Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 16: Friedrich de la Motte Fouqué: Undine (1811)
Teil 16:
Friedrich de la Motte Fouqué: Undine
(1811)
Der Stern des Brandenburger Autors mit französischen Wurzeln ging schnell auf. Zunächst wurde er mit seinem Faible fürs Romantische von allen Seiten hofiert – Goethe und August Wilhelm Schlegel plauderten mit ihm, und in seinen Haus in der Nähe von Rathenow waren regelmäßig die Stars der Künstlerszene jener Tage zu Gast. Besonders gern gesehen: Der Pionier der dunklen Phantastik in Deutschland, E.T.A. Hoffmann. Beide verband bald eine Freundschaft.
Motte Fouqué führte ein für seine Zeit recht modernes Leben. Seine Frau, Caroline de la Motte Fouqué, schenkte den Romantikergästen nicht nur den Tee ein, sondern war selbst eine erfolgreiche Autorin herrlich düsterer Romane. Sie sind, trotz einiger vielversprechender Titel („Magie der Natur“ etwa) keine phantastischen Romane im eigenen Sinne, faszinieren aber bis heute durch ihren dunklen, beklemmenden Tonfall.
Motte Fouqué galt zusammen mit Ludwig Tieck als ganz große Hoffnung der Deutschen Hochliteratur. Doch nach einer gewissen Zeit gingen die Kritiker der ambitionierten Blätter zu ihm auf Distanz. Irgendwas stimmte nicht mit seinen Werken. Der äußeren Form nach blieben sie der Romantik verhaftet, doch ein seltsamer Tonfall, eine gewisse erzählerische Haltung, ein eigentümlich reißerischer Aufriß der Plots entfremdete sie den Schriftstellern der ersten Garde. Dafür fanden seine Bücher plötzlich bei der breiten Masse reißenden Absatz. Nicht ohne Neid stellt Heinrich Heine fest, das Motte Fouque der einzige deutsche Romantiker war, der zum Bestsellerautor avancierte. Was war geschehen?
Motte Fouqué hatte den Fantasy-Roman erfunden.
Natürlich nicht vorbildlos – vieles fand sich schon in alten Legenden und den mittelalterlichen Schriften von Ariost und Tasso. Doch das Rezept des Autors brachte alles auf eine Weise zusammen, die neu war für die deutsche Unterhaltungsliteratur. Er vermengte die Rittergeschichte mit der Märchenwelt. Versetzte mythische Reiche mit magischen Zutaten. Tat also genau das, was High-Fantasy-Autoren heute auch noch tun.
Und so lesen sich schon die Titel vieler seiner Werke erstaunlich vertraut für einen Fantasy-Freak:
Da wäre seine Dramentrilogie „Der Held des Nordens“, die man als erste Fantasy-Dramen überhaupt einstufen kann (Teil 1: Sigurd, der Schlangentöter, Teil 2: Sigurds Rache, Teil 3: Aslauga) und Romane wie „Der Zauberring“ und „Der Todesbund“.
Die Ablehnung durch Teile der intelligenten Oberschicht war nicht nur darauf zurückzuführen, dass ein Autor aus ihren Reihen in die Trivialliteratur überlief – damals war allerdings auch das schon ein unerhörter Skandal. Viele witterten in der Heroisierung des Rittertums eine versteckte Propaganda für ultrakonservative Werte – Verharmlosung des Absolutismus, Verneinung der Aufklärung, Verherrlichung des Katholizismus. Und mit Blick auf die späten Romane hatten die liberalen Kritiker damit auch gar nicht so Unrecht.
Undine ist ein wunderbares Übergangswerk – es ist deswegen so einzigartig in der deutschen phantastischen Literatur, weil es alle kontrastreichen Einflüsse der der Zeit, triviale und kanonische, märchenhafte und moderne, vollkommen und bruchlos zu einem Ganzen zusammenfügt, und das in einer Sprache von so blendender Schönheit, dass auch der größte Feind der Unterhaltungsliteratur hier nichts zu finden vermag, das er bemäkeln könnte.
