Heyne Science Fiction Classics 6 - Conan Doyle
Die Heyne Science Fiction Classics
Folge 6: Sir Arthur Conan Doyle
Die vergessene Welt
Betrachtet man die literarischen Karrieren von Science-Fiction-Autoren, kann man bei etlichen beobachten, dass sie in mehrern Genres tätig sind bzw. waren. Bei der mit der SF nahe verwandten Fantasy ist das kein Wunder, aber es gibt auch jede Menge Autoren, die sich mehr oder weniger erfolgreich auf dem Gebiet des Kriminalromans bzw. der Detektiverzählung versucht haben. Ein herausragendes Beispiel ist Jack Vance, der in allen drei Genres renommierte Preise wie den Hugo Award, den World Fantasy Award und den Edgar Allan Poe Award eingeheimst hat. Einige Autoren haben auch erfolgreich Science Fiction und Detektiverzählung als utopischen Kriminalroman kombiniert. Ein prominentes Beispiel dafür ist Isaac Asimov mit den bekannten Roboterromanen um den menschlichen Polizisten Elijah Bayley und seinen robotischen Ermittlungspartner R. Daneel Olivaw. In den fünfziger Jahren gab es mit dem Utopia Kriminalroman sogar eine eigene Reihe, welche Werke aus diesem Subgenre vorstellte. Edgar Allan Poe ist auch ein gutes Stichwort, denn sowohl SF- wie auch Grusel- und Krimifreunde können diesen vielseitigen amerikanischen Autor, welcher von 1809 – 1849 lebte, als Klassiker ihrer Genres für sich reklamieren.
Ein weiteres sehr gutes Beispiel in dieser Richtung ist Conan Doyle. Doyle? Sherlock Holmes? Genau der! Arthur Conan Doyle (1859 – 1930) wurde in Edinburgh als Sohn eines Engländers und einer Irin geboren. Er studierte Medizin und führte auch einige Jahre eine Arztpraxis, die er aber aufgab, nachdem er mit der schriftstellerischen Arbeit großen Erfolg hatte. 1887 erschien mit A Study in Scarlet (dt. Eine Studie in Scharlachrot) die erste Geschichte um den Detektiv Sherlock Holmes und seinen Freund, den Arzt Dr. Watson. Bis Doyles Tod erschienen insgesamt 60 Geschichten und Romane um den Meisterdetektiv. Ein Versuch, Holmes literarisch zu entsorgen, weil sich Doyle anderen Themen zuwenden wollte, blieb erfolglos, weil das Publikum stürmisch danach verlangte, seinen Liebling wiederaufstehen zu lassen. Doyle wurde 1902 für seine Propagandatätigkeit im südafrikanischen Burenkrieg für das Britische Empire in den Adelsstand erhoben.
Das phantastische Werk Doyles kann im Bekanntheitsgrad zwar nicht mit den Detektivgeschichten um Holmes und Watson mithalten, aber die skurrilen Abenteuer rund um den exzentrischen Professor Challenger genießen bei Freunden früher Science Fiction einen guten Ruf. Das zentrale Werk in diesem Bereich ist Die vergessene Welt (The Lost World). Dieser Roman wurde für die Heyne Science Fiction Classics ausgewählt. Der englische Titel wurde für eine ganze Anzahl vergleichbarer Werke namensgebend, die damit ein eigenes Subgenre phantastischer Literatur bilden. Sehr bekannt sind in diesem Bereich auch die Werke des Doyle-Zeitgenossen Henry Rider Haggard rund um Sie und Allan Quatermain sowie mehrere Romane von Abraham Merritt.
Der junge Reporter Ned Malone ist verliebt. Doch seine Angebetete erhört seine Werbung nur dann, wenn er außergewöhnlichen Mut beweist, und deswegen greift Ned zu, als sein Chef ihn in zu einem Himmelfahrtskommando schickt. Er soll Professor Challenger interviewen! Challenger, der mit der kompletten Wissenschaftszunft in Streit steht, Reporter aus dem Haus wirft und wegen tätlicher Attacken schon einige Gerichtsverfahren über sich ergehen musste. Malone erkennt seine Chance und greift zu. Sich als Student ausgebend, bekommt er einen Termin beim streitbaren Professor, Doch Challenger durchschaut schnell das falsche Spiel.
