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Leser fragen ... Dietmar Kuegler zum Wilden Westen und US-Geschichte

Leser fragen ....... Dietmar Kuegler ...
... zum Wilden Westen und US-Geschichte

Unsere Leser haben die Gelegenheit ergriffen, Fragen an Dietmar Kuegler zu stellen. Der Autor, Verleger und Experte für die Geschichte des amerikanischen Westens (bisher letztes Buch zum Thema Wagenspuren nach Westen) hat sich wieder einmal die Zeit genommen, ausführlich zu antworten.

Im dritten und letzten Teil geht es um die Geschichte des Westens ...

 

Zauberspiegel-Leser: Welchen Einfluss hat der US-Bürgerkrieg heute noch für den Westen?
Dietmar Kuegler: Auf den amerikanischen Westen hat der Bürgerkrieg heute kaum Einfluss. Die Ereignisse haben sich ja überwiegend im Osten und in den Südstaaten abgespielt. Es gab einige wenige bemerkenswerte Kämpfe in den westlichen Staaten, etwa in New Mexico, wo Kit Carson in der Schlacht am Glorietta Pass den Einmarsch der Konföderierten in den Südwesten stoppte.
In einigen Goldrauschgebieten gab es politische Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Nord- und Südstaaten, etwa in der Region von Bannack in Montana, wo bestimmte Siedlungen wie die „Yankee Flats“ auf die politische Einstellung der Bewohner hinwiesen. Aber insgesamt gesehen hat der Westen von diesem furchtbaren Krieg wenig mitbekommen.
In der Folge sind allerdings viele ehemalige Soldaten nach Westen gezogen, um aus der Kriegsregion wegzukommen und ein neues Leben zu beginnen. Auch befreite schwarze Sklaven sind in Trecks nach Westen gezogen und haben eigene, rein schwarze Siedlungen gegründet. Davon gibt es heute nur noch eine einzige, Nicodemus in Kansas, die als Ganzes unter Denkmalschutz gestellt wurde. Die anderen schwarzen Niederlassungen haben sich im Laufe der Jahre vermischt, und man weiß kaum noch, dass es sich um Gründungen von ehemaligen Sklaven gehandelt hat.

Kuegler am Grab von Jesse James in Kearny, Missouri Zauberspiegel-Leser: Manchmal erscheint es, als wäre dieser Krieg ein Krieg der Individuen gewesen: u. a. Davies, Lee, Longstreet, Hood, und u. a. Lincoln, Grant, Chamberlain, Buford, Sheridan. Inwieweit ist der Eindruck richtig?
Dietmar Kuegler: Der Bürgerkrieg war ein Krieg der Massen, ein Volkskrieg, der erste in der Militärgeschichte. Aber wie auch heute noch, fokussierte sich schon damals die Berichterstattung auf hervorragende Persönlichkeiten. Und natürlich haben die genannten Personen sehr starken Einfluss gehabt.
Wenn man ein solches Ereignis populär darstellen will, muss man einzelne Profile herausgreifen. Die anonyme Masse kann schwer Anteilnahme erzeugen. Personen wie Lee, Lincoln, Grant, Sheridan hatten die Befehlsgewalt, sie haben die Richtung vorgegeben, und ihre Persönlichkeiten haben daher die Vorgänge maßgeblich geprägt. Aber die eigentliche Last des Krieges trug natürlich die Bevölkerung bzw. der Soldat.

Zauberspiegel-Leser: Der Bürgerkrieg war auf der einen Seite ein Krieg, der sehr altertümlich geführt wurde und so beinahe zum Schlachten geriet. Auf der anderen Seite zeigte er bei der Belagerung von Vicksburg Züge, die die Schlachtfelder des 1. Weltkriegs vorwegnahmen. Da gab es Schützengräben und Bunker.
Dieser Krieg scheint eine Art Zwitter gewesen zu sein. Einer, der Tradition und Moderne mischt. Ist diese Beobachtung richtig? Hätten europäische Militärs daraus lernen können?

