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Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 18: Carlo Goldoni: Die Welt auf dem Monde (1750)

Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im VerbrauchertestTeil 18:
Carlo Goldoni: Die Welt auf dem Monde  
(1750)

Die Erforschung der Science Fiction steht mittlerweile auf gutem Boden – selbst der entlegeneren Genres wie der Leihbuch-SF  hat man sich angenommen. Auf dünnes Eis gerät man, wenn man die Prosa verlässt – das frühe SF-Theater ist so gut wie unerforscht. Dabei dürfte es eine gigantische Rolle beim Verbreiten von SF-Ideen in Europa gespielt haben.


Carlo Goldoni gehört zu den ersten, die hier Erwähnenswertes geleistet haben.

Goldonis Werk „Die Welt auf dem Monde“ ist bis heute von sonderbaren Legenden umgeben. Mitunter hört man, es handle sich um ein mysteriöses SF-Stück, das verschollen ist und nur als Oper weiterexistiert, weil es Joseph Haydn zu seinem Werk „Die Welt auf dem Monde“ (1777)  inspiriert hätte.

Il mondo della LunaSo steht noch in Curt Roeslers ansonsten hervorragenden Opernführer (Bassermann-Verlag, 2000),   beim Stichwort Haydn, Il mondo della Luna:

„Dichter unbekannt, nach Carlo Goldoni.“

Tatsächlich ist die Suche nach dem ominösen Stück Goldonis vergeblich – und doch existiert es.

Wie ist dieses Paradoxon möglich? Tja, Goldoni schrieb NUR einen Operntext, der also von Anfang an dafür bestimmt war, in Musik gesetzt zu werden. Aber der war nicht für Haydn gedacht. Ein originales Sprech-Drama hat es nie gegeben.

Carlo GoldoniCarlo Goldoni (1707-1793) ist heute vor allem für seine Komödien „Diener zweier Herren“ und „Mirandolina“ bekannt. Er gehört zu den produktivsten Dramatikern aller Zeiten und hat sich wohl einen Titel im Guinnesbuch der Rekorde verdient – mit mehr 200(!) Bühnenwerken dürfte er kaum noch durch irgendeine Konkurrenz schlagbar sein.

Dabei kam er interessanterweise lange gar nicht recht vom Fleck. Denn seine überdrehten Komödien schlugen nicht ein. Italien, besonders Venedig lag einem anderen Dramatiker zu Füßen:

Carlo Gozzi. Gozzi hat sich ebenfalls einen Ehrenplatz in der phantastischen Literatur erworben, als Vater der Nonsens-Dichtung und als wichtiger Vorläufer der Fantasy. Einige Opern-Welthits beruhen auf seinen Stücken, etwa Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“ und Puccinis düsteres Märchenspektakel „Turandot“.

Goldoni hatte also eigentlich allen Grund, sich auch auf das Gebiet der Phantastik zu begeben, um Kasse zu machen. Und so sollte es auch kommen. Doch bis dahin musste er noch einige magere Jahre durchstehen. Während er aus reiner Geldnot seinen eigentlichen Rechtsanwaltsberuf wiederaufnahm, schlugen doch einige seiner Stücke ein. Und dann hatte er die Idee: Warum nicht komplett und vollberuflich ins so einträgliche Operngeschäft einsteigen? Oper als großes Volkstheater boomte damals in Italien wie später das Kino. Nur wenn man wirklich, wirklich Dringenderes zu tun hatte oder schwerkrank war, blieb man abends weg vom Opernhaus. Nicht nur reiche Adlige konnten sich den Besuch leisten, sondern inzwischen auch breitere Schichten. Casanova notiert in diesen Tagen bezeichnenderweise: „Heute war keine Oper, also ging ich in Gesellschaft.“

Szenenfoto - Il mondo della LunaDie Prioritäten waren klar.

Gesucht waren immer neue, schrille Stoffe, die das Publikum ständig frappierten. (Wie heute Blockbuster.)