Er war aufgesprungen, und aus seinen Augen funkelte blinde Wut. Selbst in diesem höchst fatalen Augenblick fand ich noch Zeit für mein Erstaunen darüber, daß er nur von kleiner Statur war. Sein Kopf reichte mir nicht über die Schulter – ein mißgestalteter Herkules, dessen übewältigende Kraft sich allein auf Breite, Tiefe und Hirn ausgewirkt hatte.
„Blödsinn!“ schrie er, vornübergebeugt, die Hände auf den Tisch gestützt. „Wissenschaftlichen Blödsinn habe ich Ihnen erzählt. Haben Sie wohl geglaubt, Sie könnten Ihren Verstand mit meinem messen – Sie mir Ihrem Walnuß-Gehirn? Ihr infernalischen Schmierfinken glaubt wohl, ihr seid allmächtig, was? Daß euer Lob einen Mann fördern und und euer Tadel ihn vernichten kann? Diesem Manne wird ein wenig nachgeholfen, und jener wird bloßgestellt! Ihr kriechenden Ungeheuer, ich durchschaue euch! Ihr kennt keine Grenzen mehr. Es wird höchste Zeit, daß man euch die Flügel stutzt! [...]“
(Zitiert aus: Arthur Conan Doyle: Die vergessene Welt. München 1969, Heyne SF 3715, S. 19)
Es kommt zu einem wütenden Kampf der beiden. Malone erwirbt sich ersten Respekt beim Ungeheuer, indem er sich weigert, ihn anzuzeigen, und die Schuld für ihre tätliche Auseinandersetzung auf sich nimmt. Challenger erzählt Malone von seiner Expedition nach Südamerika ins Amazonasgebiet, wo er die sterblichen Überreste eines Künstlers samt einem Skizzenbuch über ein sagenhaftes Land mit seltsamen Riesentieren und Knochenresten entdeckt hatte. Auf der Suche nach diesem Land war es ihm dann selbst gelungen, bis an den Rand eines riesigen Tafelberges vorzudringen, er konnte ihn aber nicht besteigen. Bei einem Bootsunfall verlor er einen großen Teil seiner Beweismittel, sodass ihm nach der Rückkehr nur Unglauben und Hohngelächter über seine Schilderungen entgegenschlug, was den hitzköpfigen Forscher auf das Äußeste erbitterte. Challenger will um jeden Preis die Richtigkeit seiner Thesen beweisen. Zusammen mit seinem wissenschaftlichen Gegenspieler Professor Summerlee, der nicht weniger fanatisch ist als Challenger, bricht der Gelehrte zu einer Expedition in das Innere Südamerikas auf. Malone meldet sich als Mitglied der Presse zur Expedition, dazu stößt noch Lord John Roxton, ein Sportsmann, Weltreisender und Großwildjäger.
Die Gruppe schifft sich nach Brasilien ein und fährt mit einem Dampfer auf dem Amazonas landeinwärts bis Manaus, wo Challenger dazustößt, der nicht mit dem gleichen Schiff gefahren ist, um nicht schon auf der Überfahrt Streitigkeiten mit den Expeditionskollegen zu haben. Sie heuern einheimische Hilfskräfte an und fahren mit einem kleineren Dampfboot weiter, bis sie von Indianern zwei Kanus mieten, mit denen sie weiterpaddeln, einem ungewissen Ziel entgegen. Die Schilderung des Urwaldgeschehens ist eindrucksvoll:
Ich hatte keine Ahnung von den Namen dieser Baumriesen; aber unsere Wissenschaftler zeigten mir die Zedern, die großen Baumwoll- und Mahagonibäume und all den Überfluß an mannigfaltigen Pflanzen, der den Bedarf der ganzen Welt decken kann. Bunte Orchideen und Moose in wunderbarer Farbenpracht glühten auf den dunklen Baumstämmen. Wo ein verirrter Sonnenstrahl auf eine goldene Allamanda, die scharlachroten Sternenbündel der Tasconia oder das satte Tiefblau der Ipomae fiel, sah es aus wie aus einem Traum aus dem Märchenland. Das Leben muß sich in diesen Urwäldern ständig nach oben zum Licht durchkämpfen. Jede Pflanze, sogar die kleinste, windet und ringelt sich der grünen Oberfläche entgegen und schlingt sich um ihre stärkeren Brüder. Tierisches Leben regte sich kaum in den majestätischen Gewölben, die sich vor uns erstreckten; aber eine beständige Unruhe weit über unseren Häuptern sprach von der bunten Welt der Schlangen und Affen, der Vögel und Faultiere, die oben im Sonnenlicht lebten und verwundert auf unsere winzigen, dunklen, vorwärtsstolpernden Gestalten in der Tiefe herabblickten. In der Morgendämmerung und bei Sonnenuntergang schrien die Brüllaffen, und die Sittiche brachen in ihr schrilles Gekreisch aus. Aber während der heißen Tagesstunden drang nur das volle Dröhnen der Insekten an unsere Ohren, ähnlich dem Geräusch einer fernen Brandung, während sich in den feierlichen Reihen der ungeheuren Stämme, die rings um uns ins Dunkel führten, nichts regte.
