Im Angesicht des Verbrechens - Fernseharbeit am Beispiel einer Serie
Im Angesicht des Verbrechens
Fernseharbeit am Beispiel einer Serie
Der Medienrummel um die Serie war enorm; an einer fehlenden Präsenz in den Medien konnte der ausbleibende Erfolg nicht liegen. Also folgte eine (durchaus angebrachte und berechtigte) Debatte darüber, inwieweit anspruchsvolle Qualitätsproduktionen im deutschen Fernsehen überhaupt möglich sind.
Die Produktion der Serie gestaltete sich ebenfalls spannend (aus Sicht des neutralen Beobachters) bzw. nervenaufreibend (wahrscheinlich die Sicht der Beteiligten): Die geplante Qualität der Serie stand mehrmals wegen einer grundsätzlichen Unterfinanzierung zur Debatte, die Gewerbeaufsicht schaltete sich ein und unterband 18-Stunden-Arbeitstage, die Produktionsfirma ging vor der Fertigstellung in Konkurs.
Genau zu dieser im Ergebnis sehr überzeugenden Serie, bei der die Vollendung trotz hochkarätiger Darsteller (u. a. Max Riemelt, Marie Bäumer, Misel Maticevic, Ronald Zehrfeld) und erfahrenen Filmschaffenden (u. a. Dominik Graf/Regie, Rolf Basedow/Drehbuch) sehr gefährdet war, wurde unter dem gleichen Titel ein umfassendes Interview-Buch herausgegeben, das insbesondere Dominik Grafs Arbeitsweise als Regisseur näher erläutert.
Herausgeber Johannes F. Sievert schreibt im Vorwort:
„Anhand seiner zehnteiligen Krimiserie ‚Im Angesicht des Verbrechens‘, die 2008/2009 entstand, versuche ich, in Gesprächen mit Dominik Graf und Interviews mit seinen engsten Mitarbeitern, dem Drehbuchautor und der Producerin sowie den Redakteuren von WDR und ARTE verschiedenen Schritte und Stadien eines Films vorzustellen. Ein Werkstattbericht, bei dem es um die Kunst, das Handwerk und den Prozess des Filmemachens geht, ein ‚Hands-on Manual‘, das Regisseuren, Schauspielern, Studenten, allen Filminteressierten und Filmliebhabern einen Blick auf Dominik Grafs Arbeitsweise gestatten soll.“
(Im Angesicht des Verbrechens, Vorwort, Seite 10)
Ein Plan, der bereits sehr früh zu scheitern droht:
„… Wir (Anmerkung des Rezensenten: Dominik Graf und Johannes F. Sievert) vereinbarten, dass ich den Dreh mit der Kamera begleite und daraus ein Making-of schneide und dass ich mit ihm vor, während und nach den Dreharbeiten Interviews führe. Kurz darauf wird Dominik Graf vom Produzenten Marc Conrad gefeuert.“
Das mir vorliegende Buch beweist, dass es schlussendlich doch noch geklappt hat. Dominik Graf wurde kurz darauf wieder eingestellt, das Budget bereits im Vorfeld erhöht (es wird dennoch nicht reichen), ebenso die Anzahl der Folgen von 8 auf 10 erhöht.
Es spricht für das Buch zur Serie, dass diese durchaus relevanten Hintergrundthemen zwar angesprochen, aber nicht zum Hauptthema erkoren werden und auch keine schmutzige Wäsche gewaschen wird.