In den 1740er Jahren lernte Goldoni in Venedig den Komponisten Baldassare Galuppi (1706-85) kennen, einen aufstrebenden Großmeister der Opera buffa (komischen Oper). Zunächst versuchten sie es mit ernsten Themen zusammen, merkten aber bald, dass sie auf komischem Gebiet super zusammenpassten. Das Gespann Goldoni & Galuppi wurde bald zum populärsten Event-Duo ganz Italiens und versprach immer gute Unterhaltung. Goldoni besorgte die durchgeknallten Stücke, Galuppi schrieb zu den dazwischengestreuten Arien und Duetten schwungvolle Musik.

Schon 1749 gab es eine Art Testlauf fürs alberne Phantastik-Musik-Theater  a la G&G, als beide das richtungsweisende psychodelische Nonsens-Stück „Arki-Fan-Fano, König der Bekloppten“ aufführten.

1750 war es dann soweit – beide brachten erstmals in der Theatergeschichte eine richtige SF-Story auf die Bühne.

Allerdings blieb der Ur-Ur-Urgroßvater von Star Wars  & co. noch ganz im Realismus verhaftet und eher eine Parodie als ein ernstzunehmendes Alien-Spektakel.

Szenenfoto - Il mondo della LunaUnd darum geht es: Der reiche Buonafede ist ein ekliger Spießer. Leider hat er aber auch zwei wunderschöne Töchter. Die turteln mit jungen Männern herum, die ihm gar nicht gefallen. Beide verfallen auf die Idee, sich an dem Alten zu rächen, indem sie ihm einen gigantischen Streich spielen. Der Alte ist nämlich überzeugt davon, dass Leben auf andern Planeten existiert. Astronomie ist sein Hobby. Ecclittico (einer der Lover) überzeugt (verkleidet als Weltraum-Experte) den entflammten Buonafede mit einem präparierten Fernrohr davon, dass auf dem Mond intelligente Wesen leben. Der begeisterte Buonafede tickt vollends aus, als Eclittico ihm kurz darauf mitteilt, er habe nach geheimnisvoller Kommunikation mit den Mondwesen eine Einladung vom Mondkaiser bekommen – und er kann Buonafede mitnehmen. Indem er ihm eine Droge einflößt, gaukelt er ihm vor, zum Mond zu reisen.

Beide Töchter finden den Vater völlig stoned im Sessel liegen, regen sich aber bald wieder ab, als die Geliebten ihnen erklären, dass das Mittel ungefährlich ist, aber den Vater eventuell dazu bringt, sein und ihr Leben zu verändern.

Gemeinsam bauen sie für ihn eine gigantische SF-Kulisse im Garten auf. Diener und Stubenmädchen werden als Mondkaiserpaar ausstaffiert. Die Mondwelt ist ganz nach den spießigen Moralvorstellungen des erbsenhirnigen Buonafede ausgerichtet, eine Art Paradies für Beschränkte, mit bunten Farben, schönen Blumen, rechtschaffenen Menschen, freundlichen Untertanen. Der Alte ist wie im Rausch (naja, eigentlich ist er es ja auch wirklich) und lässt seine Töchter „nachkommen“.

Szenenfoto - Il mondo della LunaIrgendwie findet das Mondkaiserpaar Gefallen an ihnen – und befiehlt Buonafede, seine Töchter mit den beiden „tugendhaften“ Bewerbern zu verheiraten und lässt den verwirrten Mann die entsprechenden Verträge unterzeichnen. Sobald die im Kasten sind, wird die Komödie abgebrochen.

Der gefoppte Vater bekommt Tobsuchtsanfälle – aber es nützt nichts. Er muß die Paare ziehen lassen. Die Mondwelt zerfällt zu einem Scherbenhaufen.  