Dietmar Kuegler: Die in der Frage implizierten Voraussetzungen sind nur begrenzt richtig. Der Bürgerkrieg wurde nur in der Anfangsphase „altertümlich“ geführt. Sehr schnell stellte sich heraus, dass man vor einer Zeitenwende stand. Tatsächlich ist das „Schlachten“, wie Sie es nennen – ein Zeichen für „moderne“ Kriegsführung. Die altertümliche Art waren die „begrenzten Kriege“, bis etwa Mitte des 19. Jh. Damit war gemeint, dass die militärischen Führer darauf aus waren, Verluste zu vermeiden, weil die Ausbildung von Soldaten teuer war und Menschen nicht unbegrenzt verfügbar waren. Ferner fanden Kämpfe in der Zeit der „begrenzten Kriege“ in der Regel abseits der Wohnstätten der Bevölkerung statt. Die Einbeziehung der Bevölkerung in einen Krieg durch Plünderungen, Konfiszierungen, Vertreibungen wurde als unzivilisiert angesehen (auch wenn es solche Exzesse natürlich manchmal gab).
Im Bürgerkrieg dagegen wurde der Mensch zur Verfügungsmasse, wie Schlachten wie Gettysburg oder Antietam zeigten, in denen Verluste von 20.000 oder 30.000 Mann ohne größere Schwierigkeiten (zumindest im Norden) ersetzbar waren. Es kam zu massiven Übergriffen auf die zivile Bevölkerung.
Hinzu kam eine Revolution in der Bewaffnung und der übrigen Militärtechnik. Land- und Wasserminen, Luftbeobachtung durch Ballons, verheerende Artilleriegeschosse, die nach und nach die Vollkugeln ersetzten. Massenfabrikation von Revolvern und Gewehren mit gezogenen Läufen. Repetierwaffen wie der Spencer. Fließbandmanufaktur von Uniformen und Lederteilen, gepanzerte Schiffe, U-Boote. Der Telegraph als modernes Kommunikationsmittel, die Eisenbahn als entscheidendes Logistikinstrument. Schützengräben, Bunker …
Es zeigte sich im Laufe der Kriegsjahre, dass derjenige gewinnen würde, der mit dieser neuen Form der Kriegsführung am besten umgehen konnte. Das waren die Nordstaaten mit ihrem ungeheuren Industriepotenzial, die schon vor dem Bürgerkrieg den Weg zu einer industrialisierten Massengesellschaft angetreten waren, und das waren Männer wie Grant, Sherman und Sheridan, die als Pragmatiker den Wandel des militärischen Komplexes erkannten und nutzten, und die Menschen und Materialien entsprechend einsetzten. Nicht umsonst nennen Militärhistoriker General Grant den „ersten modernen General der Weltgeschichte“. Das wird auch durch seine Memoiren bestätigt, in denen er sein Credo mit großer Sachlichkeit und Offenheit formuliert hat.
Das europäische Militär hat viel aus dem Bürgerkrieg gelernt. Während dieser Krieg in Berlin, London oder Paris in der Anfangsphase noch mit Arroganz und Amüsement betrachtet wurde, zeigte der Verlauf des Krieges den europäischen Militärs die Bedeutung der technischen und logistischen Entwicklung. Alle Länder Europas schickten schließlich Kriegsbeobachter, die detaillierte Studien für die europäischen Militärakademien erarbeiteten und die Erfahrungen des US-Bürgerkrieges umsetzten. Aus Deutschland war der Graf von Zeppelin als Beobachter aufseiten des Nordens; die Luftbeobachtung mit Ballons soll ihm die Ideen für sein späteres Luftschiff gegeben haben.
Im Süden hielt sich Major Justus Scheibert im Auftrag des preußischen Generalkommandos auf. Ich darf dabei einschieben, dass ich das Glück hatte, Scheiberts Enkel kennnenzulernen – einen General der Bundeswehr -, der mir den handschriftlichen Originalbericht seines Großvaters für die preußische Militärführung zur Verfügung stellte, sodass ich ihn aus Sütterlin-Schrift in den Computer übertragen und als Buch herausbringen konnte („Im Feldlager der Konföderierten“). Also, um die letzte Frage zu beantworten: Ja, der Bürgerkrieg war militärstrategisch und -taktisch richtungsweisend, und ja, die europäischen Armeen haben aus dem Bürgerkrieg der Amerikaner gelernt. Vieles wurde im 1. und 2. Weltkrieg umgesetzt.

