Heyne Science Fiction Classics 24 - Leo Szilard
In mehreren Folgen dieses Artikelserie haben wir uns mit Romanen beschäftigt, welche vor den Folgen der atomaren Bedrohung gewarnt haben. Heute lernen wir einen Wissenschaftler kennen, der im realen Leben Einfluss auf die Entwicklung der Atomspaltung hatte und gegen die militärische Anwendung dieser Entdeckung eintrat. Der ungarisch-amerikanische Wissenschaftler Leo Szilard (1898 – 1964) wurde in Budapest geboren und studierte Elektrotechnik in seiner Heimatstadt. Nach dem Krieg ging er nach Deutschland, wo er nach einem Wechsel des Studiums zur Physik 1922 in Berlin promovierte. Einer seiner Lehrer war Albert Einstein. Nach der Machtergreifung der Nazis ging Szilard kurze Zeit nach Wien, bald aber nach England und entkam damit dem Terror, der ihm als gebürtigen Juden wahrscheinlich das Leben gekostet hätte. Nach dem Münchener Abkommen ging er in die USA, denn er erkannte die aufziehende Kriegsgefahr. Er hatte bereits im Bereich der nuklearen Kettenreaktion geforscht und überredete Einstein, die amerikanische Regierung zur Entwicklung einer Atomwaffe aufzufordern und so einer möglichen Waffe der Nazis zuvorzukommen. Er wurde Mitarbeiter am Manhattan-Projekt. Gemeinsam mit Enrico Fermi erreichte er die erste erfolgreiche Kettenreaktion und wurde somit einer der entscheidenden Gestalten, die hinter der Atombombe standen. Doch er wandelte sich angesichts der riesigen Gefahren von der Atomtechnik ab und versuchte 1945 vergeblich, den Einsatz der bereits entwickelten Atombomben zu verhindern. Nach dem Krieg forschte er im Bereich der Molekularbiologie weiter und übernahm eine Professur an der Universität von Chikago. Er schrieb zwischen 1946 und 1960 einige Science Fiction-Erzählungen, die im Band The Voice of the Dolphins gesammelt wurden und mit dem Stilmittel der Satire die Irrungen der Menschheit und besonders die Torheit der Regierenden auf Korn nehmen. Die deutsche Ausgabe hat ein kenntnisreiches Vorwort von Carl Friedrich von Weizsäcker erhalten.
Zehn Gebote: Das ist keine Geschichte, sondern eine interessante Alternative zu den biblischen Zehn Geboten:
1. Erkenne die Zusammenhänge der Dinge und die Gesetze der Handlungen der Menschen, damit Du wissest, was Du tuest.
2. Deine Taten sollen gerichtet sein auf ein würdiges Ziel, doch sollst Du nicht fragen, ob sie es erreichen; sie seien Vorbild und Beispiel, nicht Mittel zum Zweck.
3. Sprich zu den Menschen wie zu Dir selber ohne Rücksicht auf die Wirkung Deiner Rede, auf daß Du die Menschen nicht ausstoßest aus Deiner Welt und in der Vereinsamung der Sinn des Lebens Deinen Augen entschwindet und Du verlierest den Glauben an die Vollkommenheit der Schöpfung.
4. Zerstöre nicht, was Du nicht erschaffen kannst.
5. Rühre kein Gericht an, es sei denn, daß Du hungrig bist.
6. Begehre nicht, was Du nicht haben kannst.
7. Lüge nicht ohne Notwendigkeit.
8. Ehre die Kinder. Lausche andächtig ihren Worten und sprich zu ihnen mit unendlicher Liebe.
9. Verrichte sechs Jahre lang Deine Arbeit; im siebenten aber gehe in die Einsamkeit oder unter Fremde, damit die Erinnerung Deiner Freunde Dich nicht hindert zu sein, was Du geworden bist.
10. Führe das Leben mit leichter Hand und sei bereit fortzugehen, wann immer Du gerufen wirst.
(Zitiert aus: Leo Szilard: Die Stimme der Delphine. München 1976, Heyne SF 3475, S. 10)
Der Kriegsverbrecherprozeß: Nach dem für die Sowjetunion siegreichen Dritten Weltkrieg wird Szilard nach der bedingungslosen Kapitulation der Amerikaner der Prozess gemacht, denn als Beteiligter am Bau der Atombombe sei er zweifellos ein Kriegsverbrecher. Sein Eintreten gegen den Einsatz der Atombombe wird als unglaubwürdig angesehen und seine Briefe nicht als Beweismittel anerkannt, weil sie an die falschen Stellen gegangen seien. Auch der amerikanische Präsident ist angeklagt, wird aber mit dem Argument verteidigt, dass er nur den Ratschlägen der Experten gefolgt und quasi Anordnungen nachgekommen sei. Weder Szilard noch Truman noch einer der anderen Angeklagten wird verurteilt, denn bald kommt ein Hilfegesuch der Russen, das alles ändert. Denn der Virus, den sie als Waffe gegen die Amerikaner verwendeten, ist bei ihnen selbst außer Kontrolle geraten und der eigene Impfstoff wirkungslos. Bald wird ein Friedensvertrag geschlossen und sämtliche Prozesse niedergeschlagen, was große Erleichterung bei allen Angeklagten bewirkt.