Der kleine Roman beginnt wie ein typisches Märchen – den Leser sanft einwiegend in dem Glauben, hier eine Kindergeschichte erzählt zu bekommen:
Es mögen nun wohl schon viele hundert Jahre her sein, da gab es einmal einen alten guten Fischer, der saß eines schönen Abends vor der Tür und flickte seine Netze. Er wohnte aber in einer überaus anmutigen Gegend. Der grüne Boden, worauf seine Hütte gebaut war, streckte sich weit in einen großen Landsee hinaus, und es schien ebensowohl, die Erdzunge habe sich aus Liebe zu der bläulich klaren, wunderhellen Flut in diese hineingedrängt, als auch, das Wasser habe mit verliebten Armen nach der schönen Aue gegriffen, nach ihren hochschwankenden Gräsern und Blumen und nach dem erquicklichen Schatten ihrer Bäume.
Aber schon hier trickst Motte Fouqué mit einem reizvollen Stilmittel – was sich wie eine lyrische Metapher liest, erweist sich bald als Bedrohung in ganz wörtlichen Sinne. Das Wasser, belebt von Dämomen, greift nicht nur symbolisch, sondern sehr direkt mit verliebten Armen nach dem Land.
Das Unheimlich-Magische des Romans basiert auf einer genialen Idee des Autors, die er aus mittelalterlichen esoterischen Schriften aufschnappte und effektvoll ausschlachtete. Die alten vier antiken Elemente der Welt, Feuer, Wasser, Luft und Erde, werden demnach von Wesen regiert, die zwar sehr mächtig sind und nicht vernichtet werden können, aber dennoch auf ihr Wirkungsfeld beschränkt bleiben. Sie sorgen für den harmonischen Lauf der Welt, und sind demzufolge weder gut noch böse, sondern seelenlose Kreaturen. Reizt und ärgert man sie aber, können sie infernalische Rache üben.
Die Wasserdämonen heißen Undinen.
Manchmal, sehr selten, verlieben sich Undinen in Menschen. Haben sie mit Menschen sexuellen Verkehr, geht ein Teil der Menschen-Seele auf sie über. Damit verlieren sie aber auch Teile der magischen Kräfte und leben als eine Art Zwitterwesen an der Seite ihrer Geliebten weiter. Weder Mensch noch Dämon, fristen sie oft ein klägliches Dasein, besonders wenn die Menschen sie nicht mehr lieben.
Eine solche Dämonin – hier exemplarisch Undine genannt – ist aus Mitleid zu einem alten Fischerehepaar gegangen. Denn dessen echte Tochter Berthalda ist als Baby in den Fluß gefallen und weggespült worden. Die Eltern halten sie für tot. Weil Wasser-Chef-Dämon Kühleborn ein schlechtes Gewissen wegen dieses selbstverschuldeten Betriebsunfalls plagt, sendet er Undine als Ersatzkind zu den verbitterten Eltern. Berthalda wird aber herausgefischt und als Hofdame auf der Burg erzogen. Der Ritter Huldbrand verirrt sich bei einem Abenteuer in die Fischerhütte und verliebt sich in Undine. Beide lieben sich, sie lassen sich von einem alten Dorfpriester trauen, und er nimmt sie mit in die Stadt. Dort kocht das reiche Fräulein Berthalda vor Wut – es hat sich selbst Hoffnungen auf den Ritter gemacht. Aus falschem Mitleid und in dem Glauben, die verbitterte Frau damit zu erfreuen, enthüllt Undine die wahre Herkunft des Mädchens, das ja eigentlich eine arme Fischerstochter ist. Berthalda ist zutiefst gedemütigt, ihre ganze Karriere ist im Eimer, und den Mann ihrer Träume hat sie auch verloren...