Zauberspiegel-Leser: Die Zeit nach dem Bürgerkrieg ist die Zeit der meisten Westernromane und die Zeit des Wilden Westens. Warum? Gibt es dafür historische Gründe?
Dietmar Kuegler: Nach dem Bürgerkrieg setzte eine stürmische Endphase der Besiedelung ein. Die transkontinentale Eisenbahn wurde fertiggebaut. Das Bundesheimstättengesetz lockte Hunderttausende in den mittleren Westen. Die Machtkämpfe zwischen den großen Ranchern und den nachdrängenden Kleinsiedlern begannen. Städte formten sich. Das große Rindertreiben setzte von Texas aus ein. Die Abschlachtung der Bisons begann, die Verdrängung der Indianer in Reservationen – die Zeit zwischen 1865 und 1900 war eine Zeit des Umbruchs. Die Menschen, die sie beherrschten, hatten den Bürgerkrieg hinter sich gebracht, der ihre Lebenseinstellung geprägt hatte. Sie waren vermutlich härter geworden. Ihre Bewaffnung war besser als die der ersten Kolonisten. Der Colt-Revolver verbreitete sich ebenso wie der Unterhebelrepetierer. Die technischen Errungenschaften des Krieges griffen ins Zivilleben ein und sorgten für eine rasante Weiterentwicklung der Gesellschaft.
Die Eroberung des Westens war ein Sturmlauf, eine Phase der Umwälzung. Menschen wurden gefordert, bis an ihre Grenzen zu gehen. Sie konnten ihre Fähigkeiten, ihre Kreativität, ihre Energie ungehemmt entwickeln. Es war eine vibrierende, eine fiebrige, eine unbeherrschte Zeit, aber auch eine vitale Zeit voller Chancen und Möglichkeiten. Eigentlich kein Wunder, dass gerade diese Ära den Westernroman dominiert. Die typischen Bilder der Western-Geschichte, die Reiter mit den großen Hüten, den Revolvern an den Hüften und Winchestergewehren im Scabbard, stammen aus dieser Zeit.

Kuegler beim Radio-Interview mit einem amerikanischen Sender in Minnesota. Neben ihm der langjährige Darsteller von Jesse James, Chip DeMann Zauberspiegel-Leser: Wie gesetzlos war der Wilde Westen wirklich? Flog wirklich das heiße Blei permanent durch die Luft? Gibt es Zahlen, die das bestätigen oder widerlegen?
Dietmar Kuegler: Es gibt einige Zahlen, Kriminalstatistiken. Danach war die Gewaltkriminalität im amerikanischen Osten, in Städten wie New York, Chicago und Boston proportional höher als in den westlichen Siedlungsgebieten.
Wie bei vielen Ereignissen – historisch oder aktuell – spielt der subjektive Eindruck eine große Rolle bei der Beurteilung einer Lage. Die Tatsachen sind häufig nicht allein ausschlaggebend.
Im Westen war jeder bewaffnet. Konflikte wurden oft mit der Faust gelöst. Aber – wie schon in einem vorherigen Interview ausgeführt – es gab Gesetze und Regeln, und diese wurden mit mehr oder weniger großer Energie umgesetzt. Die Tatsache, dass in einigen Gebieten Viehdiebe gehängt wurden – so lange, bis das formale Gesetz greifen konnte -, die ständige Präsenz von Waffen, die das äußere Bild bestimmte, veranlasste fremde Beobachter dazu, mehr Gewalt zu sehen als eigentlich vorhanden war.
Sie konnten tatsächlich in einer Kleinstadt an der westlichen Grenze meist genauso friedlich leben wie heute in einem deutschen Dorf. Ausnahmen bestätigen die Regel: Tombstone war so eine Ausnahme, aber auch hier entwickelte sich trotz aller Gewalt eine kulturelle Szene, Frauenvereine, Kirchengemeinden, Theaterclubs usw.