Achtung alle Sterne: Die Roboterzivilisation des Planeten Cybernetica, welche aus 100 Seelen besteht, sendet in alle Richtungen der Glaxis einen Funkspruch aus und bittet um Rat. Beobachtungen der Erde haben ergeben, dass dort Lichtblitze stattgefunden haben, die auf Uranexplosionen zurückzuführen sein müssen. Seele 59 hat die Theorie aufgestellt, dass sich auf diesem Planeten möglicherweise Zellen die Fähigkeit erhalten haben, sich fortzupflanzen und sich in einem Entwicklungsprozess zu intelligentem Leben weiterzuentwickeln. Veränderungen der Planetenoberfläche und der Temperatur in bestimmten Bereichen des Planeten deuten darauf hin, meint 59. Die anderen Intelligenzen auf Cybenetica attestieren dieser gewagten Theorie wenig Glaubwürdigkeit, aber wenn es andere intelligente Wesen in der Galaxis gibt, welche Kenntnis über die Vorgänge auf der Erde haben, mögen sich diese doch bitte mit Informationen melden.
Der Zentralbahnhof: Als die Außerirdischen auf der Erde landen, sind sie betroffen, weil der Planet gänzlich verlassen ist. Sie finden Spuren von Radioaktivität in der Luft und erinnern sich daran, dass vor fünf Jahren rätselhafte Lichtblitze beobachtet worden waren, welche auf Uranexplosionen hingedeutet hatten. Die Einwohner haben sich also tatsächlich selbst umgebracht, wobei es nach einem Krieg zwischen zwei Kontinenten aussieht. Möglicherweise hat es sich um zwei verschiedene Arten von Erdwesen gehandelt? Diese These wird bei der Erforschung des bedeutungslosen Zentralbahnhofs einer riesigen Stadt erhärtet. Dieser diente offensichtlich als Knotenpunkt für die Beförderung von Personen mit einem außerordentlich primitiven Transportmittel auf Schienen. Es werden Schilder mit den Aufschriften „Raucher“ und „Nichtraucher“ gefunden, gleichzeitig findet man heraus, dass es Menschen mit verschieden stark pigmentierter Haut gegeben haben muss. Außerdem wird eine Anzahl von Bildern gefunden, die eine den anderen Menschen gleichende Spezies zeigt, welche aber Flügel hat. In älteren Bildern werden diese viel öfter dargestellt, sind sie etwa vor den anderen Erdlingen ausgestorben? Dann werden zwei kleinere, etwas versteckte Hallen entdeckt, welche die Aufschriften „Männer“ und Frauen“ haben und in denen eine Anzahl von Kabinen eingebaut sind, welche höchstwahrscheinlich zur Entsorgung der Exkremente gedient haben. Seltsam auch, dass die Kabinen ein kompliziertes Verschlusssystem aufweisen, wo in einem Behälter runde Scheiben liegen. Möglicherweise war das für eine rituelle Handlung, denn mussten die Erdlinge vor Absonderung der Exkremente diese Scheiben einwerfen und Reue für begangene Empfehlungen zeigen? Der Forscher Xram hat ist Urheber der Theorie. Diese bricht aber zusammen, als in den Wohnhäusern der Stadt ähnliche Kabinen entdeckt werden, wo aber keine Vorrichtung zum Einwerfen dieser ominösen Scheiben, auf denen das Wort „Freiheit“ eingestanzt ist, existiert. Xram ist ja ein ganz netter Kerl, aber mit seinen gewagten Hypothesen bewegt er sich öfters am Rand der Lächerlichkeit.
