Heyne Science Fiction Classics 54 - Resümee und Ausblick
Die Heyne Science Fiction Classics
Folge 54:
Resümee und Ausblick
Vor etwas mehr als einem Jahr sind wir in diese Artikelreihe gestartet. Für mich war es ein spannendes Unternehmen, vor Jahrzehnten erstmals gelesene Werke wieder in die Hand zu nehmen und kritisch zu betrachten. Viele davon konnte ich erneut mit Genuss zu lesen, aber nicht alles hinterließ einen guten Nachgeschmack. Falls auch Sie, lieber Leser, im vergangenen Jahr meinen Artikeln gefolgt sind und einiges an Informationen mitnehmen oder alte Erinnerungen auffrischen konnten, freue ich mich darüber.
Die in den Heyne Science Fiction Classics erschienenen Bände lassen sich nach den Originalsprachen, in denen die Werke erschienen sind, in drei Gruppen einteilen:
- deutschsprachige Werke
- Werke internationaler Autoren außerhalb des angelsächsischen Sprachraums
- Werke von Autoren aus dem angelsächsischen Sprachraum
Die ist durchaus von Bedeutung, weil unterschiedliche Kulturen bzw. Sprachräume auch verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen und damit auch unterschiedliche Themen und literarische Stile mit sich bringen. Wenn man die Werke liest, wird das durchaus deutlich. Deshalb ziehe mein Resümee über die Werke getrennt nach diesen drei Kategorien.
Die Werke deutscher Autoren haben als Zentrum eine fast vollständige Gesamtausgabe von Hans Dominik, dem deutschen SF-Autoren der Zwischenkriegszeit. Seine Werke blieben lang populär und erlebten auch eine Reihe von Neuauflagen in den Heyne Science Fiction Classics. Man muss allerdings sagen, dass ihn mittlerweile die Zeit überholt hat. Neben Dominik dufte auch Kurd Laßwitz nicht fehlen, der Vater deutschsprachiger Science Fiction, dessen Werk noch in die Kaiserzeit fiel. Sein berühmter Roman Auf zwei Planeten wurde in der Classics-Ausgabe allerdings so drastisch gekürzt, dass diese nur mit Hinweis auf vollständige Ausgaben betrachtet werden darf. Herausragend war auch Der Tunnel von Bernhard Kellermann. Im Schatten der Dominik-Tradition wurden drei Werke von Rudolf H. Daumann vorgestellt, die für mich allerdings enttäuschend waren. Wesentlich interessanter waren die beiden Raumfahrt-Klassiker Der Schuss ins All und Der Stein vom Mond von Otto Willi Gail aus der Zwischenkriegszeit. Ein Highlight der deutschen SF und der gesamten Reihe waren dann die vier Romane, welche unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe geschrieben wurden und auf ganz unterschiedliche Weise vor den bedrückenden Konsequenzen unkontrollierter Anwendung der Atomkraft warnten. Insgesamt ist die Auswahl der Werke deutschsprachiger Autoren für die Heyne Science Fiction Classics durchaus als erfreulich zu bewerten.
Die Auswahl von Werken internationaler Autoren aus dem nicht-angelsächsischen Sprachraum gibt natürlich ein buntes Bild ab, die Werke sind außerordentlich interessant. Mit Jewgenij Samjatins Wir und Alexander Bogdanows Der rote Stern finden wir beide Seiten der Kommunismus-Medaille sprich eine Antiutopie und eine Utopie über das sozialistische Gesellschaftssystem. Die Russen waren außerdem mit dem Raumfahrtpionier Ciolkowskij vertreten, SCIENCE Fiction im wahrsten Sinn des Wortes. Mit Yves Gandons Der letzte Weiße und Vercors' Das Geheimnis der Tropis gab es zwei Vertreter anthropologischer Science Fiction aus Frankreich. Der Roman von Vercors ist einer der Spitzentitel der gesamten Reihe. Es ist ein Jammer, dass nicht mehr Werke aus dem französischen Sprachraum vertreten waren, dies gilt leider bei weitem nicht nur für die vorgestellte Reihe. Die Vorstellung internationaler Autoren wurde durch Werke des Rumänen Felix Aderca, der Norwegerin Karin Boye und des Tschechen Karel Čapek abgerundet, alles Beispiele aus der düsteren Ecke. Meiner Meinung hätte viel mehr aus dieser Seite kommen dürfen, aber nach dem Krieg war hauptsächlich gefragt, was aus dem angelsächsischen Sprachraum kam, und das hat sich bis heute nicht wirklich geändert. Noch schlimmer als im literarischen Bereich ist die erdrückende Übermacht der Amerikaner beim Film, insbesondere repräsentiert durch die Traumfabrik Hollywood.
