Heyne Science Fiction Classics 13 - Bernhard Kellermann
Die Heyne Science Fiction Classics
Folge 13: Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Unter den Themen der Science Fiction ist die technische Innovation eines der beliebtesten. Das ist handfester als die Schilderung von gesellschaftlichen Veränderungen, da lassen sich Handlungen stricken, welche speziell bei jungen Menschen leuchtende Augen erzeugen. Beim Subthema Verkehr geht es nicht nur um die Weiten des Weltalls, sondern auch um die rasche Verbindung verschiedener Regionen auf der Erde. Wenn wir etwas in der Geschichte zurückblicken wird deutlich, welche Revolution für das Transportwesen die Entwicklung der Eisenbahn bedeutet hat. Das hatte unmittelbare Folgen für den Handel, die entstehende Industrie und den aufblühenden Fremdenverkehr und war der technologische Treiber für das 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert spielen dann das Automobil und etwas später das Flugzeug eine ähnliche Rolle. Mit der Entwicklung der maschinengetriebenen Verkehrsmittel sind uns Gegenden nahegerückt, die für frühere Generationen zum Großteil unerreichbar waren oder nur mit monatelangen mühevollen und gefährlichen Reisen erreicht werden konnten. In seinem Roman Der Tunnel beschrieb Bernhard Kellermann nicht nur ein technisches Bauwerk, sondern die gesellschaftlichen Umwälzungen, die damit verbunden waren.
Bernhard Kellermann (1889 – 1951) war ein deutscher Schriftsteller, der zuerst an der Technischen Hochschule in München und dann Germanistik und Malerei studierte. Er machte sich bald als Schriftsteller mit Romanen und Reiseberichten einen Namen. Sein Roman Der Tunnel wurde sein bekanntestes Werk. Nach der Machtübenahme durch die Nazis wurde Kellermann von der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen, weil er sich in einem Roman kritisch über das Verhalten der Militärs gegenüber der Bevölkerung auseinandergesetzt hatte. Nach dem Krieg engagierte er sich für die DDR und wurde Abgeordneter der Volkskammer. Er wurde deshalb vom westdeutschen Buchhandel boykottiert. Er setzte sich aber für gesamtdeutsche Zusammenarbeit ein.
Der titelgebende Tunnel ist ein Transatlantik-Tunnel, der unter großen Opfern und trotz eines katastrophalen Unfalls gebaut wird. Der Ingenieur Mac Allen ist der geistige Schöpfer des gigantischen Plans. Er ist bereits durch die Erfindung der superfesten Stahllegierung Allanit bekannt geworden. Dieses Material spielt bei auch seinen Tunnelplänen eine wichtige Rolle. Einen entscheidenden Erfolg erzielt Mac, als er durch Vermittlung seines Freundes Frank Hobby den Industriellen und Finanzmagnaten Charles Lloyd für seine Pläne gewinnen kann.
„Der Tunnel der Beringstraße, der vor drei Jahren in Angriff genommen wurde“, sagte Allen, „der Dover-Calais-Tunnel, der in diesem Jahr seiner Vollendung entgegengeht, haben zur Genüge bewiesen, daß der Bau submariner Tunel der modernen Technik keine Schwierigkeiten bereitet. Der Dover-Calais-Tunnel hat eine Känge von rund fünfzig Kilometern. Mein Tunnel hat eine Länge von rund fünftausend Kilometern. Meine Aufgabe besteht demnach lediglich darin, die Arbeit der Engländer und Franzosen zu verhundertfachen, wenn ich auch keineswegs die größeren Schwierigkeiten verkenne. Finanziell hängt die Ausführung des Projektes von Ihrer Zustimmung ab. Ihr Geld brauche ich nicht, denn ich werde den Tunnel mit amerikanischem und europäischen Geld, mit dem Geld der ganzen Welt bauen. Das Projekt technisch in der Zeit von fünfzehn Jahren zu bauen, ist allein von meiner Erfindung bedingt, die sie kennen, dem Allanit, einem Hartstahl, das der Härt des Diamanten nur um einen Grad nachsteht, die Bearbeitung des härtesten Gesteins ermöglicht und es erlaubt, eine unbeschränkte Anzahl von Bohrern in beliebiger Größe äußerst billig herzustellen.“
(Zitiert aus: Bernhard Kellermann: Der Tunnel. Müncehn 1972, Heyne SF 3311, S. 28)
Eine Reihe von weiteren Superreichen steigt ebenfalls in die Finanzierung des Projektes ein, und somit kann das Atlantik-Tunnel-Syndikat gegründet werden. Auch zigtausende Kleinanlager beteiligen sich durch Aktienkauf und bringen das Startkapital für das teuerste Projekt der Menschheitsgeschichte auf. Bei den Tunnelportalen wachsen riesige Städte für die Arbeiter und ihren Anhang. Über 180000 Menschen aus unterschiedlichsten Nationen arbeiten an den insgesamt fünf Großbaustellen.