Die Stimme der Delphine: 1963 wird in Wien das biologische Forschungsinstitut errichtet. Das Institut wird von Amerikanern und Russen gemeinsam betrieben und soll sich um Fragen kümmern, die weder mit Landesverteidigung noch mit Politik zu tun haben. Überraschend ist, dass als eines der ersten Ergebnisse Erkenntnisse zur hohen Intelligenz der Delphine publiziert werden, die in einigen Bereichen den Menschen weit übertreffen. Delphine werden zu Forschungszecken im Institut gehalten. Die Wissenschaftler erlernen ihre Sprache und bilden sie in den Naturwissenschaften aus. Die Meeressäuger revanchieren sich auf die Art, dass in den nächsten Jahren dem Institut eine Reihe von Nobelpreisen zuerkannt werden, die auf Erkenntnissen beruhen, welche von den Delphinen an die menschlichen Institutsmitarbeiter übermittelt wurden. Das Institut und seine Delphine werden berühmt, durch die Forschungsergebnisse auch von staatlichen Zuwendungen unabhängig. Unter anderem wird eine aus Algen erzeugte Eiweißnahrung ein Hammer, die das Ernährungsproblem der Menschheit lösen kann und gleichzeitig die Fertilität der Frauen herabsetzt, was das Problem der Bevölkerungsexplosion beseitigt. Die katholische Kirche steht dem Verhütungsmittel anfangs zwar feindlich gegenüber, schließlich sieht auch der Papst ein, dass es sich nur um eine Nahrung handelt. Mit dem eingenommenen Geld kauft das Institut eine Reihe von Fernsehsendern auf der ganzen Welt und startet ein universelles Bildungsprogramm. Eine der populärsten Sendungen wird die Diskussionssendung Die Stimme der Delphine, welche ungeheuren politischen Einfluss gewinnt.
Politische Probleme seien oft verwickelt, doch kaum jemals ganz so tief wie die großen naturwissenschaftlichen Probleme, die man in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gelöst habe. Diese seien deshalb so schnell gelöst worden, weil sie dauernd von Wissenschaftlern frei diskutiert wurden. Man dürfe erwarten, daß auch die Lösung der politischen Fragen durch die gleiche Art der Diskussion beschleunigt werden könne. Die Auseinandersetzung der Politiker über politische Probleme sei weniger ergiebig, weil sie sich in einem wichtigen Punkt von der Auseinandersetzung der Naturwissenschaftler über ihre Probleme unterscheide: behaupte ein Forscher etwas, so hätten seine Kollegen sich nur zu fragen, ob es wahr sei. Behaupe ein Politiker etwas, so müßten sich seine Kollegen zunächste die Frage stellen: „Warum sagt er das?“: vielleicht, und vielleicht auch nicht möchten sie sich dann später fragen, ob es wahr sei. Ein Politiker sei eben einm Mann, der glaube, die Wahrheit zu kennen und zu wissen, was zu tun sei. Seine Aufgabe sei also nur, die anderen dazu zu bringen, das zu tun, was zu tun sei. Ein Wissenschaftler glaube kaum jemals, daß er die volle Wahrheit kenne; seine Absicht im Gespräch sei, nicht zu überzeugen, sondern klarzulegen; und es sei die Kunst, klarzulegen, nicht die Kunst, zu überzeugen, die zur Lösung der großen wissenschaftlichen Fragen geführt habe.
(Zitiert aus: Leo Szilard: Die Stimme der Delphine. München 1976, Heyne SF 3475, S. 45f)
Es schließen sich nun auch Sozialwissenschaftler dem Institut an, und aus den weiteren Forschungen entstehen auch Vorschläge zur Abrüstung, welche nach langem Hin und Her zum Erfolg führen. Nach dem Zustandekommen des internationalen Abrüstungsabkommens spielen die Delphine keine Rolle mehr. Sie fallen allesamt einer Virusseuche zum Opfer. Zwei Wochen nach dem Tod des letzten im Institut verbliebenen Tieres wird die Bibliothek des Hauses durch einen Großbrand zerstört, in dem die meisten Forschungsergebnisse vernichtet werden. Die Wissenschaftler kehren in ihre Heimatländer zurück und veröffentlichen die Ergebnisse, welche gerettet werden konnten. Die Frau eines der Wissenschaftlers des Institut gibt im Scheidungsprozess gegen ihn an, gehört zu haben, dass es den Wissenschaftlern gar nicht gelungen sein, die Sprache der Delphine zu enträtseln und dass die ganzen Forschungsergebnisse auf ihren eigenen Ideen beruhten. Es ist allerdings schwer zu glauben, dass den russischen und amerikanischen Wissenschaftlern im Wiener Institut so viele wissenschaftliche Durchbrüche gelungen wären, wenn sie nicht Unterstützung gehabt hätten. Wer weiß?
