Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen - Erinnerungen an einen Phantasten zum 15. Todestag
Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen
Erinnerungen an einen romantischen Phantasten zum 15. Todestag
Erinnerungen an einen romantischen Phantasten zum 15. Todestag
(1)
Leipziger Buchmesse, Frühjahr 1994. Ich war seit einem Jahr ausgebildeter Buchhändler und zum wiederholten Mal mit Kollegen auf der Messe um unser Warenwirtschaftssystem vorzustellen. Damals waren die Messehallen noch in der Innenstadt, mitten im Bücherleben also. Die Lesungen und Buchpräsentationen waren leicht zu Fuß zu erreichen. An einem dieser Tage sollte Michael Ende lesen, zweimal sogar, am Nachmittag und am Abend in den Räumen der Stadtbücherei. Das wollte ich auf keinen Fall verpassen. Ich wollte mein literarisches Idol live sehen und hören. Seine Werke hatten mich schon lange begleitet. Seine Momo war wesentlicher Bestandteil meiner Buchhändlerabschlussprüfung; seine Unendliche Geschichte und viele seiner Erzählungen gehörten zum Programm meiner Vorträge zum Thema Fantasy, die ich damals regelmäßig an Schulen hielt. Meine Kollegen davon zu überzeugen mich an diesem Nachmittag von der Arbeit zu befreien, war gar nicht so leicht. Aber schließlich war ich auf dem Weg. Kurz vor Beginn der Lesung betrat ich den Saal. Es bot sich mir ein überwältigender Anblick.
Michael Ende saß bereits an einem Tisch auf einem Podium. Niemand schien ihn bisher bemerkt zu haben. Der Saal war brechend voll. 250 Kinder, Jugendliche und Erwachsene waren in Gespräche vertieft. Nach dem alle Stühle besetzt waren saßen die Menschen überall, auf dem Boden, den Fensterbänken oder sie standen an Wände gelehnt. Ich stand voller Erwartung an einem Fenster und sog die Atmosphäre in mich auf. Nach einer kurzen Begrüßung durch die Verantwortlichen begann Michael Ende zu lesen, aus Die unendliche Geschichte. Niemand rührte sich mehr, keiner sprach, jeder lauschte. Eine Stunde lang hingen wir alle an seinen Lippen. Dann brachen die Fragen aus dem Publikum heraus. Michael Ende beantwortete sie alle voller Geduld. Danach signierte er. Die Menschen reihten sich vor dem Podium ein; ein Ende der Schlange war nicht abzusehen. Mir blieb leider keine Zeit mehr. Aber am Abend würde ich wiederkommen.
Der Nachmittag verging wie im Flug. Die Arbeit ging mir leicht von der Hand. Meinen Kollegen ging ich bestimmt auf die Nerven, erzählte ich doch die ganze Zeit von der Lesung.
Dann stand ich endlich wieder im Saal der Stadtbücherei um abermals eine Überraschung zu erleben. Nur vierzig Menschen waren gekommen, viele Plätze blieben leer. Ich setzte mich in die erste Reihe und wartete bis der Autor das Podium betrat.
Die Einleitung des Veranstalters war diesmal etwas länger. Michael Ende wartete geduldig bis er an der Reihe war. Dann erzählte er uns von seiner Art zu schreiben und von seinem Zettelkasten in dem all seine Ideen lagen. Und schließlich las er aus seinem aktuellen Buch Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen. Ich weiß nicht mehr welchen Text er las. Ich lies mich einfach von seinen Worten tragen, von seiner wunderbaren Stimme in seine Gedankenwelt entführen.
Viel zu schnell war die Lesung vorbei. Das Publikum stellte nur wenige Fragen. Ich selbst traute mich auch nicht. Aber ich ließ mir sein Buch signieren, wechselte ein paar Worte mit ihm und beschloss Michael Ende auch in meine Stadt, in meine Buchhandlung einzuladen.
Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Michael Ende starb ein Jahr später am 28.08.1995, viel zu früh, im Alter von 65 Jahren.
Wenn ich heute sein letztes Buch in die Hand nehme, die klare gut lesbare Unterschrift direkt unter dem Titel anschaue, erinnere ich mich gerne an die Lesungen und die kurze Begegnung in Leipzig.