Bisher klingt das alles noch recht konventionell, doch nun nimmt der Roman eine völlig unerwartete und eine für seine Zeit, ach was sag ich, für alle Zeiten erstaunliche Wendung. Der Ritter Huldbrand ist nämlich von der Enthüllung Undines so betroffen und von der seelisch völlig zerrütteten Berthalda so eingenommen, dass er sich von Undine abwendet und sich in Berthalda verliebt. Jetzt erleben die drei eine sonderbare Menage a trois. Berthalda und Huldbrand werden immer intimer. Und Undine nimmt es leidend hin, denkt aber nicht daran, die Burg zu verlassen, weil sie beide, den Ritter und Berthalda liebt. Doch Huldbrand wird immer brutaler und misshandelt seine Frau zuweilen. Undine bittet ihn, sie niemals in der Nähe von Gewässern zu demütigen, weil das den Zorn der Wasserdämonen auslösen würde. Doch auf einem Rhein-Ferien-Ausflug verliert Huldbrand die Nerven, verflucht Undine und stößt sie in die Fluten. Daraufhin beginnt ein Horror-Trip für ihn – eine Flucht vor allen Gewässern. Selbst auf den Brunnen in seinem Burghof muß er einen Mühlstein legen.
Doch seine neue Braut Berthalda hält das für alberne Vorsichtsmaßregeln. Sie braucht ständig viel Wasser für ihre Kosmetik und Bäder – sie ist inzwischen eitel und schnippisch geworden. Sie läßt am Hochzeitstag (denn nun triumphiert sie und kann nach Undines Verschwinden ihren Ritter selbst heiraten) den Stein entfernen. Und natürlich kraucht dann Schreckliches herauf ins Schloß...
Der Ritter aber hatte seine Diener entlassen. Halbausgekleidet, im betrübten Sinnen, stand er vor einem großen Spiegel; die Kerze brannte dunkel neben ihm. Da klopfte es an die Tür mit leisem, leisem Finger. Undine hatte sonst wohl so geklopft, wenn sie ihn freundlich necken wollte. – »Es ist alles nur Phantasterei!« sagte er zu sich selbst. »Ich muß ins Hochzeitbett.« – »Das mußt du, aber in ein kaltes!« hörte er eine weinende Stimme draußen vor dem Gemache sagen, und dann sah er im Spiegel, wie die Tür aufging, langsam, langsam, und wie die weiße Wandrerin hereintrat und sittig das Schloß wieder hinter sich zudrückte. »Sie haben den Brunnen aufgemacht«, sagte sie leise, »und nun bin ich hier, und nun mußt du sterben.«
Und so kommt es denn auch.
Furios, dieses Stück Literatur! Die Verflechtung von Natur und Geisterwelt ist hier einzigartig gelungen, die Belebtheit der Welt durch Dämonen ist selten wieder, nicht einmal bei Hoffmann und Hauff, so enervierend bedrohlich eingefangen worden. Zum andern wird hier ohne Wertung erzählt, mit einer gewissen Wehmut zwar, doch keinerlei moralischer Zeigefinger erhebt sich. Beunruhigend allerdings ist die berühmte und vielzitierte Stelle im dreizehnten Kapitel, wo Motte Fouqué plötzlich aus seiner distanzierten Haltung springt und mit einem Schmerzensschrei einige Episoden ausläßt, so als reiße ihm der Geduldsfaden:
Der diese Geschichte aufschreibt, weil sie ihm das Herz bewegt und weil er wünscht, daß sie auch andern ein Gleiches tun möge, bittet dich, lieber Leser, um eine Gunst. Sieh es ihm nach, wenn er jetzt über einen ziemlich langen Zeitraum mit kurzen Worten hingeht und dir nur im allgemeinen sagt, was sich darin begeben hat.(...) – man könnte dies alles, weiß der Schreiber, ordentlich ausführen, vielleicht sollte man's auch. Aber das Herz tut ihm dabei allzu weh, denn er hat ähnliche Dinge erlebt und scheut sich in der Erinnerung auch noch vor ihrem Schatten. Du kennst wahrscheinlich ein ähnliches Gefühl, lieber Leser, denn so ist nun einmal der sterblichen Menschen Geschick. Wohl dir, wenn du dabei mehr empfangen als ausgeteilt hast, denn hier ist Nehmen seliger als Geben.