Zauberspiegel-Leser: Was versteht man unter einem Weidekrieg? Und gab es die Rivalitäten zwischen Ranchern und Farmern oder Rinder- und Schafzüchtern wirklich?
Dietmar Kuegler: Weidekriege hatten verschiedene Ursachen. Es konnte sich um die Fehde zweier großer Viehzüchter handeln, die miteinander rivalisierten. Es konnte um die Auseinandersetzungen zwischen Heimstättensiedlern und einem Großrancher gehen, der die „freie Weide“ für sich beanspruchte, während die Heimstätter sich auf das Gesetz beriefen, das ihnen Parzellen zusicherte. Es konnte um den Zugang zu den wertvollen, weil wenigen, Wasserstellen gehen. Und natürlich lagen sich Rinder- und Schafzüchter in den Haaren. Das war z. B. Hintergrund der Tonto-Basin-Fehde in Arizona oder des vielleicht letzten großen Weidekrieges der Pionierzeit in Wyoming, in den Tom Horn (der Kopfgeldjäger) involviert war, wo es sowohl um den Konflikt Großrancher gegen kleine Viehzüchter und Rancher gegen Schafzüchter ging. Dann ging es auch um den Stacheldraht, dessen Aufkommen die Zeit der „freien Weide“ beendete und eine Zeit der „Fence-Cutter-Kriege“ auslöste.
Bedenken Sie, dass die ersten Siedler und Rancher sich oft irgendwo in der Weite des Westens niederließen und etwas aufbauten, als es noch keine vermessenen Landkarten gab. Dann kamen die Landvermesser der Regierung, teilten das Areal in Parzellen ein, und plötzlich waren diese von frühen Siedlern – Squatters genannt – geschaffenen Weiden und Felder Regierungsland und mussten bezahlt und registriert werden. Taten sie das nicht, hatten sie keine Eigentumsrechte mehr, und jeder nachfolgende Kolonist konnte ihnen den Besitz streitig machen. Das führte selbstverständlich zu Auseinandersetzungen.
Die Motive waren vielschichtig: Persönliche Existenzsorgen spielten eine Rolle, handfeste wirtschaftliche Gründe, aber auch politische Machtfragen; denn die staatlichen Strukturen drangen immer weiter nach Westen vor, und es war bedeutsam, welche Partei in einer Stadt, einem County oder einem Bundesstaat das Sagen hatte. Der Lincoln County Krieg etwa – in dem Billy the Kid bekannt wurde – war ein Konflikt um politische und wirtschaftliche Macht; das Frachtmonopol im größten Verwaltungsdistrikt New Mexicos, das Monopol für Warenlieferungen. Es ging auch um politische Ämter – Richter, Abgeordnete, Regierungsteilhabe.

Zauberspiegel-Leser: Ein gängiges Klischee des Westerns ist der einsame Mann, der eine Stadt von Outlaws säubert und dann im Sonnenuntergang verschwindet. Gab es das wirklich? Wie ist da die Wahrheit hinter den Geschichten?
Dietmar Kuegler: Es gab herausragende Persönlichkeiten, die sich als Ordnungshüter profilierten. Bill Tilghman war so ein Mann, Virgil Earp auch. In der Regel konnten diese Männer sich aber nur durchsetzen, wenn die Bevölkerung hinter ihnen stand. Allein hatten sie wenig Chancen.
Die Western-Pioniere waren wehrhafte Menschen. Wenn sie in ihrer Existenz bedroht wurden, wenn ihre Familien bedroht wurden, schlossen sie sich schnell zur Gegenwehr zusammen. Sie verließen sich nicht allein auf staatliche Gewalt, die als zu schwerfällig galt. Spektakulärste Beispiele dafür waren der Kampf der Bürger von Northfield (Minnesota) gegen den Banküberfall der Jesse-James-Bande oder der Widerstand der Bürger von Coffeyville (Kansas) gegen die Dalton-Gang. Den einsamen Kämpfer hat es ab und zu gegeben – in einem der vorhergehenden Interviews habe ich Sheriff Perry C. Owens in Arizona erwähnt. Aber eben weil diese Erscheinung so selten war, wurden diese Männer zu Legenden, zum Vorbild für fiktive Handlungen. Genau deshalb wurden sie in Filmen und Romanen wieder und wieder hervorgehoben, bis der Eindruck entstand, es hätte Hunderte von ihnen gegeben. Dazu gehörten auch die Texas Rangers, die zwar in Kompanien organisiert waren, aber wegen ihrer geringen Zahl häufig nur einzeln oder zu zweit auftauchten. Daher das geflügelte Wort „One Riot – One Ranger“; etwa frei übersetzt „ein Ranger ist genug für einen Unruheherd“. Tatsächlich haben einzelne Rangers mehrfach einen ganzen Mob in ihre Schranken gewiesen.
In jedem Fall war der einsame Held Stoff für spannende Geschichten, in der Realität aber eine seltene Erscheinung.