Vermutlich wollte Goldoni hier nur einmal mehr die typische Entführungs- und Überlistungskomödie, die die Italiener nie satt wurden zu sehen, mit besonders opulentem Interieur aufführen. Doch verblüffenderweise war genau dieses Mond-Drumherum der Kassenmagnet. Das Werk feierte nicht nur in Venedig triumphale Erfolge, es verbreitete sich auch in Windeseile in ganz Italien und dann im restlichen Europa: 1754 war es in Dresden angekommen, 1755 in Genf und Hamburg, 1760 wurde das Spektakel im königlichen Theater London bejubelt. Und mit dem Siegeszug durch die Welt machte es eine Idee salonreif: „Was, wenn da oben wirklich Wesen....“

Virusgleich zeitigte der Jahrhunderterfolg noch andere Ergebnisse. Zunächst bei Goldoni & Galuppi selbst. Sie beschlossen nämlich, den Erfolg sofort auszunutzen und eine weitere SF-Oper folgen zu lassen, diesmal eine Art lustige Dystopie. Auf  „Il mondo della Luna“ folgte „Il Mondo alla roversa“ - zu deutsch „Die verkehrte Welt“ (auch 1750) – in dem die Frauen an die Macht geraten. Diese sonderbare Matriachatsutopie (natürlich – aus damaliger Sicht jedenfalls - richten herrschende Damen vielen Schaden an) ist heute ein aufregenderes Objekt der Forschung als das Vorgängerwerk. Die provokante (Anti-)Frauenoper hat das Interesse der Phantastik-Forschung am   wenig polarisierenden Mond-Werk fast ganz verdrängt.

Goldonis Operntext (und damit die Idee der bewohnten Mondwelt) bleibt jedoch lange weltweit im Gespräch, auch in den Jahrzehnten nach 1770, als Galuppis Oper allmählich in Vergessenheit zu geraten begann.

Denn Galuppi war nicht der einzige Komponist, der ihn Wort für Wort vertonte.

Joseph Haydn1777 setzte ihn Haydn komplett noch einmal für Eszterhazy (Österreich) neu in Musik. Zwar ließ er sich einige neue Nummern dazudichten, aber größtenteils folgt seine Version buchstabengetreu dem alten Text.

Und 1783 komponiert der geniale Giovanni Paisiello, der von Mozart so bewunderte Komponist, den Plot ein drittes Mal – auf Wunsch der russischen Kaiserin Katarina II.! Da die Zarin keine langen Opern mag und Werke in knackiger 90-Minuten-Länge haben will, bastelt ihr Paisiello aus der originalen Dreistunden-Revue eine flotte, kurzweilige Show mit neuen frechen Arien und Tänzen. Man kann sich vorstellen, dass diese clevere Modernisierung in Europa ebenfalls schnell Fuß fasste.

Drei erfolgreiche Mondopern mit Goldonis Text – logisch, dass sie Entscheidendes geleistet haben für die Propagierung von SF-Ideen im 18. Jahrhundert. Und tatsächlich lassen sich Goldonis Vorstellungen von der Mondwelt (auch wenn die nur Teil eines sehr irdischen Streiches ist) weiter in der Populärkultur verfolgen.

1875 erscheint in Paris ein Remake mit dem Titel „Le voyage dans la Lune“ (Die Reise zum Mond) am Gaité -Theater. Der lustige Text stammt von Arnold Mortier, die Musik – von keinem Geringeren als Jacques Offenbach!

Zwar steht im Text, das Werk sei eine Hommage an Jule Vernes Roman „Von der Erde zum Mond“.

Doch wahrscheinlich nur, um ihn zu ärgern oder das Publikum anzulocken  – denn der Plot hat überhaupt nichts mit Verne zu tun – und ähnelt vielmehr dem Goldonis. Wenn jetzt auch wirklich eine Mondreise stattfindet: die Mondwelt ist ähnlich satirisch-spießig wie in der alten Farce.

(Freilich – das Kanonenkugel-Raumschiff ist tatsächlich bei Verne geklaut. Der erwog, zu klagen, ließ es dann aber doch bleiben.)