Bei der Auswahl von Werken aus dem angelsächsischen Raum lassen sich für die erste Phase der Reihe zwei Kategorien differenzieren. Die eine waren Werke, welche aus der Zeit der Pulp-SF-Magazine oder sogar noch früher stammten und wegen ihres Alters ungeniert als Klassiker eingestuft wurden, auch wenn es sich um den ärgsten Schrott handelte, wie beispielsweise die Romane von Ray Cummings. Differenziert betrachten muss man die Romane von E. E. Smith. Dieser hat immerhin Ruhm als Klassiker der Pulp-SF erworben, speziell des Subgenres der Space Opera. In die gleiche Kategorie fallen auch die vorgestellten Jugendsünden von John W. Campbell. Davon klar zu unterscheiden sind Werke von Autoren, die sich komplett außerhalb des sich entwickelnden SF-Zirkusses bewegten und teilweise herausragende Werke ungewöhnlichen Inhalts ablieferten wie Olaf Stapledon, David Lindsay und Clive Staples Lewis. Auch SF-Gründervater H. G. Wells war mit einem schmalen Beitrag vertreten. Dieser Klassiker hätte allerdings viel ausführlicher vorgestellt werden sollen, genauso wie sein französischer Kompagnon Jules Verne, der leider in dieser Reihe komplett ignoriert wurde. Hervorstechend bei den Werken aus der frühen Pulp-SF-Zeit waren für mich die Kurzgeschichten von Stanley G. Weinbaum sowie Laurence Mannings Jahrtausendschläfer. Es wäre schön gewesen, wenn diese Periode mit weiteren interessanten Werken noch näher ins Auge genommen worden wäre, beispielsweise mit Titeln von John Taine, der auch im Heyne SF-Lexikon von 1980 avisiert wurde, aber leider blieb es bei der Ankündigung, denn der Wind in der Redaktion hatte sich bereits gedreht.
Nach Übernahme der Heyne-SF-Redaktion durch Herbert W. Franke und Wolfgang Jeschke wurden vermehrt Werke gebracht, die bereits aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stammten. Allerdings ging dabei die Linie verloren, denn beispielsweise die ausgewählten Werke der von mir durchaus geschätzten Autoren wie L. Sprague de Camp, Gordon R. Dickson und Fritz Leiber (darunter einige bunt zusammengestellte Kurzgeschichtenbände) sind nur mit mehreren Kopfständen als Klassiker zu bezeichnen. Die Kriterien für eine Aufnahme von Werken in dieser Phase der Reihe waren für mich nicht mehr nachvollziehbar. Möglicherweise hatte die Redaktion bereits das Interesse an den Classics verloren, denn in der Endphase der Reihe gab es bereits eine Überschneidung mit der Bibliothek der Science Fiction Literatur. Diese wurde 1981 gestartet, hatte eine gesonderte Reihennummerierung und eine andere, wertvollere Aufmachung als die übrigen SF-Taschenbücher. Dieser Reihe galt nun das Augenmerk des mittlerweile alleinigen Herausgebers Wolfgang Jeschke. Im Unterschied zu den Heyne Science Fiction Classics wurden hier auch viele Titel wiederveröffentlicht, welche vorher bereits in der normalen SF-Reihe des Heyne-Verlag herausgekommen waren, einige wenige davon auch in den Heyne Science Fiction Classics. In der Bibliothek der Science Fiction Literatur wurden im Vergleich zu den Classics wesentlich mehr hochkarätige Werke veröffentlicht, was durch das Lesepublikum allerdings nicht im erwünschten Ausmaß gewürdigt wurde. Vertreter des Buchverlags murrten über die „Unverkäuflichkeit“ der Bände. Ich war selbst 1982 – 1985 im Buchhandel tätig und habe mitbekommen, welche Bände im SF-Bereich sich gut „drehten“ Es wurden in dieser Reihe fast ausschließlich Werke von Autoren aus dem angelsächsischen Sprachraum versammelt. Deswegen ist sie trotz ihrer hohen Qualität und schönen Aufmachung leider nicht als repräsentativ für die gesamte Bandbreite klassischer internationaler SF zu betrachten.
