Die einzige Zeugin - »Tiger Bay«
Viele Kritiker sind der Ansicht, dass „Tiger Bay“ der beste Film seines Regisseurs J. Lee Thompson ist, doch das ist etwas kurz gegriffen. Der 1914 in Bristol geborene Engländer begann seine Regiekarriere mit leichten Unterhaltungsfilmen mit Norman Wisdom oder Margaret Rutherford, inszenierte um 1960 herum aber einige sehr sehenswerte und äußerst spannende Filme. Dazu zählt nicht nur „Tiger Bay“, sondern auch der gerade erstmals auf BluRay erschienene „Brennendes Indien“, der Kriegsfilmklassiker „Die Kanonen von Navarone“ oder der Thriller „Ein Köder für die Bestie“, von dem Martin Scorsese rund 30 Jahre später das Remake „Kap der Angst“ inszenierte. Lediglich am Ende seiner Karriere in den 1980er Jahren sank die Qualität der Filme J. Lee Thompsons, der dann gerne mit Charles Bronson („Der Liquidator“, „Murphys Gesetz“) arbeitete, oder mit seinen Actionvehikeln („Quatermain – Auf der Suche nach dem Schatz der Könige“ oder „Die Feuerwalze“) erfolgreiche Vorbilder wie die „Indiana Jones“-Filme von Steven Spielberg auf billige Weise zu kopieren versuchte. „Tiger Bay“ ist die stimmungsvolle und exzellent besetzte Verfilmung von Noël Calefs Kurzgeschichte „Rodolphe et le Revolver“, die Mitte der 1980er Jahre unter dem Titel „Ich kenne den Mörder“ auch in der DDR ausgewertet wurde und dafür eine neue deutsche Synchronisation verpasst bekam.
Bronislaw Korchinsky (Horst Buchholz) ist ein polnischer Seemann mit britischem Pass, der gerade wieder von einer Fahrt nach Cardiff zurückgekehrt ist. Dort führt es ihn schnurstracks zu seiner Verlobten Anya (Yvonne Mitchell), die allerdings nicht mehr in der bisherigen Wohnung bei Dr. Das (Marne Maitland) anzutreffen ist. Korchinsky entdeckt sie in einem heruntergekommenen Mietshaus und muss erkennen, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den beiden, bei der sich Schüsse aus dem Revolver lösen, mit dem Anya Korchinsky bedroht hatte. Das kleine Nachbarmädchen Gillie (Hayley Mills) hat die Tat durch den Briefschlitz beobachtet und bringt den Revolver an sich, nachdem Korchinsky diesen über dem Gaszähler im Treppenhaus versteckt hat. Da Anyas Leiche schnell gefunden wird, übernimmt alsbald Inspector Graham (Sir John Mills) die Ermittlungen im Mordfall. Gillie schweigt sich über die Identität des Mörders aus, da sie Korchinsky sehr sympathisch findet und auch schon kurz vor der Tat kennengelernt hatte. Nachdem sie anschließend in der Kirche im Chor bei einer Hochzeit gesungen hat, kehrt sie nicht mehr nach Hause zurück. Nur der Zuschauer weiß zu diesem Zeitpunkt, dass sie in die Hände Korchinskys gefallen ist, der die einzige Zeugin seiner Tat nicht so ohne weiteres wieder gehen lassen will.
Ein von J. Lee Thompson unglaublich intensiv inszenierter Thriller, eingefangen in atmosphärisch stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Bildern von Eric Cross. Das intelligente Drehbuch zeichnet insbesondere die drei Hauptfiguren sehr facettenreich und lebensecht, und Horst Buchholz sowie Hayley und John Mills stellen diese sehr glaubwürdig dar. Die Sympathien des Publikums werden dabei schon sehr früh auf die tragische Figur des Seemanns gelenkt, den nicht nur die jugendliche Protagonistin in ihr Herz schließt. Bis zum Ende abwechslungsreich und kurzweilig, hat der Film über all die Jahrzehnte nichts von seiner Faszination eingebüßt. Die DVD-Wiederveröffentlichung in der Reihe „Pidax Film-Klassiker“ bietet ein gutes Bild (im Vollbildformat 1,33:1) und einen stets gut verständlichen Ton (Deutsch und Englisch in Dolby Digital 2.0). Dabei kommt die für die Kinoauswertung 1959 in Hamburg entstandene Synchronfassung zum Einsatz. Als Extras gibt es einen Audiokommentar mit Hayley Mills, einen kurzen Drehbericht (3 Minuten) in Englisch, den britischen Originaltrailer und eine umfangreiche animierte Bildergalerie. Zusätzlich finden sich im DVD-Rom-Teil der Scheibe weitere Werbematerialien zum Film in einem 18seitigen PDF. Als Booklet hat man auch noch den verkleinerten Nachdruck der vierseitigen „Illustrierten Film-Bühne“ (Nr. 4867) beigefügt, die zahlreiche Fotos, eine umfangreiche Inhaltsangabe sowie Angaben zu den deutschen Synchronsprechern der Kinofassung enthält.