Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 38: E. T. A. Hoffmann – Meister Floh (1822)

Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im VerbrauchertestTeil 38:
E. T. A. Hoffmann – Meister Floh
(1822)

Im Frühjahr 1822 erscheint E.T.A. Hoffmans letzter, von ganz Deutschland mit Spannung erwartete Fantasy-Roman »Meister Floh«. Die Veröffentlichung ist einer der der größten Flops der deutschen Romantik. Sogar die Fans wenden sich ab. Bis heute ist das Werk umstritten. Genialer Mystizismus oder Gestammel eines Todkranken?


MärchenHoffmanns Märchen waren und sind bis heute weltberühmt – weil sie im Grunde ausladendende Fantasy-Grotesken sind, zwischen Satire, Horror, krassem Realismus und psychodelischer Traumwelt pendelnde Werke. Sie gehören nach heutigem Verdständnis zur „urban fantasy“, das heißt sie spielen allesamt in der Gegenwart, oft in Städten wie Dresden oder Berlin, in denen das Wunderbare als Parallelwelt auftritt. Bezeichend ist dabei oft die „Dualität“ der Figuren, viele unheimliche Gestalten der realen Welt haben eine weitere Existenz in der märchenhaften Parallelwelt – oder zumindest scheint es so.

Im 19. Jahrhundert waren Hoffmanns Märchen so populär wie heute die Bücher von Tolkien oder der Rowling. Das zeigt sich schon an den Dramatisierungen und Adaptionen (eine Entsprechung zu unserer Angewohnheit, Literatur zu verfilmen.) Zwei berühmte Ballette fußen auf Hoffmann-Märchen: Leo Delibes „Coppelia“ und Peter Tschaikowskys „Nußknacker“. Jaques Offenbach hat die „Königsbraut“ zu seiner Oper „König Mohrrübe“ verarbeitet (und sollte später ja auch noch vier Horror-Stories vom gleichen Autor zur bekanntesten Gruseloper aller Zeiten zusamenfügen: Les contes d'Hoffmann, Hoffmanns Erzählungen)

Doch niemand hat sich je des letzten Märchenromans „Meister Floh“ angenommen. Weder als Ballett, Oper oder Hollywood-Schinken tritt er in Erscheinung.

Das hat zunächst mit der Entwichlung von Hoffmanns Märchenwelt zu tun, die im Spätwerk äußerst merkwürdige Früchte trägt.

Die berühmtesten wie „Der goldene Topf“ und „Nußknacker und Mausekönig“ erschienen zunächst eingebettet in größere Sammlungen. Doch Hoffmanns durchgeknallte Ideen und seine Schaffensfreude sprengten bald den Rahmen, und drei seiner „Märchen“ wuchsen sich zu regelrechten kleinen Fantasy-Romanen aus, die einzeln erschienen, alle ungefähr 150-180 Seiten umfassend: Klein Zaches, genannt Zinnober (1819), Prinzessin Brambilla (1820), und „Meister Floh“ (1822).

E.T.A. HoffmannLiest man sie hintereinander, stellt man einen zunehmenden Verfall der erzählerischen Stringenz Hoffmanns fest. Klein Zaches, das schönste Werk der Trilogie, ist noch sehr amüsant zu lesen.  Das Werk über einen Dämon, grauenhaft häßlich, der die Gabe besitzt, in Gesellschaft alle Menschen so zu blenden, dass er für schön gilt (Zaches saugt vampirhaft die Verdienste des talentvollsten Menschen im Raum ab und glänzt selbst damit) gehört zu meinen Lieblingsbüchern von Hoffmann.

Prinzessin Brambilla ist schon wesentlich verrückter, und Heine bemerkte dazu ganz richtig, das derjenige, dem das Werk nicht der Kopf verwirre, gar keinen Kopf habe. Dennoch galt die überkandidelte Brambilla mit ihren Logiksprüngen und durchgeknallten Twists bei den Fans als Meisterwerk.

Die Erwartungen an Meister Floh - zunächst als Weihnachtsmärchen 1821 geplant - waren also ziemlich hoch geschraubt.

Hoffmann galt nicht nur als phantastischer Erzähler erster Güte, sondern auch als genialer Satiriker. In der Zeit nach Napoleons Niederlage (1815) herrschte in Deutschland ein paranoider Überwachungsstaat, der alles und jeden ausspionierte, Bücher zensierte und Leute auf bloßen Verdacht hin einsperrte. Die Leser sehnten sich nach satirischen Seitenhieben auf den repressiven Apparat. Hoffmann selbst litt unter den Erwartungen seiner Leser.

