in Hilvarenbeek. In besagtem Studio hatten ein Jahr vorher Genesis ihr Album Wind & Wuthering aufgenommen. Das Relight gab es schon seit 1964, genauer gesagt wurde es unter dem Namen Hilvaria als Filmstudio gegründet. Das Studio war hochmodern ausgestattet, und so nahmen bald nicht nur niederländische Bands und Musiker wie z.B. Golden Earring dort auf, sondern auch ausländische wie Black Sabbath, Genesis, Cat Stevens und auch Peter Gabriel. Das Studio existierte bis 1981 und wurde dann aufgrund von Insolvenz geschlossen.
Untergebracht waren GG in einem spartanischen Ferienhaus. Gitarrist Gary Green erinnert sich, dass er und seine Frau die Mahlzeiten für alle zubereiteten.
Derek Shulman fühlte sich sehr unwohl und schätzte es nicht besonders, dass das Studio und die Unterbringung mitten auf dem Lande waren. Das Studio hatte wohl einen guten Ruf, aber die Kuhherden und die bäuerlichen Nachbarn schlugen ihm aufs Gemüt. Derek sehnte sich schleunigst nach England zurück.
Ray Shulman erinnert sich vor allem an zwei Dinge recht lebhaft. Zum einen der strenge Geruch eines nahegelegenen Schweinestalls, zum anderen Fleetwood Macs epochales Album „Rumours“. Das Album lief in der kleinen Bar des Studios tagtäglich rauf und runter. „Rumours“ sollte eine Art Prüfstein für GG werden, zeigte es ihnen doch auf, welchen überragenden Erfolg Fleetwood Mac hatten, nachdem sie ihren bisherigen Stil weitgehend ad acta legten.
Nicht nur der Aufnahmeort selbst war diesmal anders, sondern auch die Vorgehensweise selbst. Bisher hatten sie neue Songs erst live gespielt, nachdem sie bereits auf Platte erschienen waren. Bei Missing Piece war es genau umgekehrt. Das neue Material wurde auf der Bühne in verschiedenen Arrangements präsentiert, um herauszufinden, welches am besten passen würde. Der eigentliche Aufnahmeprozess im Studio war recht simpel, ähnlich wie bei einem Live-Konzert. Die Basictracks wurden von allen Musikern gemeinsam aufgenommen, später kamen die Overdubs hinzu. Produziert wurde das Album in Eigenregie, an den Reglern saß Paul Northfield.
Das fertige Album erschien September 1977 in einem nichtklappbaren Cover, dessen Design sehr schlicht gehalten war: Auf grünem Hintergrund liegt ein einsames Puzzleteil. Dreht man das Album um, sieht man, dass es das fehlende Teil eines fertigen Puzzles ist, das das Konterfei des Sanften Riesen des Erstlingsalbums zeigt.
Die Credits sind sehr spärlich, so gibt es keinerlei Hinweise auf die Besetzung und die Instrumentierung.
Die Platte selbst steckte in einer einfarbig grünen Innnentasche, auf die ebenfalls ein „Missing Piece“ aufgedruckt war. Das Cover-Konzept war spartanisch, schlicht aber ansprechend und in sich selbst stimmig.
Hier die Tracklist des Albums:
Sehen wir uns die Tracks mal genauer an.
Bereits der Opener zeigt auf, welche Richtung GG eingeschlagen haben. Two weeks in Spain ist eine flotte, gutgelaunte und eingängige Rocknummer, bei der Gitarre und Keyboards dominieren. Der Track wurde auch als Single ausgekoppelt, die aber leider erfolglos blieb. Two Weeks scheint auf den ersten Blick oberflächlich und kommerziell, ist aber tatsächlich eine gelungene und gut durchdachte Komposition. Zwar kein Vergleich zu Vergangenem, aber dennoch frisch und unverbraucht.
Auch der nächste Song, I'm Turning Around wurde als Single veröffentlicht, aber im Gegensatz zu Two Weeks wurde er gezielt für eine Auskopplung geschrieben. Der Song ist gleichfalls eingängig und kommerziell, deshalb aber keineswegs schlecht. Er schrammt haarscharf am Kitsch vorbei, bietet aber eine wunderschöne, fast hymnenhafte Melodie. AOR in Vollendung, fast möchte man sein Feuerzeug dazu anknipsen und schwenken. Alt-Progger tun dies vermutlich auch manchmal. Heimlich. Und weinen dazu. Ich nicht. Toller Song.
