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Der Schlaf der Vernunft

cover schlaf der vernunftDer Schlaf der Vernunft                                         

Von Enki Bilal und Pierre Christin

Im spanischen Bürgerkrieg metzeln Falangisten die Einwohner eines ganzen Dorfes nieder. 40 Jahre später nehmen ergraute, ehemalige Interbrigadisten die Spur der Täter auf. Sie liefern sich eine Verfolgungsjagd quer Europa, doch die moralische Integrität der Verfolger bleibt auf der Strecke, bis es schließlich zum finalen Showdown kommt.

Im Jahr 1938 liefern sich im spanischen Bürgerkrieg die faschistischen Falangisten einen Kampf mit den linken internationalen Brigaden um das Dorf Nieve. Die Bewohner des Dorfes stehen auf Seiten der internationalen Brigaden und werden von den Falangisten niedergemetzelt, als diese den Ort besetzen.

40 Jahre später neigt sich die Franco-Diktatur dem Ende entgegen und der ehemalige Brigadenkämpfer Pritchard erhält von einem alten Mitstreiter die Nachricht, dass die Falangisten aus Nieve wieder aktiv sind. Pritchard aktiviert die alten Kameraden, um die Faschisten für ihre Taten büßen zu lassen. Gemeinsam nehmen sie die Verfolgung ihrer alten Feinde auf.

In Italien kommt es bei einer Kundgebung einer linken Gruppierung zu einem ersten Zusammenstoß der beiden Fraktionen. Die Falangisten entführen einen Abgeordneten, der als Redner bei einer Veranstaltung auftritt. Es kommt zu einer Schießerei, bei der alle Beteiligten entkommen können. Im Nachhinein können die Falangisten den Verdacht von sich lenken und die Öffentlichkeit glaubt, dass die Brigadisten den Abgeordneten entführen wollen.

Es beginnt eine Verfolgungsjagd quer durch Europa, bei der der eigentliche Konflikt zwischen Falangisten und Brigadisten für die Öffentlichkeit keine Rolle mehr spielt. Unbemerkt kämpfen alte Männer einen Krieg weiter, der eigentlich schon längst beendet ist.

In den Niederlanden kommt es schließlich zum Showdown. Die Brigadisten erstürmen das Versteck der Falangisten und es kommt zu einer Schießerei, bei der fast alle Beteiligten ums Leben kommen. Einzig Pritchard überlebt die Kämpfe und versteht erst sehr viel später die Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens.

Schlaf der Vernunft SeiteFazit

Enki Bilal und Pierre Christin haben in dem 70er und 80er Jahren eine Reihe von Comic-Politthrillern entwickelt. Wie die meisten Künstler in Frankreich, beginnen die beiden ihre Karrieren als Comicschaffende bei dem einflussreichen Magazin Pilote. Gemeinsam bringen sie in den Jahren 1975 bis 1977 drei Alben heraus, die sich zwar verkaufen, aber nicht den erhofften Erfolg bringen. Im Jahr 1979 erscheint der vorliegende Band „Der Schlaf der Vernunft“ und bedeutet für Enki Bilal den großen Durchbruch. Er wird noch viele erfolgreiche Comics schreiben und zeichnen, wie etwa Treibjagd oder die Trilogie um Alexander Nikopol, deren erster Band im Jahr 1981 erscheint.

Bilals Zeichnungen haben eine hohen Wiedererkennungswert und bleiben dem Leser im Gedächtnis. Seine neueren Arbeiten, wie etwa die Monster-Tetralogie, wirken eher wie ein Gemälde. Seine Zeichnungen aus den 70ern und 80ern wirken düsterer und dystopischer. Gekonnt vereint er, wie in der vorliegenden Geschichte, realistische und fantastische Komponenten und erschafft so eine eigene Welt. Seine präzise Linienführung und die Auswahl der dunklen Farben verleihen den Charakteren eine außergewöhnliche Ausdruckskraft.

Pierre Christin ist zu dieser Zeit bereits ein bekannter Szenarist. Zusammen mit seinem Freund aus Kindestagen, Jean-Claude Mezieres, veröffentlicht er die sehr erfolgreiche Science-Fiction Serie „Valerian & Veronique“. In einem Interview merkte Christin an, dass der Bekanntheitsgrad eines Szenaristen im Comicbereich zur damaligen Zeit immer hinter dem eines Zeichners zurückstand. Erst mit den gemeinsamen Arbeiten Enki Bilals trat er als Person in der öffentlichen Wahrnehmung verstärkt in den Blickpunkt.

Comics sind in erster Linie ein visuelles Medium. Die Ausgaben mit Bilal behandeln vor allem gesellschaftspolitische Themen und damit rückt seine Arbeit als Autor in den Mittelpunkt. Es ist kein Zufall, dass sich Pierre Christin in seinen Arbeiten mit politischen Themen auseinandersetzt. Er graduierte an der Universität in Paris im Bereich Politikwissenschaften und wurde später Professor an der Universität von Salt Lake City, wo er französische Literatur unterrichtete. Bereits seine ersten Arbeiten mit Mezieres für „Valerian & Veronique“ weisen Zusammenhänge zu politischen Themen auf. Die Geschichten mit Bilal rücken die politischen Inhalte noch weiter in den Fokus und werden damit zu wahren Politthrillern.

Im Vorwort seines autobiografischen Comics „Ost-West“ verknüpft Christin seine politische Entwicklung eng mit der Lage im kalten Krieg. Er ist hin und her gerissen zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten. Er bereist die Länder beider Systeme in den 60er Jahren und schärft seinen Blick auf den Teil der Systeme, in dem Menschen unterdrückt und ausgebeutet werden und sich ggf. zur Wehr setzen müssen.

