Nestor, Tom: Phänomen
»Phänomen« beginnt damit, dass eine Gruppe von Studenten in der Sahara einen geheimnisvollen Baum entdeckt. Als sie sich diesem nähern, stoßen sie auf eine Reihe verwitterter Gesteinsbrocken, die mit rätselhaften Schriftzeichen versehen sind. Da geschieht ein folgenschweres Unglück, und der Fund gerät in Vergessenheit.
Zwei Jahre später wird der Entomologe Dr. Tom O'Connor zu einer Forschungsstation im afrikanischen Dschungel gerufen. Hier haben einige Wissenschaftler eine spektakuläre Entdeckung gemacht: Eine gewaltige Ameisenkolonie, deren Mitglieder sich nicht nur aus Völkern zusammensetzen, die sich normalerweise nicht vertragen, sondern die zudem noch ein erstaunliches Maß an Intelligenz aufweisen.
Bevor sich Tom intensiver mit der faszinierenden Ameisenkolonie auseinandersetzen kann, wird er bereits zu einem neuen Auftrag beordert in eine Forschungsstation inmitten der Sahara. Hier stößt der Insektenforscher auf etwas, das nicht minder spektakulär ist wie die Ameisenansiedlung im Dschungel. Doch noch ehe O'Connor seine Entdeckung in ihrer ganzen Tragweite erfassen kann, geraten er und seine Kollegen in größte Gefahr: ein Saboteur wurde in die Forschungsanlage eingeschleust und zudem sehen sich die Wissenschaftler im Visier hochintelligenter Ameisen, die sich von den Menschen bedroht fühlen und diese Bedrohung restlos auszulöschen gedenken ...
In »Phänomen« kombiniert Tom Nestor Elemente aus dem Bereich der Religionsthriller mit solchen aus dem Genre der Wissenschaftsthriller. Das Ergebnis ist ein packender Spannungsroman, der die stärken beider Genres (kirchliche Verschwörungen, mysteriöse Überlieferungen aus dunkler Vergangenheit, wissenschaftliche Erkenntnisse, mörderische Sabotageakte und ähnliches) in sich vereint.
Dass »Phänomen« trotz all seiner Vorzüge letzten Endes kein restlos überzeugendes Werk geworden ist, liegt vor allem an zweierlei: am viel zu raschen Voranschreiten der Handlung und am enttäuschenden Schluss des Buchs.
Was das Voranschreiten der Handlung anbelangt: Nestor legt ein rasantes Erzähltempo an den Tag. Positiv gesprochen sorgt das dafür, dass zu keiner Zeit Langeweile aufkommt. Negativ äußerst sich das hohe Tempo allerdings dahingehend, dass der Autor nur einen Bruchteil des Potenzials, das der Story innewohnt, ausnutzen kann. Die Handlung springt von einem Ereignis zum nächsten, spektakuläre Entdeckungen und dramatische Wendungen reichen sich die Klinke in die Hand. Emotionale Tiefe kommt dadurch ebenso wenig auf wie ein Gefühl der Bedrohung (wobei sich das Albtraumszenario um die Gefahr, die von den intelligenten Ameisen ausgeht von Nestor im Übrigen überraschend glaubwürdig in Szene gesetzt geradezu anbietet für eine düster-spannungsvolle Atmosphäre).
Was den Schluss des Romans angeht, will, ich an dieser Stelle nicht allzu viel verraten. So viel sei allerdings gesagt: Das Ende kommt allzu abrupt, wirkt ziemlich an den Haaren herbeigezogen und lässt viel zu viele Fragen offen. Ein befriedigender Abschluss sieht anders aus.
Man sollte »Phänomen« trotz dieser Mängel aber keinesfalls abschreiben. Nestors Thriller ist nämlich in jedem Fall ein Werk, das seine Leser zu fesseln versteht.
Das beginnt schon mit der Story des Romans. Mag diese auch deutlich zu schnell voranschreiten, so weiß sie doch durch eine Fülle hochdramatischer Wendungen und origineller Ideen zu überzeugen. Besonders gelungen ist dem Autor, wie zuvor schon angedeutet, die Verquickung der Bestandteile von Religions- und Wissenschaftsthrillern. Nestor schafft es, tatsächlich nur das beste aus beiden Genres herauszuziehen und in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu stellen. Ob man nun eher ein Fan von Dan Brown und Raymond Khoury oder doch eher von Michael Crichton und Preston & Child ist, »Phänomen« begeistert beide Leserschaften.
Nicht herausragend, aber dennoch gelungen ist die Zeichnung der Charaktere. Viele der auftauchenden Protagonisten (besonders die Wissenschaftler in der Sahara-Forschungsstation sowie die Verschwörer auf kirchlicher Seite) wirken ein wenig stereotyp. Trotzdem sind sie allesamt lebendig ausgestaltet und vermögen die Handlung mühelos zu tragen.
Das Buch an sich ist hervorragend geschrieben. Schon nach wenigen Zeilen ist man mitten im Geschehen drin und hat im Grunde keine Lust mehr, das Buch vor dem Ende der Geschichte aus der Hand zu legen. Dazu trägt (so negativ es in anderer Hinsicht auch sein mag) natürlich auch das hohe Erzähltempo bei. Pausen oder gar Lücken gibt es nicht. Immer stürmen neue Erkenntnisse auf den Leser ein, immer gilt es etwas Neues zu entdecken oder eine neue Wendung zu verarbeiten.
»Phänomen« ist ein etwas oberflächlicher, nichtsdestotrotz aber packender Thriller mit origineller Grundprämisse, der zum Ende hin zwar spürbar abfällt, zuvor allerdings vorzüglich zu unterhalten weiß. Wer denkt, dass man Religions- und Wissenschaftsthrillern keine neuen Facetten mehr abgewinnen kann, den belehrt Nestors Werk eines Besseren. Spannende Lektüre für alle Leser von Michael Crichton, Thomas Thiemeyer und James Rollins.