Ringo`s Plattenkiste: The Horseflies - Human Fly
The Horseflies - Human Fly
Heute geht es um eine sehr ungewöhnliche Band, die kaum jemand kennen dürfte. Aber das ist ja Programm bei der Plattenkiste. Charakteristisch für sie war und ist die Kombination und Verschmelzung verschiedener und eigentlich gegensätzlicher Stile wie Industrial, New Wave und Folk.
Die Band wurde in den späten Siebzigern von Judy Hyman und ihrem Ehemann Jeff Claus in Ihaca im Staate New York gegründet. Judy ist die Tochter des Jazzmusikers und Pianisten Dick Hyman, der unter anderem an der Filmmusik zu Broadway Danny Rose und The purple Rose of Cairo beteiligt war, aber auch zuvor und danach mit dem Regisseur Woody allen zusammen arbeitete.
Die Band bestand aus zwei weiteren Mitgliedern, dem Bassisten John Hayward und dem Banjospieler Rich Stearns. Judy und Jeff verband eine große Liebe zur appalachian Music, die ich gerne ein wenig näher erklären möchte.
Die Appalachen sind ein Mittelgebirgszug, der sich über 2400km von Neufundland bis Alabama erstreckt. Ihren Namen haben sie vom indigenen Stamme der appalachee, der heute fast ausgestorben ist. Als sich die Siedler immer mehr ausbreiteten, waren die Appalachen die erste Hürde auf dem langen Weg in den bisher unerschlossenen Westen des riesigen Kontinents. Nachdem die Ureinwohner mehr oder weniger enteignet und vertrieben waren, entstanden erste Straßen und Eisenbahnstrecken und dem Vormarsch der weißen war nicht mehr aufzuhalten. Auf dem Weg nach Westen ließen sich zahlreiche Siedler in der Bergregion nieder, vornehmlich aus England und Schottland. Dort ansässig geworden, entwickelten sie schnell einen eigenen Dialekt, der aus der Verschmelzung der Sprachgewohnheiten entstand sowie eine ganz eigene Kultur und Musik. Die Musik der Appalachen ist sehr speziell und ein Konglomerat aus Musikstilen verschiedener europäischer Einwanderer sowie afrikanischer Musik. Es finden sich britische, irische und schottische Einflüsse, Kirchenmusik und afroamerikanischer Blues. Typische Instrumente waren neben der Gitarre das Banjo und die Dulcimer, die in den Appalachen zu einer eigenständigen Varietät avancierte: die appalachian Dulcimer, die sich vom europäischen Hackbrett durch seine Bauform unterscheidet. Gespielt wird sie durch Anzupfen einzelner Saiten, man kann aber auch ganze Akkorde greifen, wobei die melodie auf den höheren saiten gespielt und die tieferen als Bassbegleitung genutzt werden. Eine besondere Spielweise ist die Verwendung eines Bambusstäbchens, das, ähnlich wie bei der Slide Guitar, auf die saiten aufgesetzt wird und fließende Übergänge der einzelnen Töne ermöglicht.
In den USA erden die Appalachen gerne als Mountain Men bezeichnet, was bisweilen auch abwertend gemeint sein kann. Viele Menschen in den abgelegeneren Regionen stellen den Prototyp des Redneck dar, des minderbemittelten Hinterwäldlers. Aufgrund ihrer einmaligen Schönheit und des niedrigen Einkommens und somit des niedrigeren Lebensstandards der Bürger, dienten die Appalachen selbstverständlich als Kulisse für viele Filme. Teile von Blair Witch Project wurden dort gedreht, aber auch 28 Tage und Die Tribute von Panem. Besonders berühmt-berüchtigt wurde die Region durch John Boormans Beim Sterben ist jeder der erste, der das Klischee des tumben Hinterwäldlers auf die Spitze treibt.
Besonders bekannt dürfte die Szene sein, die Duelling Banjos genannt wird. Weil man in abgelegenen Bergregionen aber nicht nur Banjo spielt, Touristen jagt und vergewaltigt und gelegentlich zum Kannibalismus neigt, haben die Appalachen auch ihre eigenen Sagen und Legenden: Bigfoot und der Mothman haben dort ihren Wohnsitz:
Der Name Horseflies ist ein wenig unappetitlich, denn zu Deutsch bedeutet es Pferdebremsen. Abermals ein Grund, englische Bandnamen nicht zu übersetzen. Was die Musiker dazu bewogen hat, bleibt unklar. Eine Pferdebremse ist ein ziemlich großes Insekt, deren Weibchen sich von Blut ernähren. Ein Biss eines solchen Mädchens ist sehr schmerzhaft, was daran liegt, dass sie die Haut nicht mit einem scharfen Stachel durchstoßen, sondern mit ihren Beißzangen aufreißen, was zu starken Blutungen führen kann.
1983 erschien eine erste Single mit dem Titel „Money in both Pockets“, gefolgt von einem Split-Album mit der Band Chokers. Die Tompkins County Horseflies, wie sich die Band damals nannte, war mit ihren Songs auf der A-Seite vertreten. Den Chokers gehörte die Flipside. Die Songs sind im Vergleich zu unserer heutigen Platte fast lupenreiner Folk-Country. Banjo und Fiddle dominieren, auf Synthesizer wurde noch verzichtet.
1987 folgte ihr erstes eigenes Album mit dem Titel Human Fly. Und um dieses geht es heute. Aufgenommen wurde das Album im kanadischen Sounds Interchange Studio im Januar 1987 unter der Regie von Bill Usher. An den Reglern saßen Kevin Doyle und Michael Carmen Kelly.
Bill Usher war ein erfahrener Musiker, der sich auch als Produzent einen bescheidenen Namen gemacht hatte. Er war unter anderem Mitglied in der unbekannten Band Truck.
Die Besetzung sah aus wie folgt:
Judy Hyman: Fiddle
Rich Stearn: Banjo
Jeff Claus: Guitar, Synthesizer, Banjo-Ukulele
John Hayward: Bass
Unterstützt wurden die Vier von:
Brent Barkman: Synthesizer, Emulator
Bill Usher: Emulator, Tube Drums, African Beat Box, Congas, Clay Drums, Balliphone, Percussion
George Axon & Jamie Sulek: Macintosh Programming
Wieder mal ein wenig über die Instrumente:
Eine Fiddle ist eine ganz normale Geige und wird eben nur im Rahmen ihrer Verwendung in der Country- & Folkmusik Fddle genannt.
Ein Banjo ist ein Zupfinstrument mit einem sehr langen Hals und einemkreisrunden Resonanzkörper, dessen offene Oberseite mit einem Fell bespannt ist. Das Instrument wurde von den westafrikanischen Sklaven in die USA eingeführt, die traditionelle Instrumente wie das Xalam aus ihrer Heimat mitbrachten. Ein Banjo hat zwischen vier bis zu acht Saiten. Im Bluegrass und der Countrymusic ist das fünfsaitige Banjo aber am verbreitetsten. Die Stimmung des Instruments ist anders als bei der Gitarre.
Kommen wir nun zur Banjo-Ukulele, die, wie der Name schon verrät, eine Mischung aus den beiden bereits genannten Instrumenten ist. Stimmung und Bünde des viersaitigen Instruments entsprechen einer Ukulele. Durch die charakteristische Bauweise im Banjostil aber klingt das gespielte Instrument auch wie ein solches. Bekannte Spieler waren unter anderem Peter Sellers, Brian May und George Harrison.
Der Emulator, kurz EMU genannt, war einer der allerersten Sampler. Die ersten Modelle wurden von der Firma E-Mu ab 1981 in kleinen Auflagen gebaut und sollte dem damaligen Fairlight als einziger Sampler Konkurrenz machen. Und so baute man ihn kostengünstiger, um einen Kaufanreiz zu bieten. Allerdings waren seine Fähigkeiten im direkten Vergleich beschränkter. Mit dem EMU ließen sich nur die Samples wiedergeben, nicht aber bearbeiten und verändern.