Dann blättere ich weiter in Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen am Vorwort von Roman Hocke, Endes Freud und Lektor, vorbei und beginne die erste Geschichte, eine Gruselgeschichte, mit dem Titel Eine ganz normale Geistergeschichte zu lesen: Freunde treffen sich regelmäßig zu einer gemütlichen Runde in dem Lokal Leopold in München Schwabing. Sie diskutieren über Kunst, Literatur und Politik. Manchmal, wenn die Gespräche verstummen, stellt der Erzähler die Frage in den Raum, ob es denn Gespenster gäbe. Dann kommen die unterschiedlichsten Antworten verpackt in Geschichten von Selbst erlebtem oder Gehörtem. Diesmal erzählt der Mediziner Butzi von einem Erlebnis in seiner Studentenzeit. Gemeinsam mit seinem Studienkollegen Lazarus wanderte Butzi während der Semesterferien durch die Schwäbische Alp. Als sie in Dauerregen geraten, bitten sie in einem Pfarrhaus um Unterkunft für die Nacht. Gern gibt ihnen der Pfarrer ein Zimmer im ersten Stock seines Hauses. Er warnt sie aber auch, denn im Zimmer würde es spuken. Mit einem ungläubigen Lächeln wischen die Freunde die Worte des Hausherren beiseite, beschließen aber gleichzeitig die Mitternachtsstunde abzuwarten. Und tatsächlich hören sie Schritte die Treppe hinauf kommen. Eiseskälte verbreitet sich im Zimmer. Etwas geht im Raum um, blättert in der Bibel, die auf einem Lesepult liegt und verschwindet dann wieder. Lazarus ist verzweifelt. Er will nur noch weg. Butzi versucht ihn zu beruhigen. Am nächsten Morgen verlassen sie das Haus. Tage später kommt Lazarus auf mysteriöse Weise ums Leben. Er wird von einem Fensterrollo in der Waschschüssel, die auf dem Fensterbrett steht, bei der Morgentoilette ertränkt.
Die Gespenstergeschichte hinterlässt einen unheimlichen, beängstigend realistischen Eindruck, sowohl bei den Freunden im Lokal Leopold als auch beim Leser. Ende gelingt auf nur zwanzig Seiten ein erzählerisches Schmuckstück, das den Vergleich mit Poe oder Lovecraft nicht zu scheuen braucht.
In Michael Endes Zettelkasten findet der Leser Aphorismen, Entwürfe zu größeren Texten, Gedanken, Ideen, Glossen (Ratgeber für künstlerische Genieanwärter), Theaterszenen und Gedichte wie zum Beispiel
Er findet aber auch Märchen (Nieselpriem und Naselküss), Biographisches (Großmutter sitzt im chinesischen Garten und weint), Aufsätze über das Theater (Theaterhandwerk), über den Vater (Auf der Suche nach dem Mysterium), und über Religion und Spiritualität (Reinkarnation; New Age).
Weiter enthält das Buch auch eine Reihe von Briefen (Brief an einen Welterklärer) und einige programmatische Texte: neben Gedanken eines zentraleuropäischen Eingeborenen, Erziehung zum kritischen Bewusstsein, Typisch Deutsch und Wenn Kinder fragen auch den in Tokio gehaltenen Vortrag Über das Ewig- Kindliche in dem Michael Ende seine Poetik, seine Gründe fürs Schreiben folgendermaßen auf den Punkt bringt:
Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen gibt uns einen Einblick in die Werkstatt des Autors, lässt uns teilhaben an seiner Gedankenwelt und gibt uns die Möglichkeit seine großen Werke, die Geheimnisse dahinter, besser zu verstehen. Auch wenn Michael Ende uns einen anderen Weg aufzeigt:
Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen, Weitbrecht Verlag, 1994
Michael Ende: Zettelkasten, Skizzen & Notizen, Piper Verlag Taschenbuch, Januar 2011
(1) Auch ein Grund aus Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen, Seite 50
(2) Der Kindermord, ebenda Seite 256
(3) Über das Ewig- Kindliche, ebenda Seite 196 / 197
(4) Verwandlungen, ebenda Seite 250
Michael Ende saß bereits an einem Tisch auf einem Podium. Niemand schien ihn bisher bemerkt zu haben. Der Saal war brechend voll. 250 Kinder, Jugendliche und Erwachsene waren in Gespräche vertieft. Nach dem alle Stühle besetzt waren saßen die Menschen überall, auf dem Boden, den Fensterbänken oder sie standen an Wände gelehnt. Ich stand voller Erwartung an einem Fenster und sog die Atmosphäre in mich auf. Nach einer kurzen Begrüßung durch die Verantwortlichen begann Michael Ende zu lesen, aus Die unendliche Geschichte. Niemand rührte sich mehr, keiner sprach, jeder lauschte. Eine Stunde lang hingen wir alle an seinen Lippen. Dann brachen die Fragen aus dem Publikum heraus. Michael Ende beantwortete sie alle voller Geduld. Danach signierte er. Die Menschen reihten sich vor dem Podium ein; ein Ende der Schlange war nicht abzusehen. Mir blieb leider keine Zeit mehr. Aber am Abend würde ich wiederkommen.