Zauberspiegel-Leser: Von Little Big Horn hat man so viele Versionen gesehen, dass es mir schwerfällt, die Wahrheit dahinter zu finden. Wie dämonisch war Custer? Wie normal war er? Warum ist dieses Scharmützel (oder war es doch eine Schlacht) so legendär?
Dietmar Kuegler: Es war in der Tat eine Schlacht. Auch wenn die frühen Zahlen alle maßlos übertrieben waren, standen sich wohl um die 1.500 kämpfende Krieger und rund 600 Soldaten gegenüber. Wenn hinterher über 300 Soldaten – aus Custers und Renos Kommando zusammen – tot und wohl über 100 Indianer gefallen sind, kann man nicht mehr von einem „Scharmützel“ reden. Dazu tobte der Kampf auf einem Areal, das einen Durchmesser von mehr als 10 km hat – eine unglaubliche Dimension für einen Indianerkampf.
Wenn meine Frau und ich unsere kleinen Reisegruppen zum Little Big Horn bringen, stehen ALLE Teilnehmer jedes Mal fassungslos inmitten des Schlachtfeldes, weil ihnen die tatsächliche Größe aufgrund von Literatur nie bewusst geworden ist. Alle theoretischen Spekulationen verstummen plötzlich, und Erklärungen sind fast nicht mehr nötig, angesichts des zerklüfteten, sich riesig ausdehnenden Hügellandes oberhalb des Flusses, wo man bis zum Horizont die weißen Marksteine aus dem Büffelgras aufragen sieht, die die Fundstellen von Leichen kennzeichnen. Klischees und Legenden lösen sich in Nichts auf. Schon die Anfahrt, Meile um Meile entlang des Little Big Horn, löst Erschrecken aus. Das Schlachtfeld liegt ja auf der Reservation der Crow-Indianer; daher ist das Land bis heute ziemlich frei von jeder Besiedelung – von dem großen Spielkasino der Crow und einigen Geschäften neben der Interstate-Autobahn abgesehen.
Es war die größte Einzelniederlage der US-Armee im Westen, und das auch noch im Jahr des 100. Jubiläums der Staatsgründung. Dazu war Custer eine ungemein populäre Gestalt, der von der Presse zum erfahrensten „Indianerkämpfer“ des Landes stilisiert worden war – was natürlich Unsinn war. Das war ein nationaler Schock.
Custer war kein Dämon. Das Problem ist, dass er durch seine herausragende Rolle in der Armee des Bürgerkrieges und danach bei der Bildung der Nachkriegsarmee die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit auf sich zog wie kaum ein Zweiter und durch die entsetzliche Niederlage am Little Big Horn zu einem Symbol der Indianerkriegszeit geworden ist. Das hat seine tatsächliche Persönlichkeit verzerrt und ihm auch eine Bedeutung gegeben, die ihm eigentlich gar nicht zukam. Allerdings: Er hatte durchaus Charisma und wirkte durch seine Persönlichkeit mehr als durch seine Taten.
Er war vor allem ein Kind seiner Zeit, geprägt vom Eroberungsgeist der Kolonialära, als die westliche Zivilisation, nicht selten gepaart mit missionarischem Eifer, sich über alle eingeborenen Völker der Welt erhob und ihre Existenz als Menschen infrage stellte. Dabei war Custer bei Weitem nicht der Schlimmste. Er war kein Fanatiker, wie etwa General Carleton im Südwesten, der für die grausame Unterwerfung der Navajo verantwortlich war.
Seine komplexe Persönlichkeit machte ihn zu einer Gefahr für sich selbst und andere. Er war leidenschaftlicher Militär und zugleich disziplinlos und individualistisch. Von ärmlicher Herkunft, war die Ausbildung in West Point zum Offizier die größte Chance seines Lebens. Das Leben beim Militär gefiel ihm. Er konnte seine angeborene Waghalsigkeit und Abenteuerlust austoben. Die Truppen, die er führte, verehrten ihn zum großen Teil sogar. Er war eine absolute Führungspersönlichkeit. Schillernd, eitel, arrogant, selbstgefällig, aber auch intelligent, tapfer und ein fähiger Offizier. Seine Leistungen im Bürgerkrieg waren bemerkenswert und rechtfertigten seinen hohen Rang. Dagegen waren die meisten seiner Offiziere nicht gut auf ihn zu sprechen, weil er rücksichtslos seine Selbstdarstellung betrieb und alle anderen immer in den Schatten stellen wollte.
Das Militär hatte in den USA im 19. Jh. einen schlechten Ruf – entgegen der Filme von John Ford, in denen die Armee verherrlicht wird. Das war nicht die Realität. Die Armee war schlecht ausgebildet, schlecht versorgt, miserabel bezahlt. Aber extrovertierte Figuren wie Custer und seine Frau genossen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Angesichts der kleinen US-Armee in den Indianerkriegen – die Mannschaftsstärke lag bei kaum 25.000 Mann – waren die wenigen Planstellen für höhere Offiziersränge umkämpft. Custer bewegte sich auf einer Ebene mit Männern wie Miles, Mackenzie, Merrill. Sie alle hatten im Bürgerkrieg Profil gewonnen und wollten jetzt wieder in die Führungsspitze. Mackenzie endete als Krüppel in einem Militäraltersheim, und Miles wurde letztlich Oberkommandierender der US-Armee. So, wie diese beiden ihre Kommandos führten, hätten sie ebenso wie Custer enden können. Sie alle standen unter größtem Erfolgsdruck. In den niedrigeren Rängen war es nicht viel besser, wenn man sich Major Reno, Captain Benteen und andere Stabsoffiziere anschaut; für eine Beförderung im Rang mit mehr Sold und besserem gesellschaftlichem Ansehen hätten diese Männer eine ganze Menge, wenn nicht alles getan.
Bestimmte Motivationen oder Denkmuster wird man heute nicht mehr klären können. Sie bleiben spekulativ. Die Fakten um Little Big Horn aber sind weitgehend geklärt, sowohl durch das Studium von Armeeakten, als auch durch Aussagen von Teilnehmern (aus den Reno-Kompanien) oder von Indianern, sowie durch gründliche archäologische Untersuchungen des Schlachtfeldes. Man kennt heute die genauen Ausmaße des Indianerdorfes, kann anhand dessen die Zahl der Bewohner ziemlich exakt berechnen und von daher die Zahl der Krieger festlegen, die tatsächlich am Kampf teilgenommen haben. Man weiß, welcher Truppenteil wo gekämpft hat.
Der Mythos, dass ein Häuflein tapferer Kämpfer für die Zivilisation gegen mehr als 10.000 brüllende Krieger untergegangen ist, ist schon seit den 1930er-Jahren nicht mehr zu halten gewesen – allein, weil ein Dorf mit 10.000 Kriegern die Ausmaße einer Großstadt wie Berlin eingenommen hätte. In jedem Zelt gab es maximal 2 kampffähige Männer, alle anderen Bewohner waren Frauen, Kinder und Alte. Also so groß, um so viele kämpfende Krieger auf einem Haufen zusammenzubringen, waren die beteiligten Stämme nicht mal als Ganzes. Diese gigantische Zahl wurde jahrzehntelang verbreitet, weil man sich nicht eingestehen wollte, dass ein „Held“ wie Custer einer Horde „Wilder“ militärisch nicht gewachsen gewesen war. Erst in den letzten Dekaden hat die offizielle Geschichtsschreibung die Ehrlichkeit gewonnen, das Versagen des Militärkonzepts am Little Big Horn einzugestehen und die realen indianischen Zahlen zu akzeptieren.
Was auch in Amerika nur zögernd akzeptiert wurde ist die Tatsache, dass mit Custer ein militärisches Konzept in den Indianerkriegen scheiterte. Ich habe darüber in Miltärmagazinen geschrieben. Custer hatte sich am Little Big Horn genauso verhalten, wie er es in West Point gelernt hatte. Little Big Horn stellte also eine ganze Strategie infrage. Deshalb wurde jahrzehntelang mit falschen Zahlen operiert, um ihn entweder zum Märtyrer zu verklären oder ihm die alleinige Schuld an dem Desaster in die Schuhe zu schieben. Die Diskussion darüber wurde in den USA in Fachmagazinen schon vor 25 Jahren geführt. In Europa ist diese komplexe und nicht unkomplizierte Sachlage bei den meisten Autoren bis heute nicht angekommen.

