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Ringos Plattenkiste: Renaldo and the Loaf: The Elbow is taboo

Renaldo and the Loaf - The Elbow is taboo

 »Music was my first love« sang John Miles anno 1976. Meine auch, sieht        man von Uschi L. mal ab, der blonden Nachbarstochter, mit der ich im zarten  Alter von 6 Jahren fast täglich zusammen war. Bis sie wegzog. Mit ihren Eltern natürlich.

Aber um die geht es hier nicht, sondern um Musik. -

Einzig und allein.

 

Heute präsentiere ich eine Band – eigentlich ist es ein Duo – die sich stets weitab der herkömmlichen Pfade populärer Musik bewegte und ihr ganz eigenes Ding machte. Ihre Musik war und ist sehr eigen, was die Songs selbst, die Instrumentierung und den Sound betraf. Wer die Residents (Ringo berichtete) mag, wird auch bei der heutigen Band auf seine Kosten kommen. Neugierig geworden?

Unser Duo, David Janssen und Brian Poole mit Namen, kannten sich schon aus der Schule, wo sie Mitte der Siebziger durch eine gemeinsame Vorliebe für Marc Bolans T. Rex verband. Wie es häufig der Fall ist, begannen die beiden bald, selbst Musik zu machen. Ihre ersten Gehversuche konnte man aber kaum als Songs bezeichnen, sondern eher als Soundexperimente. 1978 gaben sie sich den etwas sperrig klingenden Namen Plimsollline, übersetzt Wasserlinie, bzw. Tiefgangsmarke. Eine solche ist üblicherweise an einem Schiffs-Bugrumpf angebracht und zeigt an, wie tief das Schiff im Wasser stand.

Durch eine Zeitungsannonce wurden sie irgendwann auf ein Label namens Raw aufmerksam, das Acts suchte, um sie unter Vertrag zu nehmen. Tatsächlich unterzeichneten sie bald darauf und nahmen ein Album und eine EP auf, die aber nie erschienen: das Label ging pleite, der Besitzer verschwand spurlos und die Aufnahmen blieben unveröffentlicht. So ist das Leben.

David und Brian gaben aufgrund dieser schlechten Erfahrung aber nicht auf, sondern machten munter weiter. Misstrauisch gegenüber unbekannten Kleinlabels geworden, schickten sie ihre Demo-Tapes nun an große  Plattenfirmen, wie z.B. Virgin oder Rough Trade. Letzteres zeigte großes Interesse an den beiden und empfahl ihnen, Geld in ein Mehrspurbandgerät zu investieren. Plimsolline war inzwischen auch Vergangenheit, die beiden nannten sich nun Struve & Sneff und begannen mit den Aufnahmen zu ihrem Debutalbum. Sie trafen sich regelmäßig in ihrem improvisierten Aufnahmestudio in Davids Schlafzimmer (!), um Songideen zu besprechen und Tracks aufzunehmen. Struve and Sneff legten ihren Namen aber bald wieder ab und fanden schließlich ihr endgültiges und finales Pseudonym: Renalo and the Loaf. Brian war fortan Renaldo Malpractice (Kunstfehler), David wurde zu Ted the Loaf (Das Brot). Man kann sich alleine aufgrund dieser Namen schon vorstellen, welche Art von Musik die beiden produzierten: sicherlich keine Popsongs. Vielleicht Popsongs aus der 7. Dimension.

RatL waren zu dieser Zeit fasziniert von elektronischer Musik, waren finanziell aber außerstande, sich selbst einen Synthesizer zu kaufen. So blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen und syntehsizerähnliche Klänge mit Tape-Loops oder präparierten Gitarren zu produzieren.

Das so entstandene Debutalbum wurde in einer bescheidenen Auflage von 250 Stück gepresst und via Mailorder verkauft.