Meister FlohSo notierte er:

Am 18. Januar begegnete mir in der Mittagsstunde Unter den Linden in der Gegend des Dümmlerschen Ladens  ein junger Mann. (…) Dieser rief mir zu: „Nun, wir bekommen ja bald von Ihnen ein neues Märchen mit einem Prozeß, worin hübsche Poträts vorkommen sollen.“ Das fiel mir schwer aufs Herz.  

Tatsächlich spekulierte man damals – wie auch heutzutage bei neuen Büchern der Rowling – öffentlich, was wohl im neuen Roman von Hoffmann stehen könnte. Das Gerücht ging um, dass er hier, im Meister Floh, radikal mit der deutschen Justiz abrechnen würde.

Dieses Gerücht entbehrte nicht einer gewissen Pikanterie und Grundlage – war doch Hoffmann selbst ein Insider, ein gefeuerter Kammergerichtsrat, der durchaus aus der Schule plaudern konnte, wenn er wollte. Und der todkranke Autor, bald nach dieser Begegnung bettlägerig, hatte eigentlich nichts mehr zu verlieren, oder?

Doch. Seinen guten Ruf. Hoffmann rang nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit zwei Romanen gleichzeitig, die er vor dem nahenden Ende noch fertigstellen wollte – Die "Lebensansichten des Katers Murr“ und „Meister Floh“.

Dabei machte einen folgenschweren Fehler. Beide Romane hatten einen sehr vertrackten Plot, und grade der Anfang von Meister Floh versprach viel, das konnte einer der schönsten Fantasy-Romane zu werden, die bis dahin je erfunden wurden. Hoffmann schrieb in fiebernder Hast, um seinen Verlag (Wilmans in Frankfurt/Main) zufriedenzustellen und schickte den Text immer in Bögen von 16 Seiten zur Korrektur - ohne Abschriften zu machen! Der Verlag versprach, korrigierte Bögen zurückzusenden, doch das passierte nie. Das heißt, Hoffmann hatte beim Schreiben seine vorherigen Kapitel nicht mehr zur Verfügung. Das führte zu dramatischen Logiklöchern und Inkonsequenzen, die auch den wohlwollendsten Fan frustrierten.

Heinrich HeineHeine schrieb sehr enttäuscht:

„Das Buch hat keine Haltung, keinen großen Mittelpunkt, keinen inneren Kitt. Wenn der Buchhändler die Blätter deselben willkürlich durcheinandergeschossen hätte, würde man es sicher nicht bemerkt haben“.

Worum geht’s?

Der depressive Sonderling und Einzelgänger Peregrinus wird am Weihnachtsabend von einer schönen Frau aufgesucht, die ihn massiv anbaggert. Als er sie abwimmeln will, fällt sie in Ohnmacht. Peregrinus lässt sie ins sein Haus tragen, wo sie ihr Verhalten ändert. Jetzt verlangt sie ziemlich forsch, dass er ihr etwas ausliefern solle – er wisse genau, was sie meint. Pelegrinus hat aber leider keine Ahnung.  

Bald erfährt er allerdings, wonach gesucht wird – dem Herrscher der Flöhe, der magische Kräfte besitzt und dem dämonischen Mikroskop-Techniker und Flohbändiger Leuwenhoek entflohen ist.
Meister Floh bietet Peregrinus seine Kräfte an, wenn der ihn nicht ausliefert. Unter andrem schenkt er ihm ein winziges Kristall, mit dem man, ins Auge gesetzt, die Gedanken der anderen sehen kann.  Zunächst nur ein müßiges Spielzeug, erweist sich das Kristall bald als wichtiges Überlebens-Hilfmittel. Denn Pelegrinus bemerkt bald, dass er durch den Besuch der jungen Dame – sie ist Prinzessin Gamaheh, die Königstochter einer Parallelwelt – in eine gigantische Verschwörung hineingezogen wird. Im Mittelpunk: Der dämonische Leuwenhoek und ein Monster, der Egelprinz, der Herrscher der Blutegel, der Gamaheh fast schon einmal getötet hat und der in Menschengestalt nun auch unsere Welt betritt, um sie zu suchen...

Eigentlich ein herrliches Szenario, aus dem ein hellwacher Hoffmann vermutlich seinen finalen Meisterstreich gemacht hätte. Leider verschlechterte sich sein Gesundheits-Zustand immer mehr, die letzten Kapitel diktierte er. Der so wunderbar aufgebaute Plot verliert sich in Albernheiten und Nebenhandlungen und gelangt zu einem schwachen, unglaubwürdigen Abschluß. Immerhin biß der alte Löwe noch einmal zu, bevor er starb. Im vierten Kapitel wird Peregrinus verhaftet.