Zauberspiegel-Leser: Gibt es Zahlen darüber, wie viele Siedler auf dem Weg nach Westen umgekommen sind? Wie waren die Trecks organisiert? Wer bestimmte über die Landnahme?
Dietmar Kuegler: Es gibt Zahlen, die auch recht exakt sind, weil die Armeeschreiber in den Militärposten, bei denen die Trecks rasteten und sich ausrüsteten, genau Buch geführt haben. Man weiß also sehr genau, wie viele Wagen und Personen seit den 1830er-Jahren an Fort Laramie vorbeigezogen sind, wie viele irgendwann zurückgekommen sind, weil sie auf dem Weg gescheitert sind, und wie viele Oregon oder Kalifornien erreicht haben – weil sie sich auf den Landbüros melden mussten, um Parzellen zu beantragen.
Unterscheiden muss man allerdings, wie viele Siedler durch Krankheit und Unfälle ums Leben kamen und wie viele durch Gewalteinwirkung umgekommen sind.
Fangen wir mit letzteren an: Durch Indianerkämpfe sind zwischen 1840 und 1860 auf dem Treck nach Oregon 362 weiße Personen ums Leben gekommen – dagegen verloren 426 Indianer in solchen Kämpfen ihr Leben.
Schaut man sich diese Zahlen an, bekommt man bereits ein Bild von der maßlos übertriebenen Gewalt im Westen; denn es sind zwischen 400.000 und 500.000 Menschen – je nachdem, wie lange man den Zeitraum der Trecks verfolgt – im Planwagen nach Westen gezogen. Die tödlichen Auseinandersetzungen mit Indianern hatten Seltenheitswert.
Nimmt man allerdings die Krankheiten und Unfälle – es gab z. B. verheerende Infektionen, Pocken, Cholera usw. – hinzu, haben etwa 10% der Menschen, die nach Westen aufbrachen, ihr Leben verloren.