Betcha Thought We Couldn't Do It kommt da ganz anders daher.
Es ist ein schneller und rotziger Punksong, der von Ray Stammt. Wie bereits erwähnt, war Ray Shulman dem Punk sehr zugetan und hatte hier die Gelegenheit selbst mal einen einfachen und harten Song zu produzieren. Die Hardcore-Fans waren damit wie vor den Kopf gestoßen, was auch beabsichtigt war, wie der sarkastische Text beweist. Hier bleiben die Feuerzeuge aus und die Alt-Progger sehen wehmütig die guten, alten Blockflötenzeiten herbei.
Who Do You Think You Are? Ist wieder ganz anders. Sehr rhythmisch und funky, aber leider nichts Besonderes. Der Text handelt von Rockstars und ihren Allüren. Schwach.
Auf Mountain Time machen Gentle Giant einen auf dicke Hose und präsentieren uns einen rhythmischen Funk-Rocksong, der ebensogut von Paice, Ashton, Lord stammen könnte. Die Fans waren vermutlich schockiert, was ihren Höhepunkt darin fand, als auch noch gegen Ende des Songs Female-Vocals hinzu kamen.
Seite 2 beginnt mit As Old as You're Young, einem ruhigen Song, der in seiner Melodieführung und Komposition an die früheren GG erinnert, was vor allem an dem mehrstimmigen Madrigal-Gesang und den Rhythmus- und Melodiewechseln liegt. Ein Song, der durchaus von einem früheren Album stammen könnte. Es fehlen nur noch die Blockflöten. . Wo ist das Feuerzeug, verdammt! Vorgetragen wird der Song von Kerry Minnear.
Memories of Old Days, der einzige Longtrack des Albums, ist von ähnlichem Kaliber. Sehnsüchtig beschreibt er bessere Zeiten, was sowohl die musikalische Unabhängigkeit bedeutet, als auch das Leben allgemein. Memories ist akustisch und vielschichtig, ein Song der sich stetig und allmählich entwickelt. Passend zum melancholischen Text ist auch die Musik. Leicht wehmütig und dahinschwebend. Ein leider sehr trauriges Beispiel dafür, wie sich Dinge im Leben manchmal entwickeln. Großartig sind hier die Akustikgitarren und Instrumentalparts. Memories ist sparsam instrumentiert, nur Gitarre, dezente Keyboards, Bass und Dereks Gesang. Keine Drums, keine Percussions. Die Feuerzeuge an, die Blockflöten aus dem Keller geholt und weinen!
Der nächste Song, Winning, ist ein vertrackter und polyrhythmischer Song, kaum kommerziell, als Single überhaupt nicht geeignet aber musikalisch ein Hochgenuß.
For Nobody schließt Seite 2 und das Album dann ab. Hier sind GG wieder ganz sie selbst, trotz sparsamer Instrumentierung und härterer Gangart. Vertrackt, polyrhythmisch, takt- und Melodiewechsel und vielstimmiger Gesang.
Unmittelbar nach dem Release tourte die Band zu Promotionzwecken in den USA, was aber nicht den gewünschten Erfolg hatte: die Platte erreichte nur Platz 61 der Album-Charts. Trotz einer Hinwendung zu mehr Kommerzialität, die in meinen Augen aber eher halbherzig war, blieb auch diesmal der Erfolg versagt. Gentle Giant versuchten es noch zwei Mal und gaben 1980 dann endgültig auf. Bei den alten Fans fiel das Album gnadenlos durch, in meiner Plattenkiste nimmt The missing Piece aber einen besonderen Platz ein. Es ist grandios, neu, unverbraucht, trotz schlichter und sparsamer Instrumentierung aber dennoch komplex und anspruchsvoll. Seite 1 zeigt, wie bereits erwähnt, einen Anbiederungsversuch an den breiten Geschmack, während Seite 2 schon wieder eine völlige Abkehr davon darstellt. Das weitgehend unterschätzte und bei weinenden Feuerzeugschwenkern vielfach verdammte Album bietet lupenreine Rocksongs, gespickt mit vertrackten Prog-Perlen. Im Gegensatz zu ihren Kollegen wie z.B. Jethro Tull war bei GG die Luft noch nicht raus. Sie kopierten sich nicht selbst oder waren je peinlich. Die Stiländerung tat ihnen meiner Meinung nach sehr gut. Eigentlich ist es auch erfrischend, nicht wieder Blockflöten und Gegeige hören zu müssen. Vermutlich liegt meine hohe Meinung des Albums darin begründet, dass ich ihre früheren Platten erst später kennenlernte.