Während eines Urlaubs in San Francisco schaute Renaldo im Büro von Ralph Records, dem Stammlabel der Residents (Ringo berichtete), vorbei und gab dort ein mitgebrachtes Exemplar ihres Erstlings ab. Einer der Residents war davon so angetan, dass er das schräge Duo unbedingt unter Vertrag nehmen wollte. Wieder in Good old England erarbeiteten Renaldo und das Brot weitere Demoaufnahmen, und schließlich unterzeichneten sie den Plattenvertrag bei Ralph Records. RR war ein unabhängiges Label, das 1972 von den Residents gegründet wurde, um hauptsächlich ihre eigene Musik veröffentlichen zu können. Das erste Release des Labels war die „Santa Dog“ EP. Aber auch weitere Acts aus dem Umfeld der Residents, wie z.B. der schräge Gitarrist Snakefinger wurden unter Vertrag genommen. Für Renaldo and the Loaf muss es wie ein Wunder gewesen sein, dass ihre Musik Wohlwollen bei den kultigen Residents erregte und sie sogar unter Vertrag genommen wurden. Das Duo nahm viel neues Material auf, überarbeitete aber auch einige ältere Demo-Aufnahmen, sodass Anfang 1981 endlich ihr erstes reguläres Album erscheinen konnte: „Songs for swinging Larvae“. Kurz vorher begann die Arbeit am Folgealbum, das 1983 unter dem Titel „Arabic Yodelling“ erscheinen sollte. Im selben Jahr erschien auch eine Kollaboration mit den Residents: Title in Limbo. Durch ihre finanzielle Beteiligung an den Plattenverkäufen konnten sich RatL mittlerweile ein richtiges Studio mit Mehrspurbandgerät und professionellem Mischpult einrichten.

Auch das musikalische Equipment wurde aufgestockt: es kamen ein Sampler, ein Roland Drumcomputer und ein Effektgerät hinzu. Renaldo allerdings fühlte sich dadurch ein wenig in seiner Kreativität eingeschränkt, denn nun konnte er nicht mehr zu jeder Zeit an neuen Songs arbeiten.

In den folgenden 3 Jahren wechselten sie dann von Ralph zu Some Bizarre Records. Ralph übernahm aber weiterhin den Vertrieb in den USA. In dieser Zeit begannen auch die Arbeiten an dem Album, um das es heute geht: The Elbow is taboo

Aufgenommen wurde im eigenen Studio namens Chez Struve, die Produktion und Endmischung erfolgte durch das Duo selbst.

Die Besetzung sah aus wie folgt:

Dave Janssen: Bouzouki, Electronic Drums, Tape-Loops, 12-String Acoustic Guitar, Kalimba, Percussion, Mandolin, Roland TR 606 Drum Programming, Guitar, Casiotone 202, Sampler, Clarinet, Bowed Koto.

Brian Poole: Dulcimer, Casiotone 202, Vocals, Drums, Percussion, Vocals, Bouzouki, Harmonica, Cymbal, Roland TR 606 Drum Programming, Vocals, Bass, Sampler, Clarinet, Glockenspiel, Guitar, Bouzouki, Cymbal, Bowed Koto, Violin, Guitar, Pickle Jar.

Bei einigen Tracks wurden sie von einem gewissen Trevor Gilbert unterstützt. Kennt keiner. Wahrscheinlich ein Nachbar oder einer der Beatles.

Noch ein wenig Infos zu den verwendeten Instrumenten:

Das Casiotone war ein günstiger Kleinsynthesizer des japanischen Taschenrechner- und Uhrenherstellers Casio, der in großer Stückzahl produziert und verkauft wurde. Waren die ersten Modelle noch sehr klein mit Tasten, die allenfalls für Kinderfinger geeignet waren, wurde das Gerät nach und nach weiterentwickelt. Casiotones waren eigentlich nicht für den professionellen Gebrauch konzipiert, sondern eher für den Hausgebrauch. Die Sounds waren eher billig und entsprachen keineswegs den Instrumenten, die sie nachzuahmen versuchten. Als Bonus enthielten die Instrumente einen Rhythmussektor, der neben einer Auswahl an vorprogrammierten Patterns auch die Möglichkeit bot, eigene Rhythmen zu programmieren.