Zauberspiegel-Leser: Was macht den Westen für die Amerikaner und was für die Europäer so legendär?
Dietmar Kuegler: Das würde ich auch gern wissen, weil rein historisch, streng sachlich betrachtet, die kolonialen Eroberungen in Afrika und Asien nicht weniger spannend und ereignisreich waren.
Aber ich bin ja selbst der Faszination des Wilden Westens verfallen – und ich weiß nicht, warum. Ich habe Karl Mays Romane gelesen. Das war die Initialzündung. Ich habe jedoch auch die Orientromane Mays gelesen – und finde diese heute in der Rückschau eigentlich sogar besser –, ohne dass ich je das Bedürfnis hatte, mich belletristisch oder sachlich mit dieser Region auseinanderzusetzen.
Ich kann nur spekulieren: Der amerikanische Westen hat immer die Aura der Freiheit verbreitet, anders als andere Kolonialgebiete der Welt. Frühe Autoren und Reisende haben die Größe dieses Gebiets als gleichbedeutend mit der Grenzenlosigkeit der physischen und geistigen Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen in diesem geografischen Raum dargestellt. Im Zeitalter der Romantik wurden die Indianer als unverdorbene Naturvölker, die „edlen Wilden“ verherrlicht, die sich in einem Garten Eden auf Erden bewegten.
Später, realistischer, wurde Amerika das Land der Religionsfreiheit. Die vielen religiösen Sekten und Freikirchen in Europa, die von ihren Staaten unterdrückt wurden, fanden hier Freiheit. Menschen, die in ihrer Heimat zu verhungern drohten, die aufgrund ihrer Herkunft sozialen und gesellschaftlichen Beschränkungen ausgesetzt waren, konnten hier Besitz und Wohlstand erwerben. Politische Beschränkungen gab es ebenfalls nicht.
Ich vermute daher, dass es vor allem dieser allumfassende Traum von der großen Freiheit war, der den amerikanischen Westen so attraktiv gemacht hat. Sich auf ein Pferd zu schwingen und dem Sonnenuntergang entgegenzureiten, alle wirtschaftlichen, sozialen und bürokratischen Zwänge einfach hinter sich zurücklassen zu können – das ist ein starkes Bild, das eine unstillbare Sehnsucht auslöst. Auch wenn es niemals ganz realistisch war. Aber der Mensch braucht Träume, um die Bedrückungen seiner Umwelt zu ertragen, und der amerikanische Westen hat, mehr als jedes andere Land, diese Träume geliefert.