Drei Tage nach dem ersten Spatenstich war die Tunnelstadt ein Minen-Camp gewesen, dann ein Feldlager und eine Woche später eine ungeheure Barackenstadt, in der zwanzigtausend Menschen kampierten, mit Schlachthäusern, Molkereien, Bäckereien, Basaren, Bars, Post, Telegraf, einem Hospital und einem Friedhof.
Acht Tage später erschien inmitten der Barackenstadt ein schwarzer, heulender und gellender Dämon: Eine riesige amerikanische Güterzugmaschine auf hohen roten Rädern, die einen endlosen Zug von Waggons nachschleppte. Sie stand fauchend in dem Trümmerfeld und stieß eine schwarze, hohe Rauchwolke in die grelle Sonne empor. Alle blickten auf sie und schrien und heulten begeistert: Es war Amerika, das in die Tunnelstadt gekommen war!
An andern Tag waren es Rudel, eine Woche später Schwärme dieser schwarzen, rauchenden Dämonen. Die Barackenstadt sah aus, als ginge sie in Qualm auf.
Die Baustelle war hier vierhundert Meter weit und zog sich fünf Kilometer schnurgerade ins Land hinein. Sie wurde in Terrassen abgebaut, die tiefer und tiefer stiegen. An der Mündung der Tunnelstollen sollte die Sohle der Terrassen zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel liegen.
Heute eine sandige Heidefläche mit einer Heerschar von buntfarbigen Pflöcken, morgen ein Sandbett, übermorgen eine Kiesgrube, ein Steinbruch, ein ungeheurer Kessel aus Konglomeraten, Sandseinen, Tonen und Kalk, und zuletzt eine Schlucht, in der es wimmelte wie von Maden. Das waren Menschen, winzig von oben gesehen, weiß und grau vom Staub, graue Gesichter, Staub in den Haaren und Wimpern und einen Brei von Staubmasse zwischen den Lippen. Zwanzigtausend Menschen stürzten sich Tag und Nacht in diese Baugrube hinein.
Fünf Kilometer vom „Schacht“ entfernt aber – wo die Trasse sich in sanftem Winkel zu neigen beginnt – stehen in einer Wolke von Öl, Hitze und Rauch vier finstere Maschinen auf funkelnagelneuen Schienen und warten und qualmen.
Vor ihren Rädern blitzen Schaufeln und Picken. Schweißtriefende Rotten heben den Boden aus und füllen ihn auf mit Steinblöcken und Schottersteinen, die aus Kippwagen die Böschung herunterpoltern. In die Steine betten sie Schwellen, die noch kleben von Teer, und wann sie eine Leiter von Schwellen gelegt haben, so schrauben sie die Schienen darauf fest. Und wenn sie fünfzig Meter Schienen gelegt haben, so pusten und zischen die vier schwazen Maschinen und bewegen die Stahlgelenke, drei-, viermal, und schon sind sie wieder bei den blitzenden Schaufeln und Picken angelangt.
So wandern die schwarzen Ungeheuer jeden Tag vorwärts. Und eines Tages stehen sie tief zwischen hohen Geröllbergen, bis sie eines Tages tief unter den Terrassen in einem Kamin von steilen Betonwänden vor der Felswand stehen, wo im Abstand von dreißig Schritten zwei große Bogen angeschlagen sind – die Mündung des Tunnels.
(Zitiert aus: Bernhard Kellermann: Der Tunnel. München 1972, Heyne SF 3311, S. 36f)
Das Westportal liegt in den USA südlich von New York, Zwischenstationen liegen auf den Bermudas, den Azoren und Nordspanien, während sich das Ostportal in Großbritannien befindet. Der Ärmelkanaltunnel ist im Roman bereits verwirklicht.
Mac Allen gibt in der Öffentlichkeit eine Bauzeit von 15 Jahren bekannt. Obwohl die Tunnelbau gut vorankommt und sich aufgrund des übermenschlichen Einsatzes von Mac die Vortriebsgeschwindigkeit sukzessive erhöht, wird klar, dass diese Zeit kaum einzuhalten wird. Mac lebt für sein Projekt und findet kaum Zeit für seine Frau Maud und seine kleine Tochter Edith. Maud ist unzufrieden, es kommt zur Entfremdung mit ihrem Mann. Sie findet eine neue Aufgabe in einer karitativen Betätigung in der Arbeiterstadt Mac City am Tunnelportal. Das wird ihr neben vielen anderen Menschen zum Verhängnis. Denn im sechsten Baujahr kommt es zu einer Katastrophe, welche den Bau zum Stillstand bringt. Die Tunnelbaumaschine dringt in einen Hohlraum ein, es kommt zur Bildung einer brennbaren Gasmischung und zu einer gigantischen Explosion.