(Zitiert aus: Arthur Conan Doyle: Die vergessene Welt. München 1969, Heyne SF 3715, S. 62)
Als das Wasser zu flach zum Paddeln wird, maschiert die Gruppe zu Fuß weiter. Challenger und Summerlee sind die halbe Zeit mit wissenschaftlichen Streitgesprächen vertieft. Sie entdecken jede Menge von bisher unbekannten Tier- und Pflanzenarten.
„Höchst interessant“, sagte Summerlee, der sich über mein Schienbein beugte, „eine blutsaugende Riesenzecke, meines Wissens bisher noch nicht beschrieben.“ [...]
„Dieses dreckige Ungeziefer!“ rief ich.
Professor Challenger runzelte mißbilligend die Stirn und und legte besänftigend eine Pranke auf meine Schulter.
„Sie sollten sich den wissenschaftlichen Blickpunkt und die unvoreingenommene wissenschaftliche Denkweise zu eigen machen“, sagte er. „Für einen Mann mit philosophischem Temperament ist die Zecke mit ihrem lanzettenförmigem Rüssel und ihrem aufgeblähtem Bauch ein ebenso schönes Erzeugnis der Natur wie beispielsweise der Pfau oder die Aurora borealis. Es schmerzt mich, Sie in so abfälliger Weise davon reden zu hören. Mit genügender Ausdauer werden wir zweifellos noch ein anderes Exemplar sicherstellen können.“
„Daran besteht nicht der geringste Zweifel“, sagte Summerlee trocken, „denn soeben ist eine unter Ihrem Hemdkragen verschwunden,“
Brüllend wie ein Stier sprang Challenger auf und riß wild an Jacke und Hemd, um sie möglichst schnell abzuschütteln. Summerlee und ich konnten ihm vor Lachen kaum helfen.
(Zitiert aus: Arthur Conan Doyle: Die vergessene Welt. München 1969, Heyne SF 3715, S. 90)
Als Challenger meint einen Pterodactylus zu sehen, behauptet Summerlee, dass es ein Storch war. Schließlich stehen sie nach Überquerung eines Bambusdickichts tatsächlich vor einem riesigen Tafelberg mit drohenden, unbesteigbar aussehenen Basaltklippen. Die Forscher wandern dem Abhang entlang, einen Aufgang auf das Plateau suchend. Tatsächlich taucht erneut ein Pterodactylus auf und entführt den Hungernden ihr Essen. Summerlee leistet Challenger feierlich Abbitte. Noch immer kann kein Aufstieg gefunden werden, und so hat der geniale Challenger eine Idee. Die Gruppe erklimmt eine besteigbare Felsnadel, die sich nahe am Tafelberg befindet und fällt auf dem Gipfelplateau einen Baum, der dann als Brücke ins unerforschte Land dient. Nachdem sie drüben ein Lager eingerichtet haben und weiter Vorräte holen wollen, müssen sie bestürzt feststellen, dass der Baum hinuntergestürzt ist und der Rückweg versperrt ist. Ein Mitglied ihrer Hilfstruppe, der wegen eines früheren Vorfalls Roxton hasst, hat ihnen den Rückweg versperrt. Roxton erschießt den Verräter. Das Plateau des Tafelberges ist eine phantastische Welt. Die Forscher haben Begegnungen mit verschiedenen Wesen, die man seit Millionen Jahren als ausgestorben wähnt: Iguanodonten, Plesiosaurier, weitere Pterodactylen, aber auch riesige Raubsaurier ähnlich einem Tyrannosaurus Rex, vor denen sie das Hasenpanier ergreifen. Die wahren Herren der verlorenen Welt sind aber ein Stamm von bösartigen Affenmenschen, die die Forscher gefangennehmen. Doch Challenger behandeln sie gut. Was ist wohl der Grund?