Leser fragen Dietmar Kügler zu ...
... Wilden Westen und US-Geschichte

Kommentare  

#1 Alter Hahn 2012-04-25 03:47
Wildwest-Romane hat mein Vater vorgelesen, als wir noch keinen Fernseher hatten. Das waren natürlich Romanhefte. Und mein erster Film war auch ein Western. Durch den Film "Der Gebrochene Pfeil" wurde ich dann zum Indianerfreund - was ich heute noch bin.
Ganz klar, dass ich mich mit der Geschichte des "wilden" amerikanischen Westens beschäftigt habe - und in meiner Bibliothek finden sich bei ca. 1,30m Sachbücher zum Thema auch einige Sachbücher von Dietmar Kügler.
Ich habe mir auch immer eingebildet, mich gut in der Western-Geschichte auszukennen....bis heute, nachdem ich diese Zeilen gelesen habe. Jetzt weiß ich erst so richtig, wo bei mir die Lücken des Wissens sind. Allerdings - da sind noch einige ungelesene Bücher zum Thema in meinen Regalen - weil ich immer gehofft habe, mal richtige "Western" schreiben zu können. Nur waren dort eben damals wie heute keine Möglichkeiten... sollte ich sie mal haben, ist die Sekundär-Literatur zur Hand.
Ich habe eben beim Lesen noch eine ganze Menge gelernt. Cheerio, Cowboy. Vielleicht kreuzen sich unsere Fährten ja mal...und deine Bücher habe ich gelesen - und zwar schon vorher!!!
#2 Thomas Tippner 2012-04-25 10:14
Danke für das ausgesprochen interessante Interview.
Gibt es das Buch "Im Lager der Konföderation" noch zu kaufen? Bei Amazon habe ich es nicht gefunden.
#3 Dietmar Kuegler 2012-04-25 10:59
Das Werk "Im Feldlager der Konföderierten" ist leider nach 4 Auflagen nicht mehr lieferbar. Die Nachfrage hatte zuletzt stark nachgelassen. Leider. Sollte sie wieder anziehen, werde ich eine 5. Auflage in Erwägung ziehen.
#4 Thomas Tippner 2012-04-25 12:13
Schade. Aber wenn das Buch wieder zu haben ist, wäre eine Notiz hier im Zauberspiegel wunderbar.
#5 Dietmar Kuegler 2012-04-25 14:37
Mir ist aufgefallen, daß ich die Frage nach der Organisation von Trecks nicht beantwortet habe.
Die frühen Trecks bedienten sich in der Regel landeskundiger Führer, meist ehemaliger Mountain Men. Und sie waren sehr groß. Bis zu 1.000 Menschen. Rollende Städte. Man lernte aber rasch, daß diese Trecks zu schwerfällig und die vielen Menschen und Tiere schlecht zu versorgen waren. Es entwickelten sich daher im Laufe weniger Jahre kleinere Einheiten, maximal 5 bis 20 Wagen. Diese Züge waren überschaubar und beweglicher und leichter mit Wasser, Gras und Wild zu versorgen.
Führer wurden irgendwann auch nicht mehr gebraucht; zum einen gab es spätestens seit der Fremont-Expeditionen gute Landkarten und Wegbeschreibungen, zum anderen nahm die Zahl der Trecks derartig zu, daß man nur den Spuren der Vorgänger folgen mußte - das kann man theoretisch heute noch in einigen Gebieten. Ca. 400 Meilen Wagenspuren sind bis heute deutlich sichtbar in einsamen Gebieten erhalten. Wenn sich eine Treckgemeinschaft zusammengefunden hatte, wurde nur noch ein Leiter gewählt, wie in einer Gemeinde ein Sprecher, ein "Bürgermeister", o. ä., der allgemein wichtige Entscheidungen zu treffen hatte, etwa über den nächsten Lagerplatz, die Einteilung von Wachen, usw., der für den Zusammenhalt sorgen, auch Streitigkeiten schlichten sollte. Wenn die Trecks es schafften, die Rockies zu überqueren und Oregon zu erreichen, rollten sie alle nach Oregon City, weil sich dort das einzige öffentliche Landbüro des Nordwestens befand. Hier hingen die Vermessungskarten der Parzellen dieser Region. Hier ließen die Siedler sich eintragen und erhielten Parzellen zugewiesen.

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