Und zu guter Letzt tauchte auch noch eine Mond-Operette im Geiste Goldonis auf! Paul Linckes „Frau Luna“ 1899 wurde zu einem der größten Massenerfolge des Musiktheaters in Preußen. Das Mondkaiserpaar wird auf eine Mondkaiserin reduziert. Aber auch hier finden irdische Liebeshändel ihre Auflösung auf dem guten alten Mond. Sie lehnt sich wieder (in der Originalversion) stärker an Goldoni an; hier wird suggeriert, dass es sich bei der Mondreise um einen Traum handelt.

Das Originalstück von Goldoni & Galuppi ist erhalten und wurde 1997 im italienischen Pesaro wiederaufgeführt, ein CD-Mitschnitt existiert. Galuppis Musik spricht heute nicht mehr so an wie die späteren Vertonungen. Von den fünf Werken hat nur die Haydn-Version auf den Bühnen überlebt. (In der leider vergriffenen Philipps-Gesamtaufnahme  der Haydn-Oper findet sich der Text samt deutscher Übersetzung.)

Auch Frau Luna wird heute nicht mehr gespielt. Immerhin gibt es eine alte Verfilmung aus tiefsten Kriegszeiten (Ufa-Durchhaltefilm von 1941).

Und tatsächlich ist Goldonis Werk ja nicht im absoluten Sinne aufregend – es ist eine schöne, witzige Pionierleistung. Und vermutlich war seine Story ein Multiplikator für die Idee interpanetarischer Abenteuer bei der Masse. Heute erinnert man sich vor allem an Haydns Musik. Vielleicht nicht zu Unrecht. Denn wenn etwa die verliebte Tochter Flaminia ihr göttliches „Ragion nell'alma siede“ anstimmt – wen interessiert dann noch der alberne Mond...       

Nachsatz:
Im wirklichen Leben verdiene ich mir meine Brötchen als Musikjournalist. Mein Hobby ist phantastische Literatur. Gern trenne ich beides – was natürlich nicht heißt, dass ich der Opern müde wäre – nur finde ichs schön, wenn man was hat, das Refugium bleibt. An dem Tag, an dem mich der rbb auffordert, nun auch Sendungen über SF-Literatur zu machen, würde ich wohl sehr schlechtgelaunt sein. Dennoch – einmal wollte ich mir den Spaß gönnen, um beides zu vermischen und im Zauberspiegel einen Opernartikel schreiben...
Keine Sorge also – dieser Ausflug bleibt eine Ausnahme...   

Nächste Folgen:
Henry Rider Haggard: Sie (1887) (21. September)
Robert J. Hogan: Die Fledermaus-Staffel (1933) (7. Oktober)
Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887 (1888) (19. Oktober)
Camille Flammarion: Die Mehrheit bewohnter Welten (1862) (2. November)

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Kommentare  

#1 Andreas Decker 2015-09-07 12:26
Was es nicht alles gibt. Noch nie gehört davon. Interessant.

War zu der Zeit nicht überhaupt vor allem in England und Frankreich das Phantastische und Okkulte schick? Vor allem, was die Skandälchen anging? Da wundert es nicht, dass man so ein Mondspektakel begeistert aufgenommen hat.
#2 Toni 2015-09-07 19:48
Schöner Artikel.
Früher gab es so eine Sendung, ich glaube " Erkennen sie die Melodie" oder so, die lief immer bei Opa und Oma. Da war öfter die Rede von "Frau Luna", "Peterchens Mondfahrt" usw. Tolle Zeit!
#3 Harantor 2015-09-07 19:52
zitiere Toni:
Schöner Artikel.
Früher gab es so eine Sendung, ich glaube " Erkennen sie die Melodie"

Stimmt. Ernst Stankovski, Günter Schramm und Johanna von Koczian haben die Sendung präsentiert. Das war ein Quiz ...
#4 Toni 2015-09-07 20:07
Genau... was man sich da alles reingezogen hat.
Und dümmer wurde man davon auch nicht :-)

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