Wer sich ein Bild von GG zur damaligen Zeit machen möchte, den verweise ich auf einen Auftritt der Band im Rahmen der Sight and Sound-Sendung auf. Glücklicherweise ist dieser Auftritt in sehr guter Audio-Video-Qualität erhalten und kann im Netz geschaut werden.
The missing Piece erschien 1993 erstmals auf CD. Später wurde das Album dann in einer remasterten Version wieder auf den Markt gebracht. Ein Hardcore-Fan behauptete irgendwann, dass beim Remaster die Kanäle vertauscht wurden. Allerdings ist eher anzunehmen, dass die Kanäle bei der ursprünglichen Version vertauscht waren, das Remastering diesen Fehler aber behoben hat. Wie dem auch sei.
2012 erschien dann die Box „I lost my Head“, in der sich alle Alben der Chrysalis-Ära zusammen mit einem sehr informativen Booklet befinden.
Was wurde aus den Musikern?
Gary Green arbeitete später mit Eddie Jobson und Billy Sherwood zusammen und gründete die Band Three Friends, die aber keine GG-reunion darstellen soll, sondern ein nachfolgeprojekt. Green lebt heute mit seiner Familie in den USA.
Kerry Minnear schreibt Musik für Film und Fernsehen, aber auch für PC-Spiele. Minnear leitet das Label Alucard, das die Interessen von GG vertritt. Er war kurzzeitig Mitglied bei Three Friends und lebt in England.
Derek Shulman kehrte der aktiven Musik den Rücken und machte Karriere. So war er als Vizepräsident von Polygram Records der Entdecker von Bon Jovi, Dan Reed Network, Cinderella und anderen. Später übernahm er die Präsidentschaft von Atco, für die er unter anderem Bands wie Pantera unter Vertrag nahm.
Ray Shulman komponierte Filmmusik und schrieb auch Musik für PC-Spiele. Er war danach auch recht erfolgreich als Produzent für Björk`s Band Sugarcubes und Ian McCulloch. Unter dem Pseudonym Head Doctor veröffentlichte er auch elektronische Musik.
John Weathers ging nach dem Split zu Man und arbeitete als Sessionmusiker. Vor einigen Jahren musste er das Schlagzeugspielen aufgrund einer Arthrose aufgeben. Inzwischen ist er als Ornithologe in England tätig.
Wie John Weathers sich erinnert, kamen sie zum Schluß, dass ihre Musik wohl doch ein wenig zu kompliziert für die Hörerschaft war. Was Yes oder Genesis konnten, vermochten Gentle Giant wohl auch. Man musste sich ja nicht gerade an Pop anbiedern oder komplett musikalisch verbiegen, aber man könnte doch ein wenig zugänglichere Musik machen. Also versuchten sie es. Und scheiterten. Dazu später aber mehr.
Kommentare
Ich bin voll und ganz deiner Meinung.
Nach "Interview" musste es einen Schnitt geben, das 77er Album ist wirklich gut und es lohnt sich, auf die Bewertungen bei Progarchieves zu pfeifen und sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Ich fand übrigens auch das 80er Album "Duke" von Genesis sehr gut, auch da hatte man nach drei sehr ähnlich klingenden Prog Alben mit Collins als Frontmann erst mal genug von der Materie.
Zitat: Interessante Aussage. Ich hatte da immer eher an das Jahr 1979 gedacht, aber eigentlich fällt mir da auch kein großer Wurf ein, den es in oder nach 1977 gab.
Andererseits hatte es auch was Gutes, denn wenn Bands wie z.B ELO sich in dieser Zeit nicht musikalisch verändert hätten, wären großartige Alben wie "Out of the blue" nicht erschienen...
Und ganz ehrlich, wer würde sich heute an sie erinnern, wenn sie bei "Eldorado" aufgehört hätten...