Er richtete sich halb auf und sah, daß die Bohrmaschine brannte. Zu seinem Erstaunen sah er Haufen nackter und halbnackter Menschen in den erschreckendsten Verrenkungen auf dem Schutt liegen, und sie alle regten sich nicht. Er sah, daß sie überall lagen, neben ihm, ringsumher. Sie lagen mit offenem Mund, lang hingestreckt mit zermalmten Köpfen, eingeklemmt zwischen Pfosten, aufgespießt, in Stücke zerfetzt. Überall lagen sie! Sie lagen verschüttet bis zum Kinn, zusammengerollt zu einem Knäuel, und so viele Steinblöcke, Balken, Pfosten und Karrentrümmer es hier gab, ebenso viele Köpfe, Rücken, Stiefel, Arme und Hände starrten aus dem Schutt. Mehr! Hobby schrumpfte ein vor Grauen, es schüttelte ihn, daß er sich festhalten mußte, um nicht hinzuschlagen. Jetzt verstand er auch die sonderbaren Laute, die nah und fern den halbdunklen Stollen füllten. Dieses Miauen, Greinen, Winseln, Schnauben und Brüllen wie von Tieren – diese unerhörten, nie gehörten Laute -: das waren Menschen! Seine Haut, sein Gesicht und seine Hände erstarrten wie vor Kälte, seine Füße waren gelähmt. In seiner nächsten Nähe saß ein Mensch, dem das Blut aus dem Mundwinkel lief wie aus einem Brunnen. Der Mensch atmete nicht mehr, aber er hielt die hohle Hand darunter, und Hobby hörte das Blut plätschern und rieseln. Es war der kleine Japaner. Er erkannte ihn. Plötzlich sank seine Hand herunter, und sein Kopf neigte sich, bis er aufschlug.
(Zitiert aus: Bernhard Kellermann: Der Tunnel. München 1972, Heyne SF 3311, S. 70)
Das Unglück kostet über 2800 Menschen das Leben. In der Stadt bildet sich ein Menschenmob von aufgehetzten Angehörigen, welche Maud und Edith stellvertretend für den Mann und Vater steinigen.
Das Projekt scheint gescheitert. Die Arbeiter werden entlassen, das Tunnelbausyndikat wankt, fällt aber nicht. Doch ein Jahr später, als sich die Verhältnisse wieder zu konsolidieren beginnen, frisches Kapital herbeigeschafft wurde und die Arbeiter bereit sind, die Arbeit von Neuem aufzunehmen, kommt es zum großen Knall. S. Woolf, der Finanzjongleur und Leiter des Syndikats, hat unerlaubter Weise mit dem Geld der Firma für eigene Projekte spekuliert und Pleite gemacht. Er begeht Selbstmord, die Firma geht in Konkurs. Mac Allen, der gefeierte Held, wird zum Verfemten, der Hunderttausende von kleinen Anlegern um ihre Ersparnisse gebracht hat. Er wird vor Gericht gestellt und wegen Betrugs verurteilt, weil er zugibt, dass seine kolportierte Bauzeit von 15 Jahren nur unter optimalen Voraussetzungen gehalten werden hätte können. Die Katastrophe und der Baustillstand haben eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst, von der sich die Erde nur langsam erholt.
Doch nach einer Revision beim Obersten Gerichtshof ist Allan wieder ein freier Mann. Sein Lebenswerk ist doch noch nicht verloren. C. Lloyd kann nochmals eine Weiterfinanzierung auf die Beine stellen. Seine Tochter Ethel, die längst ein Auge auf Mac geworfen hatte, gelingt es, die beiden wieder zusammenzubringen und sie wird Macs zweite Ehefrau, obwohl er sie nicht liebt. Endlich wird der Bau fortgesetzt.
Der Tunnel holte tief Atem. Wie eine Riesenpumpe begann er, Menschenleiber anzusaugen und auszuspeien, und schon am sechsten Tage arbeitete er mit seiner alten Geschwindigkeit. In den Stollen donnerten die Bohrmaschinen, die glühenden, wütenden Nashörnern aus Allanit rasten wie früher glühend und heulend ins Gestein. Die schweißtriefenden Menschenhaufen wälzten sich wieder im gleißenden Licht der Scheinwerfer vor und zurück. Als sei nie etwas geschehen. Streik, Katastrophe – alles war vergessen! Allan peitschte zu dem alten Höllentempo an, und auch er dachte nicht mehr daran, daß es einst anders gewesen war.