Die Titan-Anthologien waren ein Versuch, auch ein Forum für klassische Kurzgeschichten zu schaffen. Der Versuch ist nur teilweise geglückt. Die Auswahlen der Herausgeber Frederik Pohl (Bände 1 – 5) und Brian W. Aldiss (18 – 23) waren teilweise durchwachsen. Die Auswahl aus der Science Fiction Hall of Fame in den Bänden 6 – 16 war allerdings exzellent. Generell sind Kurzgeschichten problematisch als Klassiker zu qualifizieren, weil naturgemäß wenig Platz dafür ist, ein Setting auszubreiten, sondern die Handlung steuert meist auf eine Pointe am Ende hin. Das ist oft originell, bleibt aber nicht nachhaltig im Gedächtnis. Allerdings wurden viele der vorgestellten Kurzgeschichten später als Teil in Romane oder gar Serien aufgenommen und haben als Bestandteil dieser längeren Werke Ruhm für die Nachwelt erlangt.
Meine persönlichen Favoriten in der Reihe der Heyne Science Fiction Classics sind (in der Reihenfolge des Erscheinungsdatums der Originalausgabe: Auf zwei Planeten von Kurd Laßwitz (allerdings nicht die brutal gekürzte Ausgabe in der Classics-Reihe, sondern das vollständige Werk), Der Tunnel von Bernhard Kellermann, Wir von Jewgenij Samjatin, Der Sternenmacher von Olaf Stapledon und Das Geheimnis der Tropis von Vercors.
Wenn man nun eine Gesamtbetrachtung aller in der Classics-Reihe erschienen Werke macht, fällt die Bewertung also durchaus differenziert aus. Die Bandbreite geht von den erwähnten Spitzenwerken bis zu Schund aus der untersten Schublade wie beispielsweise die unsäglichen Eroberer der Unendlichkeit von Ray Cummings. Trotz dieser Ausrutscher war die Reihe für einen jungen SF-Leser wie mich eine extrem wichtige Hilfestellung, um die gesamte Bandbreite des Genres samt ihrer Entwicklung speziell in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kennenzulernen. Als solches stellt sie einen Meilenstein innerhalb der deutschen SF-Reihen dar.
Trotz des prinzipiellen Lobes sind für mich all diese Sammlungen, Bibliotheken und dergleichen irgendwie unbefriedigend. Zu wenig nachvollziehbar sind die Auswahlkriterien. Oft spielt natürlich die lizenzrechtliche Situation eine Rolle, ob ein Werk präsentiert nicht, und nicht, ob das Werk wirklich gut in eine Reihe passt. Ich träume ein wenig davon, selber als Herausgeber meine eigenen Favoriten vorstellen zu dürfen. Nichts ist leichter als das zumindestens virtuell zu machen. Hier ist die Liste meiner fünfzig Spitzenreiter, geordnet nach erstmaligem Erscheinen:
Sternträumers Bibliothek der utopischen Klassiker
Mehrere dieser Werke sind Serien oder Bestandteil von Serien (jede Serie als ein Eintrag in der Liste gerechnet). Bei diesen habe ich nur jene Werke in meine Liste aufgenommen, die mir wichtig sind bzw. die Kernwerke der Serien darstellen. Bei den Wüstenplanet-Romanen beispielsweise ist das nur die ursprüngliche Trilogie. Die späteren Romane von Herbert selbst als auch die von seinem Sohn Brian gemeinsam mit Kevin J. Anderson verfassten Werke fallen deutlich ab. Immerhin wurden von meiner Liste mit ihren 50 Einträgen 7 Romane bzw. Serien in den Heyne Science Fiction Classics publiziert sowie weitere 14 in der Nachfolgereihe Bibliothek der Science Fiction Literatur.