Zu Beginn der Geschichte erlebt der Leser in einer Rückblende die Ereignisse im Jahr 1938 in Nieve mit. 40 Jahre später erhält Pritchard einen Hinweis auf die Täter und trommelt die Jungs von damals nochmal zusammen. Alle sind sich einig, dass die Falangisten für ihre Taten büßen müssen. Was zuerst wie ein gerechtfertigter Racheakt wirkt und beim Leser nach den ersten Seiten Solidarität erzeugen mag, entwickelt sich immer mehr zu einem sinnlosen Unterfangen. Den Brigadisten kommen keine Zweifel auf, dem Leser wird allerdings von Seite zu Seite mehr klar, dass die alten Männer einfach hätten zu Hause bleiben sollen. Nur Maria, die einzige weibliche Brigadistin der Gruppe, erkennt die Sinnlosigkeit und verlässt ihre alten Freunde.

Auf ihrer Jagd durch Europa kommen die Brigadisten in Kontakt mit anderen linken Gruppen. Die haben sichtlich kein Interesse an diesem Konflikt, der schon über 40 Jahre zurückliegt, denn sie haben ihre eigenen Konflikte und Gegner. Bei den Brigadisten machen sich zudem körperliche Beschwerden bemerkbar, so dass die Jagd nach den Falangisten von Seite zu Seite absurder erscheint.

Bei genauerer Betrachtung sind die Methoden der Brigadisten von denen der Falangisten im Laufe der Geschichte nicht mehr zu unterscheiden und die Verfolgungsjagd verliert ihre moralische Begründung und verkommt zu einem reinen Racheakt. Sie greifen zur Waffe und eröffnen das Feuer. Als Ihnen das Geld ausgeht, investieren sie an der Börse in zwielichtige Aktiengeschäfte. Sie verdienen Geld mit den Methoden, deren Vertreter sie damals in Spanien bekämpft haben und die sie heute noch verfolgen. Kurzfristig unterbrechen sie ihre Jagd am Genfer See in einem Altenheim und geben sich den Annehmlichkeiten des Lebens hin. Besonders deutlich wird die Doppelmoral an dem Priester der Gruppe, der sich nach Jahren der Enthaltsamkeit endlich in einem Bordell vergnügen will.

In den Niederlanden prallen die beiden Gruppen endlich aufeinander. Die Brigadisten können den Unterschlupf der Falangisten ausmachen und setzen zum Sturm an. Es kommt zu einem Gemetzel, bei dem alle Beteiligten getötet werden.

Nur Pritchard überlebt die Schießerei und zweifelt über sein Tun. Er fühlt sich alt und allein. Er hat die Schuld auf sich geladen und seine Freunde in den Tod geführt. Er ist derjenige, der die Verfolgungsjagd begonnen hat. Tragischerweise ist er der Einzige, der diesen Kampf überlebt. Die Jagd und die finale Auseinandersetzung bleiben von der Öffentlichkeit unbemerkt. Da bis auf Pritchard Niemand überlebt, gibt es auch Niemanden, mit dem er einen Sieg genießen könnte.

Der Titel „Der Schlaf der Vernunft“ ist der Bezeichnung eines Kunstwerkes des spanischen Künstlers Francisco Goya entliehen. Die Radierung aus dem Jahre 1798 zeigt den schlafenden Goya, der von einer Vielzahl von Tieren und Monstern umgeben ist. Das Bild soll sinnbildlich zeigen, was passiert, wenn ein Künstler nicht wachsam ist und sich von seinen Gefühlen überwältigen lässt. Es fordert zur Wachsamkeit auf, da die Ungeheuer der Ignoranz sonst nicht bekämpft werden können (Interpretation des Bildes nach Eleanor Axson Sayre). Auf der Radierung befindet sich der Satz „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Christin und Bilal haben diesen Satz ihrer Comicgeschichte vorangestellt.

In der vorliegenden Geschichte lassen sich die Brigadisten von ihren Gefühlen der Rache leiten und lassen in keinem Augenblick Zweifel an ihrem Tun zu. Die Vernunft schläft und sie rasen ungebremst in ihr eigenes Verderben. Christin und Bilal haben einen eindrucksvollen Comic vorgelegt, der in keiner Sammlung fehlen sollte.

Der Schlaf der Vernunft
Hardcover Ausgabe

Erscheinungsdatum: 1997
Preis: 34,80 DM

Autor: Pierre Christin
Zeichner: Enki Bilal

Ehapa Comic Collection

 

Kommentare  

#1 matthias 2024-01-04 23:17
Danke für die Warnung vor diesen politischen Comics!
Mir reicht schon das tägliche TV-Programm von den ÖRR.
Wenn Comics, dann Western, oder Phantastik.
Aber jeder, wie er es mag.
#2 William 2024-01-14 12:13
Die gemeinsamen Comic von Bilal und Christin (und einiger anderer Künstler, versteht sich) haben meiner Meinung nach viel dazu beigetragen, dass der Comic als ernsthaftes Medium immer mehr Akzeptanz fand.

Das von Bilal allein geschaffene dreiteilige phantastische Comicwerk 'Alexander Nikopol' etablierte ihn dann auch als Autor. Die ersten beiden Bücher der Triloge setzte Bilal dann (2004) auch noch selbst in einen Film um: 'Immortal – New York 2095: Die Rückkehr der Götter.'

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