Die von Bill Usher verwendeten Percussioninstrumente sind eine bunte Mischung wie z.B. Röhren- & Keramiktrommeln. Es verwendet aber auch den typisch afrikanischen Rhythmusgesang wie z.B. den der Massai. Da er auch den Emu bediente, stammen etliche Sounds auch vermutlich aus diesem Instrument.
Hier die Titel des Original-Albums:
Seite 1:
- Human Fly
- Hush little Baby
- Jenny on the Railroad
- Rub Alcohol Blues
- Cornbread
Seite 2:
- Who throwed lye on my Dog?
- I live where it`s gray
- Link of Chain
- Blueman´s Daughter
Human Fly erschien 1987 im damals üblichen Standard Sleeve. Das Frontcover zierte das Photo einer stark vergrösserten Pferdebremse aus der Harvard Universität, aufgenommen mit einem Elektronenmikroskop. Die Rückseite war – wie bei Type O Negative (Ringo berichtete) – in Grün und Schwarz gehalten. Dort waren auch dieLyrics und die Credits abgedruckt sowie ein Photo der Band.
Sehen wir uns die Songs ein wenig genauer an.
Interessant ist, dass die beiden Plattenseiten eigene Namen haben. Seite 1 heißt „The Spider ate my Husband“ und ist eine Textzeile aus dem ersten Song.
Human Fly ist eine Coverversion eines Songs der Cramps aus dem Jahre 1978. Die Horseflies machen aus dem Surf-Rockabillykracher aber etwas völlig anderes und eigenständiges. Aus den Tiefen der Lautsprecher nähert sich langsam und stetig lauter werdend eine Art rituelles Trommeln, begleitet vom Banjo, das hier aber ebenfalls auf die Rolle eines weiteren Rhythmusinstruments reduziert wird. Der Sound ist ätherisch und schwebend, die verschiedenen Instrumente umschwirren den Hörer wie ein Schwarm nervöser Fliegen. Das Banjo treibt den unruhigen Rhythmus voran, und auch Jenny mit ihrer Fiddle schließt sich dem Gesumme an, bricht aber immer wieder aus und zittert eine hektische Melodie dazu. Jeff Claus steigt erst ab knapp 3 Minuten ein und singt den schrägen Text im Duett mit Rich Stearns. In diesem Song kommt die Grandiosität des Produzenten Bill Usher voll zur Geltung, denn die Instrumente gehen Hand in Hand, ergänzen sich gegenseitig ohne sich in die Quere zu kommen. Der Song ist nach fast 6 Minuten ziemlich abrupt zu Ende.
Hush little Baby ist ein altes Schlaflied, vermutlich aus den Südstaaten der USA. Ein Vater versucht sein aufgeregtes Kind mit allerlei Versprechen ein wenig zu beruhigen. Um sicher zu gehen, dass dies auch auf jeden Fall funktioniert, hat er für jedes Versprechen gleichzeitig eine Alternative parat. Der Song beginnt mit rhythmischen Vintage-Synthesizersounds, unterlegt mit dezenten Percussions. Ganz im Hintergrund ist auch wieder das Banjo zu hören. Jennys Fiddle ist nur gelegentlich zu hören, vor allem in den Bridges. Der Takt ist zwar 4/4, ist aber eindeutig ein reggaeartiger Off-Beat.
Der Song ist extrem eingängig und wunderschön, man kann ihn einfach immer und immer wieder anhören (hier ist die Repeat-Taste der Fernbedienung von Vorteil). Instrumentiert ist der Song mit allerlei elektronischen Klangerzeugern, was ihn aber nicht steril oder kalt erscheinen lässt. Hier kommt Rich Stearns mit seiner sehr hellen Stimme voll zur Geltung. Hush wurde auch als Single ausgekoppelt. Ein echter Ohrwurm.
Jenny on the Railroad ist wieder ein traditionelles Lied, mit viel Fiddle und Banjo, sehr schnell im Tempo. Perfekt geeignet für einen zünftigen Appalachen- Squaredance!
Rub Alcohol Blues ist ein langsamer und schleppender Blues über einen Alkoholiker. Der Song beginnt mit Synthesizerschwaden, durchsetzt mit klagender Geige. Hier kommt erstmals eine Akustikgitarre zum Einsatz. Banjo und Geige spielen langsam und getragen, passend zum traurigen Text, den Jeff Claus mit gebrochener Stimme vorträgt. Im Hintergrund weht ständig ein unangenehmer Wind, der den Song auch ausklingen lässt.