Der Nachmittag verging wie im Flug. Die Arbeit ging mir leicht von der Hand. Meinen Kollegen ging ich bestimmt auf die Nerven, erzählte ich doch die ganze Zeit von der Lesung.
Dann stand ich endlich wieder im Saal der Stadtbücherei um abermals eine Überraschung zu erleben. Nur vierzig Menschen waren gekommen, viele Plätze blieben leer. Ich setzte mich in die erste Reihe und wartete bis der Autor das Podium betrat.
Die Einleitung des Veranstalters war diesmal etwas länger. Michael Ende wartete geduldig bis er an der Reihe war. Dann erzählte er uns von seiner Art zu schreiben und von seinem Zettelkasten in dem all seine Ideen lagen. Und schließlich las er aus seinem aktuellen Buch Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen. Ich weiß nicht mehr welchen Text er las. Ich lies mich einfach von seinen Worten tragen, von seiner wunderbaren Stimme in seine Gedankenwelt entführen.
Viel zu schnell war die Lesung vorbei. Das Publikum stellte nur wenige Fragen. Ich selbst traute mich auch nicht. Aber ich ließ mir sein Buch signieren, wechselte ein paar Worte mit ihm und beschloss Michael Ende auch in meine Stadt, in meine Buchhandlung einzuladen.
Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Michael Ende starb ein Jahr später am 28.08.1995, viel zu früh, im Alter von 65 Jahren.
Wenn ich heute sein letztes Buch in die Hand nehme, die klare gut lesbare Unterschrift direkt unter dem Titel anschaue, erinnere ich mich gerne an die Lesungen und die kurze Begegnung in Leipzig.
Dann blättere ich weiter in Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen am Vorwort von Roman Hocke, Endes Freud und Lektor, vorbei und beginne die erste Geschichte, eine Gruselgeschichte, mit dem Titel Eine ganz normale Geistergeschichte zu lesen: Freunde treffen sich regelmäßig zu einer gemütlichen Runde in dem Lokal Leopold in München Schwabing. Sie diskutieren über Kunst, Literatur und Politik. Manchmal, wenn die Gespräche verstummen, stellt der Erzähler die Frage in den Raum, ob es denn Gespenster gäbe. Dann kommen die unterschiedlichsten Antworten verpackt in Geschichten von Selbst erlebtem oder Gehörtem. Diesmal erzählt der Mediziner Butzi von einem Erlebnis in seiner Studentenzeit. Gemeinsam mit seinem Studienkollegen Lazarus wanderte Butzi während der Semesterferien durch die Schwäbische Alp. Als sie in Dauerregen geraten, bitten sie in einem Pfarrhaus um Unterkunft für die Nacht. Gern gibt ihnen der Pfarrer ein Zimmer im ersten Stock seines Hauses. Er warnt sie aber auch, denn im Zimmer würde es spuken. Mit einem ungläubigen Lächeln wischen die Freunde die Worte des Hausherren beiseite, beschließen aber gleichzeitig die Mitternachtsstunde abzuwarten. Und tatsächlich hören sie Schritte die Treppe hinauf kommen. Eiseskälte verbreitet sich im Zimmer. Etwas geht im Raum um, blättert in der Bibel, die auf einem Lesepult liegt und verschwindet dann wieder. Lazarus ist verzweifelt. Er will nur noch weg. Butzi versucht ihn zu beruhigen. Am nächsten Morgen verlassen sie das Haus. Tage später kommt Lazarus auf mysteriöse Weise ums Leben. Er wird von einem Fensterrollo in der Waschschüssel, die auf dem Fensterbrett steht, bei der Morgentoilette ertränkt.