Der Roland TR 606 war ein analoger Drumcomputer mit integriertem Sequencer zum Programmieren eigener Patterns. Im Gegensatz zur legendären Roland 808 sind die Möglichkeiten aber begrenzt. Es fehlen Sounds wie Cowbell und Handclap, außerdem lassen sich die Töne nicht in ihrer Höhe verändern, sondern nur in Lautstärke oder Betonung. Der 606 verschwand bald vom Markt und avancierte mittlerweile aber zum begehrten Vintage-Sammlerobjekt.

The Elbow ist taboo erschien 1987 im Standard Sleeve mit äußerst ästhetischem Artwork. Das Cover ziert eine Photographie, das auf den ersten Blick wie ein weiblicher Brustauschnitt im Büstenhalter aussieht. Schaut man genauer hin, erkennt man, dass es gar kein Busen ist, sondern 2 Unterarme, die mit den Ellbogen im BH stecken und wie aus Marmor wirken. Eine witzige Idee!

Die Rückseite ist im Design ähnlich. Das Vinyl selbst steckt in Innentaschen, die mit den Lyrics bedruckt sind.

In den USA veröffentlichte Ralph das Album via Mailorder in einer ganz anderen Aufmachung, die an die Covers der ersten Alben erinnerte.

Hier die Tracklist des Original Albums:

Seite 1:

  1. A Street Called Straight
  2. Boule!
  3. The Elbow Is Taboo
  4. Hambu Hodo

Seite 2:

  1. Dance For Somnambulists
  2. Here's To The Oblong Boys
  3. The Bread Song
  4. Critical/Dance
  5. Extracting The Re-Re (A Ritual Call To Prayer)

Sehen wir uns die einzelnen Songs ein wenig genauer an:

A Street Called Straight ist ein schleppender, sich aber langsam steigernder Song mit schrägen Blockflöten und viel Percussions, der sowohl an einen Bolero erinnert, als auch an mittelalterlichen Minnesang der psychoaktiven Art. Textlich ist es eine Ode an eine Straße.

Boule! Ist ein sehr schräger und unharmonischer Song über einen gar nicht folgsamen Hund namens (nein, nicht Schneckers) Boule, französisch für Kugel. Die Musik ist sehr rhythmusorientiert und besteht hauptsächlich aus Percussions. Der Text ist dreisprachig: Englisch-Deutsch-Französisch. Boule ist eine Coverversion eines 1979er Songs der französischen Avantgardeband Ptose. Der Bandname bedeutet soviel wie „hängendes Augenlid“.

The Elbow Is Taboo ist mit viel Drumcomputer unterlegt und weis tatsächlich eine Melodie auf. Der Song erinnert, trotz aller Schrägheit, an Godley & Creme (Ringo berichtete).

Hambu Hodo ist ein gut gelaunter Schlager aus einer anderen Dimension zum Mitsingen oder rhythmischem Tentakelklatschen mit viel unnennbarem Geschnatter zu Beginn. Was wie texlicher Nonsens wirkt, ist übrigens gar keiner: die Idee zum Text und dem Songtitel kam den Musikern, als sie an einer Imbissbude vorbeikamen, deren Leuchtreklame defekt war. Statt Hamburger & Hot Dogs leuchteten nur einzelne Buchstaben, sodass nur Hambu Ho Do zu lesen war. Ob der restliche Text ebenso gestaltet war, bleibt schleierhaft- RatL-Fans aber machen sich ein Vergnügen daraus, den Text zu entschlüsseln. Mit über 7 Minuten ist dies der längste Track des Albums. Der Song wurde tatsächlich auch als Single ausgekoppelt. Auf der B-Seite waren The Elbow is taboo + ein unveröffentlichter Song.

Seite 1 ist dann aus, also drehen wir die Platte mal um

Dance For Somnambulists ist ein Instrumental mit jazziger Gitarre und Rückwärtsloops. Bei diesem Song kann man übrigens sehr gut den Casio hören.

Here's To The Oblong Boys ist ein sehr langsamer und schleppender Song, träge und behäbig aus den Lautsprechern stapfend wie das musikalisches Abbild eines grasenden Mammuts. Auf die länglichen Jungs!