Cornbread ist erneut ein Traditional, ein sehr kurzes Bluegrass-Stück.
Dann ist Seite 1 aus, drehen wir die Scheibe also um
Auch diese Plattenseite hat wieder einen eigenen Titel „Legs as white as priests´“
Who throwed lye on my Dog? beginnt mit einer dissonanten und moll-lastigen Geige, die aber schon bald zum Tanz aufspielt. Erneut ein sehr rhythmischer Song mit viel dezenten Percussions, der verschiedene Stile gekonnt verschmelzt.
I live where it`s gray ist ein industrialartiger Song mit sehr viel Synthesizer, der ein wenig an die Talking Heads oder Devo, aber auch an Pink Flodys Welcome tot he Machine erinnert. Im Hintergrund wummert morlockartig der monotone, maschinenartige Rhythmus, während ihn Tablas, Banjo und Fiddle hektisch begleiten. Diesem Song wurde übrigens der Titel der Plattenseite entnommen. Mit über 8 Minuten ist er der längste des Albums.
Link of Chain Zu diesem Song hat die kanadische Geigerin Lisa Ornstein die Musik geschrieben, der Text stammt von Jeff Claus. Wieder ein klassisches Bluegrass-Stück.
Blueman´s Daughter beendet das Album mit einer langsamen und melodischen Ballade.
Und dann ist diese tolle und sehr abwechslungsreiche Scheibe schon aus.
Human Fly erschien als CD mit einem anderen Cover sowie auf Cassette.
1991 erschien mit Gravity Dance das Nachfolgealbum, das mich aber nicht überzeugen konnte. was in erster Linie an der Mainstreamanbiederung mit gelegentlichen Pop-Anleihen und vor allem an dem unangenehm trockenen Drumsound lag. In erster Linie war dies wohl dem neuen Produzenten, Hilton Rosenthal, geschuldet.
2000 und 2008 erschienen zwei weitere Alben, gefolgt von einer Kompilation im Jahre 2015. Die Band besteht auch weiterhin und tritt gelegentlich auf. Ansonsten widmeten sich die Musiker ihren Soloprojekten. Die Besetzung wechselte ein wenig. So stieß ein fester Drummer als Ersatz für Bill Usher hinzu sowie ein neuer Bassist nach Haywards Tod.
Ich entdeckte diese Band 1988 rein zufällig, als ich spät nachts mal Radio hörte. Und da lief Hush, little Baby. Der Song setzte sich fest und ließ mich nicht mehr los, sodass ich mich in den nächsten Tagen auf zum Müller-Markt machte, wo es die Scheibe tatsächlich gab. Anfangs beschränkte ich mich beim Hören in erster Linie auf Hush little Baby und I live where it`s gray, doch inzwischen finde ich, dass man die Platte ganzheitlich betrachten muss, um ihr gerecht zu werden.
Was wurde aus den Beteiligten?
Judy Hyman arbeitete und tourte zusammen mit Rich Stearns immer wieder mal mit Nathalie Merchant, die früher Mitglied bei den 10.000 Maniacs war. Judy schreibt auch Musik fürs Fernsehen und gewann sogar einen Emmy. Vor ein paar Jahren veröffentlichte sie ein gemeinsames Album mit ihrem vater, Dick.
Rich Stearns tourte wie bereits erwähnt ebenfalls mit Nathalie Merchant und veröffentlichte einige Soloalben.
Jeff Claus ist zusammen mit seiner Frau Mitglied bei der Band Boy with a Fish und musiziert als Duo mit Ihr unter dem Namen Judy & Jeff.
John Hayward verstarb 1997 überraschend an Krebs.
© by Ringo Hienstorfer (01/2025)
Das wars mal wieder für heute. Beim nächsten Mal geht es um einen Musiker, der die Größe von Kate Bush, die Statur von Arnold Schwarzenegger hat, wie Elvis singt und gelegentlich klassische Musik macht.