Die Gespenstergeschichte hinterlässt einen unheimlichen, beängstigend realistischen Eindruck, sowohl bei den Freunden im Lokal Leopold als auch beim Leser. Ende gelingt auf nur zwanzig Seiten ein erzählerisches Schmuckstück, das den Vergleich mit Poe oder Lovecraft nicht zu scheuen braucht.
In Michael Endes Zettelkasten findet der Leser Aphorismen, Entwürfe zu größeren Texten, Gedanken, Ideen, Glossen (Ratgeber für künstlerische Genieanwärter), Theaterszenen und Gedichte wie zum Beispiel
Er findet aber auch Märchen (Nieselpriem und Naselküss), Biographisches (Großmutter sitzt im chinesischen Garten und weint), Aufsätze über das Theater (Theaterhandwerk), über den Vater (Auf der Suche nach dem Mysterium), und über Religion und Spiritualität (Reinkarnation; New Age).
Weiter enthält das Buch auch eine Reihe von Briefen (Brief an einen Welterklärer) und einige programmatische Texte: neben Gedanken eines zentraleuropäischen Eingeborenen, Erziehung zum kritischen Bewusstsein, Typisch Deutsch und Wenn Kinder fragen auch den in Tokio gehaltenen Vortrag Über das Ewig- Kindliche in dem Michael Ende seine Poetik, seine Gründe fürs Schreiben folgendermaßen auf den Punkt bringt:
Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen gibt uns einen Einblick in die Werkstatt des Autors, lässt uns teilhaben an seiner Gedankenwelt und gibt uns die Möglichkeit seine großen Werke, die Geheimnisse dahinter, besser zu verstehen. Auch wenn Michael Ende uns einen anderen Weg aufzeigt:
Die großen Geheimnisse sind keine Rätsel, für die es eine bestimmte Lösung gibt. Um in sie einzudringen, muss man sich von ihnen verwandeln lassen. Wer dazu nicht bereit oder nicht fähig ist, der wird ins Leere laufen. Aber der, dem es gelungen ist, vermag denen, die es nicht wollten oder konnten, niemals etwas zu verraten. Sie verstehen ihn nicht. So schützen sich die Geheimnisse selbst. (4)
Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen, Weitbrecht Verlag, 1994
Michael Ende: Zettelkasten, Skizzen & Notizen, Piper Verlag Taschenbuch, Januar 2011
(1) Auch ein Grund aus Michael Endes Zettelkasten, Skizzen & Notizen, Seite 50
(2) Der Kindermord, ebenda Seite 256
(3) Über das Ewig- Kindliche, ebenda Seite 196 / 197
(4) Verwandlungen, ebenda Seite 250
Kommentare
Nein. Ich kann mich an keinen erkennbaren Grund erinnern, warum die Abendvorstellung nur so schwach besucht war. Aber die Konkurrenz ist groß an den Abenden während der Leipziger Buchmesse. Das könnte ein Grund gewesen sein.
Mir geht es ähnlich. Wann immer ich mich mit Ende beschäftige, das ich nichts weiteres von ihm lesen kann.
Ich habe für unseren Michael Ende Abend zum Todestag wieder den Zettelkasten und den Niemandsgarten gelesen. Allein die Geschichte vom Raubritter Rodrigo Raubein, der alles tut um seinem Ruf gerecht zu werden, obwohl er eigentlich ein lieber Kerl ist, würde ich gerne ganz lesen.
Ich hoffe immer noch, das im Nachlass wenigstens noch Erzählungen zu finden sind, die Roman Hocke zusammen mit Briefen veröffentlichen könnte.
Nein, das Buch gibt es auch in meiner Buchhandlung nicht mehr. Aber die Taschenbuchausgabe kommt im Januar 2011 auf den Markt. Das heißt, sie ist kurz vor Weihnachten wieder zu haben.
Wie bist Du denn dem Werk von Michael Ende das erste Mal begegnet?
Schöne Grüße aus dem Rodautal! Torshavn
Ich bin ein Liebhaber von schönen Dingen und möchte das Buch unbedingt als Hardcover haben! :o) Werde weiter auf Ebay warten müssen! Wenn Du eine Ausgabe irgendwo siehst, bitte Bescheid geben.
Momentan schreibe ich an meinem zweiten Roman und einigen Kurzgeschichten. Falls es Wettbewerbe gibt, von denen Du hörst, würde ich mich auch sehr freuen.
Danke im Voraus und ein wunderschönes Herbstwochenende wünscht 1Carissima