The Bread Song ist pseudojapanisch angehaucht und wegen der im Duett singenden Kopfstimmen etwas nervig. Textlich ist es eine Ode an das Brot.

Critical/Dance ist rhythmisch-stampfend mit viel Drums und Percussion, sehr abwechslungsreich aufgebaut und instrumentiert. Stellenweise erinnert der Sound ein wenig an die frühen Tuxedomoon, was hauptsächlich an der Klarinette liegt. Gegen Ende des Songs wird es zunehmend rhythmischer mit viel Geklatsche, Gestampfe und gesampelten Vocals.

Extracting The Re-Re (A Ritual Call To Prayer) ist sehr ähnlich wie die Oblong-Boys. Schleppend und langsam mit Drumcomputer im Hintergrund und Konservendosen-Percussion. Auch der Casio kommt wieder zur Geltung.

Die Platte fand 1989 ihren Weg über den Malibu-Versand zu mir. Cover und Bandname sprachen mich sofort an und so bestellte ich die Platte. Was soll ich sagen, ich war begeistert. Die Songs sind zwar sehr schräg, aber durchaus hörbarer als vieles der Residents. Fand auch meine damalige Freundin Birgit. Die war blond, sehr jung und sehr dumm. Aber auch ihr gefiel der Sound von Renaldo und seinem Brot. Hin und wieder sangen wir auch Hambu Hodo im Duett, nachdem wir uns an- und miteinander vergnügt hatten. Aber das gehört hier nicht her. Die Songs sind strukturiert, abwechslungsreich arrangiert und instrumentiert. Wenn man die Credits liest, könnte man denken, dass Brian und David Multiinstrumentalisten waren. Tatsächlich beherrschten beide aber nur die Gitarre und experimentierten mit den Möglichkeiten der Instrumente, die teilweise auch bewusst anders ge- und verstimmt wurden. Nur begnadete Dilettanten wie die beiden vermögen es, dennoch eine in sich strukturierte und logische Abfolge von Tönen, die in trotz aller Dissonanzen in harmonischer Wechselbeziehung stehen, zu erschaffen. The Elbow is taboo ist Vintage-Avantgarde, aber dennoch zeitlos und immer wieder neu. Auch wenn die Musik zwar nicht gefällt, sollte man den Musikern jedoch zugestehen, dass sie aufgrund der Tatsache, dass sie die verwendeten Instrumente überwiegend gar nicht beherrschten, dennoch strukturierte und abwechslungsreich aufgebaute Songs erschufen. Gleichzeitig aber ist anzumerken, dass die Tracks aufgrund dieses begnadeten Dilettantismus die Strukturen stark rhythmusbetont ausfallen, während richtige Melodien nur vereinzelt zu erkennen sind. Im Vergleich zu den Vorgängeralben wirkt die Platte reifer, durchdachter und auch hörbarer.

Was wurde aus den Beteiligten?

Kurz nach Erscheinen trennten sich die beiden Musiker und gingen eigene Wege. Brian und David veröffentlichten Solo-Alben, bis sie sich 2006 wieder zusammentaten, um eine RatL-Webseite zu erstellen. 2007 steuerten sie 3 Songs zum Film „Liberty Mug“ mit Kirk Mannican bei. Ein paar jahre später nahmen sie einen neuen Song auf, der auf einer Klanggalerie-Compilation erschien. 2016 kam es dann zu einer echten Reunion: Hurdy Gurding, ihr erstes RatL-Album seit fast 30 Jahren erschien. 2018 traten sie dann im Rahmen eines Klanggalerie-Events das allererste Mal live auf. Ein Jahr später erschien eine neue EP, 2020 2 Singles. 2022 erschien dann in Zusammenarbeit mit dem bereits erwähnten David Wroten ein Dokumentarfilm über das schräge Duo: Renaldo & The Loaf – 23rd Century Giants.

 

 © by Ringo Hienstorfer  (03/2024)

Das wars mal wieder für heute. Beim nächsten mal geht es um jazzspielende Schwertkämpfer.

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