Wenn ich's nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich's nicht glauben. Dieser alte Affenmensch – er war ihr Häuptling – war eine Art Challenger in Rot, mit jedem einzelnen Schönheitsmerkmal unseres Freundes, nur noch ein bißchen stärker ausgeprägt. Er hatte den gleichen untersetzten Körper, die breiten Schultern, den mächtigen Brustkasten, keinen Hals, einen großen rötlichen Zottelbart, die buschigen Augenbrauen, den gleichen Komm-doch-her-Ausdruck in den Augen. Als der Affenmensch neben Challenger stand und ihm seine Pfote auf die Schulter legte, lachte Summerlee, bis ihm die Tränen kamen.
(Zitiert aus: Arthur Conan Doyle: Die vergessene Welt. München 1969, Heyne SF 3715, S. 127)
Die Freunde können sich aus der Gewalt der Vormenschen befreien. Bei ihrer Flucht nehmen sie auch einige Indianer mit, die somit einem gräßlichen Schicksal entrinnen, denn ihre Todfeinde werfen ihre Gefangen über die Klippe des Tafelberges, wo sie dann am Boden zerschellen oder durch aufgestellte gespitzte Hölzer aufgespießt werden. Der Indianerstamm lebt in ständiger Angst vor seinen Feinden auf der anderen Seite des Plateaus in Höhlen. Zusammen mit den Europäern stellen die Indianer eine Armee auf, welche in einer grausigen Schlacht die Pithecanthropoiden bis auf Mann und Maus ausrottet. Die Menschheit hat nun die Herrschaft über die verlorene Welt angetreten. Für die Indianer sind die Europäer, welche ihnen endlich den Sieg über den verhassten Feind ermöglichten, eine Art Götter. Sie wollen ihre Beschützer deswegen nicht mehr weglassen. Doch einer der Indianer, den die Forscher aus den Händen der Affenmenschen gerettet hatten, zeigt ihnen aus Dankbarkeit einen Weg, der durch eine tiefe Höhle hinunter in die Ebene führt. Im Triumph kehren die vier Entdecker nach London heim. Als bei der Präsentation der Erlebnisse ein missgünstiger Wissenschaftler wiederum die Ergebnisse als Schwindel bezeichnet, spielt Challenger seinen großen Trumpf aus: Er öffnet einen Käfig, aus dem ein junger Pterodactylus ausfliegt, denn Roxton hatte aus dem Nest der Flugsaurier ein Ei entführt.
Die Publikationsgeschichte der Vergessenen Welt im Heyne-Verlag ist eine eigene Bemerkung wert. Nachdem die erste Auflage in der Subreihe Heyne Science Fiction Classics herausgekommen war, gab es einige Jahre später eine Neuausgabe unter der gleichen Nummer, aber neu übersetzt, mit anderem Titelbild, Innenillustrationen und der Aufmachung der Heyne Fantasy Classics. Ob dieser Schwenk einer Unsicherheit über die richtige Genrezugehörigkeit des Romans geschuldet war oder der Marketingüberlegung, dass mittlerweile Fantasy beim Leser mehr gefragt war als Science Fiction, kann von mir nicht beurteilt werden. Zugegebenermaßen sind Lost World-Romane nicht ganz einfach zu kategorisieren. Es kommt auf den Einzelfall an. Haggards Werke beispielsweise gehen großteils mehr in Richtung Fantasy oder sind überhaupt „nur“ exotische Abenteuerromane ohne echte phantastische Elemente. Aber lassen wir die Kleinkrämerei, wichtig ist in Wirklichkeit nur, wie gut das einzelne Werk ist, unabhängig davon, in welches Regal mit welcher Kennzeichnung man es nach dem hoffentlichen Lesegenuss einräumt.
Die vergessene Welt lieferte auf jeden Fall jede Menge von Inspirationen für andere Autoren und auch für Filmemacher. Prominentes Beispiel darunter ist die Jurassic Park-Filmreihe.
Es gibt weitere Geschichten um den streitbaren Professor. Drei davon wurden im Band Professor Challenger und das Ende der Welt gesammelt. Dieser Band erschien 1982 in der Taschenbuchreihe Phantastische Literatur im Bastei-Verlag, Diese Reihe, welche 51 Bände erreichte, brachte eine recht interessante Mischung von Phantastik unterschiedlicher Subgenres von prominenten Autoren aus dem 19. und frühem 20. Jahrhundert, darunter Honoré de Balzac, Charles Dickens, E. T. A. Hoffmann, Kurd Laßwitz, Jack London, Howard Philips Lovecraft, Guy de Maupassant, William Morris, Edgar Allan Poe, Mary Shelley, Robert Louis Stevenson, Bram Stoker, Mark Twain und Charles Williams. Außer dem Challenger-Titel erschienen zwei weitere Bücher von Conan Doyle in der angesprochenen Reihe: Der Kapitän der Polestar versammelt einige phantastische Kurzgeschichten, Die Maracot-Tiefe (The Maracot Deep) ist ein Roman über Forschungen auf dem Meeresgrund, bei denen die Überreste des versunkenen Atlantis entdeckt werden, in denen sich eine seltsame Unterwasser-Zivilisation entwickelt hat.
Die Haupterzählung im Challenger-Band ist Das Ende der Welt (The Poison Belt). Challenger hat Anzeichen dafür entdeckt, dass die Erde in einen kosmischen Giftstrom eintauchen wird und lädt seine Freunde Malone, Summerlee und Roxton zu sich auf seinen Landsitz ein. Er trägt ihnen auf, Sauerstoff mitzunehmen. Mit mehreren Flaschen Oxygenium ausgestattet, erwarten die vier zusammen mit Challengers Frau das vermeintliche Weltende. Alle Menschen und Tiere rundherum gehen zugrunde, als der Giftstrom die Gegend erreicht, aber mit gut abgedichteten Fenstern und zischenden Sauerstoffflaschen zögern der Forscher und seine Freunde philosophierend und beobachtend ihren Tod hinaus. Als die Sauerstoffvorräte ausgehen, reißen sie das Fenster auf, um der Sache ein schnelles Ende zu machen, aber süße Luft strömt ihnen entgegen. Der Giftstrom ist weitergezogen. Das Leben ist aber dem Gift zum Opfer gefallen, Tote liegen übereinander, nur Amöben haben überlebt. Die Freunde fahren nach London und finden eine gespenstische Stadt vor. Brände haben gewütet, die Stadt sieht aus wie im Krieg oder nach einer Pestepidemie. Doch plötzlich fangen einige Leute an sich zu regen. Das Gift war nicht tödlich, sondern hat Mensch und Tier nur in eine kataleptische Starre versetzt. Die Erwachenden fahren wie vor der Bewusstlosigkeit in ihren Tätigkeiten fort, bis sie erkennen, dass ihnen 28 Stunden ihrer Erinnerung fehlen und in dieser Zeit riesige Schäden mit Tausenden von Todesopfern entstanden sind. Der vorher in der Öffentlichkeit belächelte Challenger ist glänzend rehabilitiert und das alltägliche Leben nimmt wieder seinen gewohnten Gang auf.
Die zweite Geschichte Als die Erde schrie (When The World Screamed) ist die skurrilste aller Challenger-Erzählungen. Der streitbare Professor glaubt entdeckt zu haben, dass die Erde in Wirklichkeit ein lebendes Wesen ist, ähnlich einem Seeigel, und sucht nach einem Beweis für seine Theorie. Er lässt auf einem Stück Land, das ihm gehört, fünf Meilen in die Tiefe bohren, und holt für die letzte Bohrung einen Spezialisten für artesische Brunnen in den Schacht. Dieser installiert nach Challengers Anweisungen einen Elektrobohrer, der von der Ferne aus betätigt werden kann. Die finale Bohrung hat ein für alle Beobachter außer Challenger überraschendes Ergebnis. Ein entsetzlicher Schmerzensschrei, ein Wutgeheul, ein Hassgesang, lauter als tausend Sirenen, dröhnt in ihre Ohren! Der Inhalt des Bohrschachtes wird von einer rasenden Druckwelle erfasst und ausgespien. Dann folgt eine Fontäne voll ekelhafter Substanz, schlimmer stinkend als die Abwehrsäfte eines Stinktiers, mit einer Wirkung, dass die Getroffenen sich mehrere Tage nicht in Gesellschaft Anderer blicken lassen können. Die Selbstheilungskräfte der Erde wirken, der Bohrschacht stürzt in sich zusammen und schließt sich. Doch überall auf der Erde brechen die Vulkane aus, bis sich unser gereizter Mutterplanet wieder beruhigt.
Challenger wird von seinem Freund Malone gebeten, ihn bei einer Recherche zu unterstützen. Ein Wissenschaftler behauptet, eine epochemachende Entdeckung gemacht zu haben. Challenger und Malone suchen ihn auf, um sich von der Tatsache zu überzeugen, dass es Die Desintegrationsmaschine wirklich gibt. Theodore Nemor ist ein unsympathischer, schleimiger Typ, der behauptet, mit seiner Erfindung beliebige Gegenstände, aber auch Personen, durch Auflösung der Molekülstruktur zum Verschwinden bringen zu können. Er hätte das Verfahren auch bereits an eine gut zahlende ausländische Macht verkauft, die Unterlagen seien aber noch in seinem Besitz, behauptet er. Durch Challengers forsche Art herausgefordert, lässt er erst Malone und dann den Professor selbst Platz in einem Stuhl nehmen, tatsächlich verschwinden und nach einigen Minuten wieder zusammensetzen. Bei Challenger erlaubt er sich aber einen Scherz, denn der Professor geht eines Teils seines Bartes und seiner Haarpracht verlustig. Der listige Professor lässt den Erfinder selbst Platz nehmen und betätigt wie zufällig den Hebel für das Verschwinden. Allerdings holt er Nemor nicht mehr zurück, denn diese Erfindung könnte unermessliches Leid für die Menschheit bedeuten, und dies außerdem im Besitz einer außerirdischen Macht. Die Aktion hat ein Menschenleben gekostet, aber viele Morde zu verhindern ist die erste Bürgerpflicht.
Weiters gibt es über Professor Challenger noch den Roman Das Nebelland (The Land of Mist), ein Alterswerk von Conan Doyle aus dem Jahr 1926, als er sich intensiv mit Spiritismus befasste. Challenger untersucht paranormale Phänomene und Séancen. Schließlich lässt sich der Skeptiker nach einer spiritistischen Begegnung mit seiner verstorbenen Frau davon überzeugen, dass es sich um keine Scharlatanerie handelt und es wirklich ein Leben nach dem Tod gibt. Der Roman erschien bereits ebenfalls 1926 auf Deutsch und ist seit kurzem auch wieder als Book on Demand als Bestandteil einer Challenger-Gesamtausgabe greifbar.
Wenn man bereit ist, sich auf skurrilen Humor und unwahrscheinliche Vorkommnisse und Erfindungen einzulassen, kann man sich bei den Challenger-Geschichten auch heute noch köstlich unterhalten. Die Aufnahme von Die verlorene Welt in die Reihe der Heyne Science Fiction Classics ist auf jeden Fall gerechtfertigt. Das Werk hat in der Geschichte der SF und Fantasy durch die Einführung von beispielgebenden Motiven und die Namensgebung für ein Subgenre Bedeutung erlangt.
Anmerkung:
Es wird die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics, die Neuausgabe sowie die Erstausgabe des Werkes angeführt.
Kommentare
Schwer nachzuvollziehen, wie jemand wie Doyle, der sich so lange mit Logik und rationalen Dingen beschäftigt hat, am Ende beim Spiritismus landen konnte.
Allerdings war die Idee so neu auch nicht. Verne war vor ihm da.
Ansonsten wie immer Klasse.
Danke für den Hinweis auf den Tippfehler - ist korrigiert!
(oben zweite Zeile im Absatz neben dem Portrait-Foto)
Harantor sagt: Jetzt aber