Diese Geschichte ist die zentrale Erzählung des Buches und schildert in vielen amüsanten Passagen, mit welchen wahnwitzigen hirnakrobatischen Verrenkungen das nationale und internationale politische Geschehen betrieben wird. So viele Köpfe kann man gar nicht haben, dass mit ihnen das Bedürfnis zum Schütteln befriedigt würde.
Die unterminierten Städte: Dr. Jones erwacht 1980, nachdem er 18 Jahre lang geschlafen hat. Sein Krebs ist so gut wie geheilt, weil es ein neues Mittel gibt, und auch sonst hat sich eine Menge getan. Und außerdem wird er jedes Jahr 3000 Dollar steuerfrei bekommen, wenn er in Denver bleibt, weil seine Heimatstadt zu den unterminierten Städten gehört. ??? Das konnte er natürlich nicht wissen. Es gibt in den USA 15 unterminierte Städte, und ebenso viele in Russland. Unter diesen Städten befindet sich jeweils in einer Art Festung eine Wasserstoffbombe samt einer Besatzung von Leuten des jeweilig anderen Landes. Alle sonstigen Atom- und Wasserstoffbomben wurden zerstört, ebenso all U-Boote, welche als Träger von Raketen geeignet waren. Mit dieser neuen Art des Gleichgewicht des Schreckens gelingt es, den Frieden zu erhalten, denn niemand hat ein Interesse daran, dass die Städte in die Luft fliegen. Die Idee zu den unterminierten Städten kam übrigens von einem gewissen Szilard, kennen Sie den? Der hat übrigens die ganze Entwicklung in seinem Band Die Stimme der Delphine vorhergesagt. Das muss aber ein Zufall sein, denn niemand kann die Zukunft richtig voraussagen, die meisten Leute können nicht einmal die Vergangenheit richtig wiedergeben.
Die Mark-Gable-Stiftung: Als es gelingt, die Temperatur eines Kaninchens auf ein Grad herunterzukühlen und es später wieder zum Leben zu erwecken, wird klar, dass diese Methode auch beim Menschen funktionieren wird. Der Mann hat sich schon immer gewünscht, zu sehen wie die Welt in 300 Jahren aussehen. Deshalb lässt er sich einschläfern, obwohl es in der Öffentlichkeit eine heftige Debatte über die Legalität eines solchen Vorhabens gibt. Allerdings wird er nicht erst nach dreihundert Jahren aufgeweckt, sondern mit vielen Entschuldigungen bereits nach neunzug Jahren. Der Bürgermeister der Stadt erklärt dem Mann die Verwicklungen, die sich in der Zwischenzeit ergeben haben. Viele andere Menschen, die an tödlichen Krankheiten litten, haben sich auch einfrieren lassen. Die Kirche war stinksauer, denn auf diese Weise entkamen viele ihren Ehegatt/-innen, ohne sich scheiden zu lassen etc etc. Erbtechnische Probleme haben sich ergeben, denn die Nachkommen konnten nicht erben, weil die Erblasser nicht wirklich tot waren. Wegen der rechtlichen Probleme wurde der Mann aufgeweckt, denn nur so kann er eine Feststellungsklage erheben. Der Mann lernt Mark Gable kennen. Dieser ist superreich, denn er sieht blendend aus und deswegen wurde er zu einem der beliebtesten Samenspender und ist Vater von mindestens einer Million Kinder. Gable möchte eine Stiftung zur Verlangsamung des wissenschaftlichen Fortschrittes machen und lädt den Mann ein, dabei mitzumachen, weil dieser weiß, wie das funktionieren kann. Dem Mann fällt auch auf, dass niemand mehr Zähne hat. Alle essen mittlerweile aus Kauschalen, die am Tisch an Steckdosen hängen und das Essen für die Hungernden elektrisch vorkauen. Nachdem der Mann große Angst vor Zahnärzten hat, wird ihm plötzlich klar, dass ihn keine Kunst der Wissenschaft mehr ins zwanzigste Jahrhundert zurückbringen vermag.
Die Aufnahme von Szilards Geschichten in die Reihe der Heyne Science Fiction Classics ist aufgrund des Zusammenhangs mit der spannenden Biografie des Autors zu sehen und daher berechtigt. Gerne hätten wir noch mehr Geschichten von dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit gelesen, aber Szilard konzentrierte sich auf seine Hauptbeschäftigung als Forscher und Lehrer. So bleibt uns nur ein bunter Farbtupfer aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten, der mit den Mitteln der Satire vor den Gefahren der Atomtechnik und vor durchgeknallten Politikern warnte.
Anmerkung:
Es werden die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics sowie die deutsche Erstausgabe sowie die Originalausgabe des Werks angeführt.
1976