Das, kann man sich vorstellen, versetze Biographen in helle Aufregung. Verbirgt sich hinter der Geschichte gar ein persönlicher Schlüsselroman? Gab es auch in Motte Fouques Leben eine amouröse Dreiecksbeziehung, die tragisch endete? Das wird wohl, trotz wortreicher Spekulationen, etwa bei Arno Schmidt, nie geklärt werden, macht das Buch aber natürlich noch interessanter.
Die Wirkung war enorm. Trotz der Ablehnung durch die „hohe“ Kritik war das Werk sofort ein Massenerfolg. Heinrich Heine berichtet:
Während man in den ästhetischen Teezirkeln Berlins über den heruntergekommenen Ritter [Motte Fouqué, M.K.] die Nase rümpfte, fand ich, in einer kleinen Harzstadt, ein wunderschönes Mädchen, welches von Fouqué mit entzückender Begeisterung sprach und errötend gestand, daß sie gern ein Jahr ihres Lebens dafür hingäbe, wenn sie nur einmal den Verfasser der »Undine« küssen könnte. – Und dieses Mädchen hatte die schönsten Lippen, die ich jemals gesehen. Aber welch ein wunderliebliches Gedicht ist die »Undine«! Dieses Gedicht ist selbst ein Kuß.
Bei aller Ironie bezeichnet Heine hier den Roman sehr euphorisch als „Gedicht“, nicht im formalen, sondern im poetischen Sinn. Und recht hat er. Auch mit dem Kuß. (Übrigens regte die Undine Heine auch zu seinem Essay „Elementargeister“ an – einem der amüsantesten Sachbücher der phantastischen Literatur in deutscher Sprache überhaupt. Es wird demzufolge demnächst mal hier in der Artikelserie auftauchen.)
Unbedingt erwähnt werden muss noch Undines Weg als Oper. Motte Fouqués Freund E.T.A. Hoffmann vertonte die Vorlage als großes Märchenspektakel schon kurze Zeit nach dem Erscheinen.
Er war dann aber doch wohl ein besserer Dichter als Komponist, und seine Oper ist heute nicht viel mehr als eine interessante Fußnote in der Geschichte des Phantastischen. Anders verhält es sich mit der einst sehr populären Oper von Albert Lortzing (1845).
Heute ist sie aus mir unverständlichen Gründen fast vergessen, obwohl sie die Poesie der Vorlage gut einfängt. Wer Klassik und Opern mag, dem empfehle ich die stimmungsvolle und sehr gut gesungene Gesamtaufnahme der EMI unter Robert Heger aus den 1960ern – leider ist da das originelle Ballett gestrichen, aber das kann man angesichts sonstiger Qualitäten wohl verschmerzen.
Und bei Audible findet sich eine sehr stimmungsvolle ungekürzte Hörbuchausgabe, gelesen von Rainer Buck.
Nächste Folgen:
Clark Ashton Smith: Die phantastischen Erzählungen (1926-35) (24. August)
Kommentare
Ist schon merkwürdig, dass soweit es Literatur betrifft die deutsche Romantik zu den wenigen Dingen gehört, die über die Landesgrenzen hinaus Einfluss hatten. Hat schon eine gewisse Ironie, wenn man bedenkt, welch geringen Stellenwert und Akzeptanz die Phantastik danach stets hatte.
Übehaupt finde ich es immer sehr witzig, wie unbedeutend viele bei uns immer noch hochgehaltene Autoren dieser Ära im internationalen Maßstab sind.