(Zitiert aus: Bernhard Kellermann: Der Tunnel. Müncehn 1972, Heyne SF 3311, S. 193)
Diese expressionistische Beschreibung erinnert etwas an den berühmten Film Metropolis von Fritz Lang und Thea von Harbou, wo auch Menschenmassen in das Radwerk einer riesigen Maschinerie geraten. Und auch Berge, Meere und Giganten von Alfred Döblin, ein SF-Außenseiter aus den zwanziger Jahren, kommt einem in den Sinn.
Nach 26 Jahren wird der Tunnelbau vollendet. Mac persönlich führt den Zug nach Europa. Sein erster Passagier ist Lloyd – das Geld repräsentiert die wahre Macht, kein Präsident oder König. Mit nur zwölfminütiger Verspätung findet die vierundzwanzigstündige Fahrt in Europa ihr glückliches Ende.
Warum ist Kellermanns Vision niemals Wirklichkeit geworden? Die technischen Möglichkeiten müsste es doch heute geben! Aus meiner Sicht schlicht und einfach, dass Aufwand und möglicher Ertrag in keinem Verhältnis steht. Was Kellermann nicht vorausgesehen hatte, war die sprunghafte Entwicklung, welche die Luftfahrt genommen hat und die jedem solchen Projekt das Wasser abgegraben hat. Mittlerweile gibt es doch lange Tunnel unter Meeresarmen wie den Ärmelkanaltunnel mit 50 km und in Japan den Seikantunnel mit 54 km! Aber dabei handelt es sich um Tunnels, die nur einen Bruchteil der Länge eines potentiellen Atlantiktunnels haben, zwischen dicht besiedelten Gebieten liegen und große Kapazitäten für den Verkehrstrom zwischen den benachbarten Regionen bieten. Interessant ist im Vergleich zu Kellermanns Vision, dass auch die Eurotunnelgesellschaft aufgrund von Kostensteigerungen in finanzielle Schieflage kam, die Aktienkurse abstürzten und die Gesellschaft umschulden musste. Ohne die Umschuldung hätte der Konkurs angemeldet werden müssen. Auch hier haben viele Anleger Geld verloren. Mittlerweile schreibt das Unternehmen aber schwarze Zahlen.
Es gibt auch weitere Werke, welche sich des Themas annahmen. Bereits vor Kellermann beschrieb Michel Verne, der Sohn des berühmten Großvaters der Science Fiction, 1888 in seiner Geschichte Un Express de l'avenir ein vergleichbares Projekt. Der bekannte Perry Rhodan-Autor Klaus Mahn lieferte unter seinem weniger bekannten Pseudonym Cecil O. Mailer 1961 in der Utopia-Heftreihe den Kurzroman Der große Tunnel ab, welcher den Bau eines Tunnels zwischen dem englischen Festland und den USA schildert. Dieser Roman lieferte aber nur wenig Einblicke in die Faszination, welches ein solches Riesenprojekt ausstrahlen müsste, sondern begnügte sich mit einer relativ dümmlichen Gangsterstory über die Enttarnung eines Verräters, der sich von den Kommunisten anwerben hat lassen. Leider ist das eine der schwächsten Arbeiten des sonst von mir sehr geschätzten langjährigen Perry Rhodan-Stammautors. Der amerikanische Autor Harry Harrison verfasste 1972 mit A Transatlantic Tunnel, Hurrah! einen Alternativweltroman, in dem es um eine kombinierte Pontonbrücken- und Tunnelverbindung am Grund des Atlantischen Ozeans geht. Der Roman wurde auch unter dem Namen A Tunnel Through the Deeps herausgegeben und auf Deutsch ebenfalls als Der große Tunnel betitelt.
Breite Anerkennung hat aber nur Kellermanns Tunnel erfahren, der Roman wurde auch mehrmals verfilmt. Jedenfalls ist das Werk ein absoluter Klassiker der deutschsprachigen Science Fiction. Der Roman erreichte Millionenauflagen, wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und erlebt auch heutzutage noch Neuausgaben. In der Reihe der Heyne Science Fiction Classics nimmt das Werk einen Ehrenplatz ein. Die Erstausgabe in der Klassikerreihe war wie zu dieser Zeit noch üblich gekürzt, aber nicht annähernd so schlimm wie der Laßwitz-Klassiker Auf zwei Planeten. Es gab dann einige Jahre später noch eine ungekürzte Neuausgabe in den Heyne Science Fiction Classics mit neuer Titelbildgestaltung, womit man dieses Kapitel letzten Endes zufrieden schließen kann.
Anmerkung:
Es werden die Ausgaben in den Heyne Science Fiction Classics, weitere Ausgaben im Heyne-Verlag sowie die Erstausgabe des Werks angeführt.
1972