Möglicherweise haben Sie eine Menge Einwände gegen meine Auswahl. Ich gebe Ihnen vollkommen Recht. Da sind Werke drin (wie z. B. die Lensmen-Serie), deren literarische Qualität durchaus zweifelhaft ist. Dann sind „stille“ Werke darunter, die Sie möglicherweise als langweilig empfunden werden; Werke, die literarisch nicht herausstechend sind, aber durch eine Verfilmung berühmt wurden, etc. etc. Dann ist der Schwerpunkt auf der englischsprachigen Welt unbefriedigend. Nur neun Titel, die nicht aus dem Englischen stammen, das ist höchstwahrscheinlich zuwenig. Die Dominanz der angelsächsischen Kultur schlägt hier leider durch. Dann sind Frauen mit nur fünf Titeln unterrepräsentiert, trotzdem ist es bemerkenswert, dass chronologisch der erste und der letzte Titel von einer Frau stammen.
Meine Liste ist ein Kompromiss, eine Sammlung von Werken, die mir persönlich ganz besonders wichtig sind oder. außerordentlich gut gefallen haben, und von Werken, die für die Entwicklung des Genres beispielgebend sind. Jedenfalls wollte ich nicht ein politisch korrektes Ranking machen, in der alle sich als diskriminierte Minderheit fühlende Gruppen der Vollständigkeit halber irgendwie berücksichtigt werden. In der Liste stehen auch Titel wie Hesses Glasperlenspiel, welche man nicht unbedingt in einem Ranking von Science-Fiction-Romanen erwarten würde. Aber es handelt sich eindeutig um eine Utopie in Romanform, und das zählt in meiner Definition zur SF. Wie sieht's bei Ihnen aus, machen Sie doch das Gedankenenxperiment und stellen Ihre eigene Liste auf!
Es hat mir großen Spaß gemacht, im Lauf etwas mehr als eines Jahres alle in den Heyne Science Fiction Classics erschienenen Romane und Kurzgeschichten nochmals zu lesen, mit einem Zeitabstand von mehr als dreißig bis mehr als fünfzig Jahren zu meiner erstmaligen Leseerfahrung. Wenn ich versuche, meine heutigen Empfindungen beim Lesen mit den damaligen zu vergleichen, kommt klar zutage, dass sich zwar meine Weltanschauung und mein Geschmack nicht gravierend geändert haben, ich aber viel kritischer geworden bin. Damals (zumindestens in den ersten Jahren der Edition) habe ich prinzipiell jeden Titel in der Classics-Reihe allein deswegen begrüßt, weil er in die Reihe aufgenommen worden war. Ich wollte einfach ältere SF-Werke möglichst komplett kennenlernen. Heute ist für mich viel wichtiger, ob eine interessante Idee hinter dem Werk steckt, die Handlung dramaturgisch und sprachlich sauber ausgearbeitet ist und das Werk deshalb literarische Spuren hinterlassen hat. Nicht alle, aber viele gute Werke älteren Datums sind nach wie vor gut lesbar. Die Lesbarkeit darf allerdings nicht das einzige Kriterium für Qualität sein, sonst wäre beispielsweise ein literarischer Gigant wie Ulysses von James Joyce komplett unten durch.
Im einleitenden Artikel dieser Serie habe ich darauf hingewiesen, dass im Heyne-Verlag parallel zu den Science Fiction Classics auch Crime Classics und Western Classics erschienen sind. Leider kann ich keinen Vergleich machen, weil ich kein Kenner dieser Genres der Unterhaltungsliteratur bin. Vielleicht findet sich unter den zahlreichen Autoren des Zauberspiegels aber jemand, der diese Aufgabe übernehmen möchte. Das wäre im Sinn einer ganzheitlichen Betrachtung eine schöne Sache.