Meister FlohAngeblich hat er eine Frau entführt. Doch niemand kann ihm das Verbrechen nachweisen, ja es stellt sich sogar heraus, dass niemand vermisst wird. (Was alles schon ein bißchen an Kafka erinnert...) Dem Staatsanwalt Knarrpanti ist das egal. Und er sagt den legendären Satz, der noch heute an Guantanamo & co. denken lässt:

„...Wenn erst der Verbrecher ermittelt sei, würde sich das begangene Verbrechen von selbst finden.“

Das ist natürlich genial, weil es schlaglichtartig und herrlich boshft das Denken vieler „Sicherheits“fanatischer Kreise bis heute enthüllt. Folgerichtig schäumte die Justiz und zwang den Verlag, diese Passagen entfernen zu lassen. Es wurde auch ein Verfahren gegen Hoffmann angestrengt, zu dem es nicht mehr kam – der Autor starb nur wenige Wochen nach der Veröffenltichung.

Erst 1908 erschien eine ungekürzte Fassung mit den fehlenden zensierten Stellen.

Nun gibt es nicht wenige Literaturwissenschaftler, die die ablehnende Reaktion der Zeitgenossen damit erklären, dass der so verstümmelte Roman auch nicht mehr logisch funktionieren konnte.

Das Gegenteil ist der Fall. So pervers es klingt: Die Zensur machte die Handlung etwas stringenter, indem sie diese aufgepropften Passagen strich, die ein bißchen so wirken, als wolle Hoffmann dem Wunsch des Publikums nach gepfefferter Satire nachgeben.     

Wie auch immer – alte Freunde, bewährte Hoffmann-Leser waren bitter enttäuscht. Ihr so sehnlichst erwartetes Buch, die auch zunächst wunderbar beginnende Handlung, die liebenvoll eingeführten Gestalten, allen voran meister Floh, gestiefelt und gespornt in Uniform – deutete darauf hin, dass hier ein geniales Werk auf sie zukam. Das dann sehr mau enden sollte – diesmal nicht in kontrollierter Konfusion wie Prinzessin Brambilla, sondern als letzter delirierender Seufzer eines sterbenden Alkoholikers.

Meister FlohIronie der Literaturgeschichte: Ausgerechnet Goethe, der vorher nie viel von Hoffmanns Phantastik gehalten hatte und aus seiner abfälligen Meinung auch keinen Hehl machte, verteidigte das Werk als so ziemlich einziger prominenter Kritiker.

„Es ist nicht zu leugnen, daß die wunderliche Art und Weise, wie er das bekannteste Lokale, gewohnte, ja gemeine Zustände mit unwahrscheinlichen, unmöglichen Vorfällen verknüpft, einen gewissen Reiz hat, dem man sich nicht entziehen kann.“

Das mag schon sein, doch dieser Reiz wirkt in den früheren Werken Hoffmanns wesentlich effektvoller. Sicher hat „Meister Floh“ seine großen Momente, seine wirklich lustigen Augenblicke, und auch manch mystisch-wirre Sentenz könnte Okkultisten dazu verführen, sich über ihren tieferen Sinn Gedanken zu machen. Und das Werk eines sterbenden Genies ist immer noch das Werk eines Genies, würdig einer genauen Analyse, die vielleicht auch Aufschluß über das späte Denken Hoffmanns gibt.

Doch da dies ein leichtgeschäumter Verbrauchertest ist und kein literaturwissenschaftliches oder esoterisches Traktat, darf ich in aller Deutlichkeit sagen: Vorsicht, kein Einstiegswerk! Wer Hoffmann von seiner besten Seite kennenlernen will als großen Märchen-Schriftsteller, sollte mit dem „Goldenen Topf“ oder „Klein Zaches“ anfangen. 

Nächste Folgen:
Edgar Rice Burroughs – Tarzan bei den Affen (1912) (05. September)
Roald Dahl - James und der Riesenpfirsich (1961) (19. September)
Isaac Asimov - Ich, der Roboter (1950) (03. Oktober)

Zum ersten ArtikelZur Übersicht

Kommentare  

#1 Toni 2016-08-24 15:28
Danke für diesen wunderschönen Artikel.
Das erinnert mich immer an die verregneten Sommer meiner Kindheit und die Märsche zur Stadtbücherei. An das untere Bild kann ich mich sogar erinnern. :-)
#2 Matzekaether 2016-08-26 15:02
lieber Toni,
und danke meinerseits für deine ermutigenden Kommentare :-)

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles