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Heyne Science Fiction Classics 10 - Robert Sherriff

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 10: Robert Sherriff
Der Mond fällt auf Europa

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

Ein beliebtes Thema in der Science Fiction ist die Schilderung von großen Naturkatastrophen, welche die Erde vernichten oder ihr wenigstens großen Schaden zufügen und der Kampf der überlebenden Menschen um ihre Existenz. In der vorliegenden Artikelserie haben wir mit den beiden Weltuntergangsromanen von Philip Wylie und Edwin Balmer bereits zwei wichtige Beispiele vorgestellt. Auch Atlantis von Hans Dominik gehört zum Teil in diese Schublade. An die Seite der Naturkatastrophen stehen die von Menschen gemachten Katastrophen. Philip Wylies Planet im Todeskampf ist ein Beispiel für den Untergang der Zivilisation durch exzessive Umweltverschmutzung, und natürlich sind Atomkriege und ihre Folgen auch in diese Kategorie einzuordnen. Dafür wird es in dieser Artikelserie ebenfalls einige Beispiele geben. Aber heute bleiben wir bei der Naturkatastrophe, welche uns der englische Autor Robert Sherriff auf eine geradezu skurrile Art näherbringt.

Heyne Science Fiction ClassicsRobert Cedric Sherriff (1986 – 1975) arbeitete zuerst jahrelang als Versicherungsangestellter, schrieb aber bereits Stücke für Amateurtheater, bevor er sein Hobby zu seinem Beruf machte und als Schriftsteller und Drehbuchautor sein Geld verdiente. Er war Teilnehmer des Ersten Weltkriegs und wurde schwer verwundet. Seinen Durchbruch als Autor hatte er 1928 mit dem Stück The Journey's End (Die andere Seite), in dem er seine Kriegserfahrungen einfließen ließ. Sein Roman The Hopkins Manuscript, welcher den Sturz des Mondes auf die Erde und die daraus folgende katastrophale Entwicklung auf der Erde schildert, erschien kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Heyne Science Fiction ClassicsDie Kaiserlich Wissenschaftliche Gesellschaft von Abessinien entdeckt in den Ruinen von Notting Hill ein Manuskript, das Jahrhunderte in einer Thermoskanne überstanden hat und nach seinem Verfasser Hopkins-Manuskript genannt wird. Die abessinischen Historiker sind von der Selbstüberschätzung und beschränkten Vorstellungskraft des Verfassers schwer enttäuscht, und so ist es kein Wunder, wenn sich nur wenige Menschen für die Aufzeichnungen interssieren. Und doch ist es der einzige persönliche Alltagsbericht, welcher die gravierenden Umwälzungen während der großen Erdkatastrophe und den Zusammenbruch der westlichen Zivilisationen schilderte. Die Kultur der Weißen ist durch diese Ereignisse komplett verschwunden. Der alte Kontinent wurde durch Neusiedler kolonisiert, doch England ist wegen seines feucht-unangenehmen Klimas nicht wieder besiedelt worden. Seine Städte und Dörfer sind mittlerweile unter neuen Sümpfen und Wäldern begraben. Das Hopkins-Manuskript ist eine Erinnerung an ein einst ruhmreiches Volk.

Edgar Hopkins ist ein neunundvierzigjähriger Juggeselle, der sich von seinem Beruf als Lehrer zurückgezogen und mittlerweile auf Geflügelzucht spezialisiert hat. Sein größtes Glück ist es, wenn seine Hennen Preise bei Geflügelausstellungen einheimsen. Hopkins lebt in einem kleinen Besitztum in den Ausläufern des Dorfes Beadle in Hampshire. Durch einen Nachbar angeregt wird er außerordentliches Mitglied der Britischen Gesellschaft für Mondforschung. Deswegen gehört Hopkins zu den wenigen Privilegierten, die bei einer Sonderversammlung eine wahrhaftig niederschmetternde Nachricht erfahren: Irgendeine gigantische Macht hat den Mond gezwungen, seine Bahn zu verlassen und einen Kurs auf die Erde zu nehmen! In sieben Monaten wird der Erdbegleiter auf seinen Mutterplaneten treffen. Ist das das Ende der Welt? Die Mitglieder der Gesellschaft werden zu strengstem Stillschweigen verpflichtet, um keine Panik in der Bevölkerung auszulösen. Nur führende Männer der verschiedenen Länder kennen die Wahrheit und verordnen unter veschiedensten Vorwänden Vorbereitungen, um der kommenden Katastrophe zu begegnen. Hopkins führt sein normales Leben weiter, obwohl ihm das Verhalten seiner Mitmenschen – und oft auch sein eigenes – immer lächerlicher vorkommen. ER lässt vom Gärtner Sträucher in Hennenform schneiden, spielt mit Dorfbewohnern Karten und lässt seine Hennen bei einer Ausstellung auftreten und sich aufplustern. Der Mond kommt in der Zwischenzeit näher, es wird deswegen nicht ewig möglich sein, das Geheimnis weiter zu behalten. Der Premierminister kündet im Parlament an, dass jede Gemeinde Bunker bauen sollte, um vor einem allfälligen kriegerischen Angriff von Feinden geschützt zu sein. Hopkins meldet sich freiwillig zum Mitmachen, ist aber enttäuscht, weil der regionale Abgeordnete das Kommando übernimmt und seine geologische Expertise nicht berücksichtigt. Er verbringt ein letztes Weihnachtsfest zusammen mit Onkel Henry und Tante Rose in Notting Hill. Schließlich trifft die Regierung – drei Monate vor dem drohenden Einschlag und kurz vor dem kommenden Vollmond - endlich die Entscheidung, dass die Bevölkerung informiert werden muss. Am Land sollen die Pfarrer die Botschaft von der Kanzel verbreiten. Als Pfarrer Edwards bei seiner Predigt auf den Weltuntergang zu sprechen kommt, zucken die meisten Kirchgänger die Achseln, denn sein Vorgänger hatte meistens wegen der Sünden seiner Schäfchen vom kommenden Jüngsten Gericht gesprochen. So machen die meisten Leute ungerührt ganz normal mit ihrem Leben weiter. Einige glauben, dass die Erde wahrscheinlich vom Mond nur gestreift wird und nachdem sie sich geschüttelt hat, in ihrem Lauf fortfahren wird. Nur wenigen wird klar, was wirklich bevorsteht.

Edgar macht einen Abschiedsbesuch bei Onkel und Tante. Er wird sie nie wiedersehen. Schließlich wird der Bunker im Dorf fertig, und etliche Sportsbegeisterte spielen ein letztes nächtliches Cricketmatch unter dem riesigen Mond. Das Fest findet ein jähes Ende, denn ein unheimlicher Wirbelsturm fegt als Ouvertüre zur Katastrophe das Festzelt hinweg.

Es war die seltsamste Katastrophe, die ich je erlebte. Es begann mit dem langgedehnten Murmeln fernen Donners, aber das Murmeln erstarb nicht, wie das Murmeln des Donners erstirbt. Von jenseits des Tales kam ein tiefes, stärker werdendes Grollen, und die ganze Landschaft schien aus ihrem unruhigen Schlaf aufzuschrecken. Die Baumkronen zitterten, die Hunde im Dorf stimmten das klagende Heulen der Steppenhunde an.

Das Eigenartige an diesem Orkan war, daß er uns fast unvesehrt ließ und uns nur dann und wann mit einem zuckenden Strich seiner furchtbaren Zunge streifte.

Mit gräßlicher Geschwindigkeit wurde das Murmeln und Grollen zu einem Brüllen, das über das Tal hinweg fuhr wie ein mächtiger Fluß, der Hochwasser führt – ein Fluß, durch den sich hundert D-Züge durchackern; und als er an Kraft zunahm, wurde es ein langgezogenes Schmerzgeheul.

(Zitiert aus: R. C. Sherriff: Der Mond fält auf Europa. München 1970, Heyne SF 3198/98, S. 149)

Edgar beschließt, nicht in den Bunker zu gehen, sondern den Weltuntergang zuhause abzuwarten, denn er hat Platzangst und will sich nicht mit den anderen Dorfbewohnern Schulter an Schulter drängen. So ist er einer von wenigen Dorfbewohnern, die den Einschlag des Mondes überleben, denn durch ein Erdbeben reißt der Bunker auf und die meisten Menschen ersaufen jämmerlich. Eine titanische Flut dringt bis zum Dorf vor und verschwindet wieder gespenstisch, einen Haufen Unrat und ein gestrandetes Hochseeschiff zurücklassend, Dutzende Meilen von der Meeresküste entfernt. Die Atmosphäre wird von der Erde weggerissen. Edgar erstickt beinahe in seinem Wohnzimmer, flieht in die Bibliothek und dichtet die Türfugen mit einem Fetzen ab. Als er es in der verbrauchten Luft nicht mehr aushält, reißt er die Tür auf. Das Luft ist wieder zurückgekehrt. Edwards Haus hat das Desaster überstanden, wenngleich schwer beschädigt. Zusammen mit Robin und Pat, zwei jungen Geschwistern aus der Nachbarschaft, und dem alten Humphrey, der Faktum im Herrenhaus gewesen war, baut Edgar eine kleine Gemeinschaft auf, um das Überleben als Selbstversorger zu sichern.

Nach Monaten gibt es das erste Lebenszeichen, das von außerhalb des Dorfes stammt. Ein Flieger landet. Er ist im Auftrag der Regierung unterwegs, um Überlebende zu suchen. Die vier Dörfler erfahren, was mit dem Mond passiert ist. Er hat den westlichen Rand Europas gestreift, ist in den Atlantik gestürzt und hat sich dort zusammengefaltet, denn er war eine Hohlkugel mit dünner Kruste. Seine Überreste haben neues Land anstelle des Atlantiks geschaffen.

Es folgt eine Zeit des Wiederaufbaus. Degar findet sogar seine preisgekrönte Henne Broodie wieder. Mit einem Hahn, den er in der kleinen benachbarten Stadt erwerben kann, beginnt er eine neue Geflügelzucht und bringt es sogar zu einem Ruhm, der ihm vor der Katstrophe bei weitem nicht in diesem Ausmaß zugeflogen war. Die Gesellschaft konsolidiert sich langsam, aber sicher, die Stromversorgung wird wiederhergestellt, Transportwege instandgesetzt. Die europäischen Länder schließen sich zu Vereinigten Staaten zusammen. Doch es ist nur ein Strohfeuer. Als wertvolle Mineralien auf der neuen Landfläche gefunden werden, in der die Überreste des Mondes konzentriert sind, bricht ein Streit zwischen den Staaten über die Besitzrechte aus. Die Streitigkeiten eskalieren, es kommt zum Krieg, der das ausgeblutete Europa endgültig den Garaus macht. Die kleine Gemeinschaft in Beadle zerfällt, denn Robin meldet sich zur Armee und Pat dient als Krankenschwester für die Kriegsverwundeten. Der Krieg entwickelt sich eigenartig, denn auf einmal schließen sich die vormals verfeindeten Europäer zusammen. Ein neuer Feind ist hervorgetreten, denn eine Armee schwarzer Männer überflutet den alten Kontinent. Unter ihrem Anführer Selim haben sich die Völker des Ostens und des Südens gegen ihre früheren Unterdrücker erhoben und nehmen Europa in Besitz. Edgar kehrt ein letztes Mal nach London zurück. Er findet das Haus von Onkel und Tante leer und vollendet seine Aufzeichnungen über den Untergang der weißen Rasse.

Beim Lesen des Buches kam mir das Wort von der „gemütlichen Katastrophe“ in den Sinn. Brian W. Aldiss und David Wingrove verwendeten den Ausdruck für dieses Buch und ähnliche Beispiele in Der Milliarden-Traum (Billion Year Spree), einer Literaturgeschichte der Science Fiction, der ich sehr viel verdanke und die für mich in mancher Hinsicht ein Vorbild für mein eigenes Schreiben ist. Tatsächlich bezieht sich der Ausdruck auf die Schilderung von Katastrophen, wie sie vor allem Engländer perfekt beherrschen. John Wyndham, den wir in dieser Artikelserie auch näher betrachten werden, ist ein weiteres Beispiel dafür. Das Tempo in Der Mond fällt auf Europa plätschert so gemächlich dahin, und die Leute sind so halsstarrig im Ignorieren dessen, was ihnen bevorsteht, dass man den Roman in weiten Teilen nur als Satire auf die britische Lebensart zwischen den Weltkriegen verstehen kann. Allerdings ändert sich der Ton im letzten Viertel der Erzählung. Hier wird die Satire zur Tragödie. Das ist ja durchaus in Ordnung. Leider wird der Roman durch die absurde Hypothese enwertet, dass der Mond hohl ist, nur eine dünne Hülle hat und sich auf den Atlantik legt, ohne auf der Erde einen „Totalschaden“ zu verursachen. Dazu kommt auch die unglaubwürdige Schilderung der Annäherung unseres Begleiters mit der Prämisse, dass der Großteil der Menschen seine Veränderung ignorieren oder überhaupt nicht bemerken würden. Katastrophen, die sich bereits bei der Annäherung des Mondes ereignen müssten, werden höchstens angedeutet. Ein Minus verdient auch der unrichtige deutsche Titel, denn der Mond fällt eben nicht auf Europa. Als Klassiker der Science Fiction ist der Roman also auf gar keinen Fall einzustufen und deswegen in den Heyne Science Fiction Classics fehl am Platz. Mit Gewinn lesen kann man ihn nur, wenn man eine Vorliebe für die Schilderung der skurrilen Charaktereigenschaften der Bewohner der Britischen Inseln hat. Wenn mir ein Vergleich einfällt, dann sind es auf gar keinen Fall die beiden Weltuntergangsromane von Philip Wylie und Edwin Balmer, die das katastrophale Szenario wesentlich plausibler schilderten. Nein, es ist der Roman Jonathan Strange und Mr. Norrell der (natürlich ebenfalls) britischen Autorin Susanna Clarke über eine Konkurrenzsituation zwischen zwei Zauberern, bei dessen Lekture mir ebenfalls alle Körperteile eingeschlafen sind. Der Mond fällt auf Europa ist nach seinem Erscheinen jedenfalls bald aus der Aufmerksamkeit seiner britischen Mitmenschen verschwunden, denn eine andere Katastrophe, der Zweite Weltkrieg, brach über die Menschheit herein und drängte alle anderen Themen in den Hintergrund.


Titelliste von Robert C. Sherriff

Anmerkung:
Es wird die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics sowie die Erstausgabe des Werks angeführt.


1970

3197/98 Der Mond fällt auf Europa (Ü.: Maria von Schweinitz)
Originalausgabe: The Hopkins Manuscript, 1939; auch unter dem Titel The Cataclysm erschienen
deutsche Estausgabe: Schloß Kühlenfels, Magnus, 1955


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Tags: Science Fiction and Fantasy

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