Den Großteil des Buches, immerhin über 200 Seiten, bestreitet Dominik Graf mit seinen sehr ausführlichen Antworten, die auch für Laien zu verstehen sind – wobei der Laie, zu denen sich auch der Rezensent zählt, vielleicht die (wahrscheinlich) oft vorhandene Brisanz der Aussage nicht immer wird einordnen können:
„… Deshalb bin ich auch ein absoluter Gegner von Coaches für Schauspieler. Es sei denn, sie arbeiten die ganze Zeit eng mit mir zusammen. Coaches können etwas bei den Schauspielern bewirken, sie trainieren und erarbeiten Haltungen, Sprechweisen, Tempi, die dann wie eine fixe Idee resistent am Darsteller kleben und sich beim Drehen nicht mehr variieren lassen. Ich habe das erlebt, und einmal war das Ergebnis unabänderlich katastrophal. Oft wissen die Regisseure gar nichts von Coaches im Hintergrund – ein schleichendes Gift in der Branche.“
(Seite 72)
„… Wenn zum Beispiel ,Misel, Ronnie, Max, mit denen ich schon zusammen gearbeitet habe, in der Zwischenzeit mit anderen Regisseuren gespielt haben und dann für ein neues Projekt zu mir zurück kommen, habe ich das Gefühl, aufs Neue ein paar Wege gehen zu müssen, die wir schon zusammen gegangen sind. Also wieder: Bitte nicht so artikulieren, ‚einfacher‘ sprechen, bitte nicht so überdeutlich, auch wenn es die Tonleute erfreut … mich erfreut das Laute, das Artikulierte eigentlich nicht.“
(Seite 76)
„Ich bin kein Autenthizitätsfanatiker. Authentizität ist auch ein Fake, immer. Ich finde Authentizität als obersten Maßstab auch oft lästig. Das ist so eine Independenthaltung, die das große Mythologische im Kino auf Teufel komm raus meiden will und das kleine Authentische feiert.“
(Seite 78)
Bei der Ausbildung an den Filmhochschulen … (Frage von Johannes F. Sievert)
„… gibt es nur zwei Dinge, die zählen: Das eine ist die Filmgeschichte, man kann sie nicht genug den Studenten vermitteln, und das andere ist die Schauspielführung, Theorie und Praxis, Annäherung an Schauspieler überhaupt. Alles andere kannst du weglassen, dir selbst beibringen.“
(Seite 84)
Immerhin zehn Kapitel, von der Motivation und den Vorbildern (1) über Dominik Grafs Werdegang (2) geht es hin zu den Ideen und Drehbüchern (3), zu Vorbereitung und Proben (4), vor den Dreharbeiten (5), zu den Dreharbeiten selbst (6), zum Handwerkszeug und den damit verbundenen technischen Problemen (7), zur Schauspielerführung (8), erneut zum Handwerkszeug (9) und schlussendlich zur Postproduktion (10). Interviewer Johannes F. Sievert führt nicht nur ein Interview, sondern verwickelt Dominik Graf in Gespräche, lässt ihn ausführen und erläutern. Die Themen gehen zum Teil sehr weit weg von „Im Angesicht des Verbrechens“, weg von der Serie als konkretes Beispiel. Aber die Fragen beschäftigen sich mit dem Mann, der die Serie umgesetzt hat und die Antworten entwickeln eine sehr eigene Spannung.
Verweise auf Dominik Grafs frühere Filme und Serienbeiträge sowie auf die Arbeiten von Nicolas Roeg, Howard Hawks, John Ford, Robert Aldrich, Frank Oz und vielen anderen sowie auf Filme wie „The Great Escape“ (bei dem Grafs Vater als Schauspieler beteiligt war) oder anderen Krimiserien (Allein gegen die Mafia, Polizeirevier Hill Street, NYPD Blue, KDD, The Sopranos …) bieten ein breites Fundament für Dominik Grafs Ausführungen – detailliert und doch greifbar genug, sodass man als Leser nicht allzu viel Vorwissen benötigt.
Einige willkürlich ausgewählte, durchaus aus dem großen Zusammenhang gerissene Aussagen, die verdeutlichen sollen, welche Breite die Interviews mit Dominik Graf abdecken:
„Und dann das Ganze komplett unchronologisch nach Innen- und Außenmotiven abgedreht – das war eine gewisse Anforderung an uns alle, kann man sagen.“
(Seite 16)
„Klar, man hätte die Regie der Folgen auch teilen können, Folge 1 bis 4 dreht ein Regisseur und Folgen 5 bis 8 ein anderer Regisseur. Aber das wäre noch teurer geworden, weil die vielen durchgehenden Hauptmotive jeweils zweimal hätten angemietet werden müssen.“
(Seite 17)
„Im Bestfall waren die kleinen Filme ja immer stärker als die A-Movies, auf die jeder geguckt hat, weil man unabhängiger war bei den kleinen Sachen. Man arbeitete im System, das heißt, man gab zwar vor, nach den Regeln der Studios zu spielen, aber in Wirklichkeit waren die C-Pictures die reine Anarchie. Nur halbwegs billig, das sollten sie bleiben.“
(Seite 24)
„Die wenigstens erfolgreichen Filme der Filmgeschichte sind auch gute Filme. Denn wirklich große Filme müssen zerbrechlich sein, sie müssen eine fragile Dramaturgie haben, nur dann sind sie schön.“
(Seite 45)
„Bei IADV konnte ich mir letztlich nur mit dieser Bavaria-Schule durchhelfen. Ich habe alle Tricks mobilisiert, die ich damals gelernt habe, wie man Pensen zügig durchkriegt; wie man zwei Minuten Dialog dreht, wenn die Sonne bereits untergeht.
(Seite 66)
„Nimm z.B. einen Ort wie die Lagerhalle in Folge 3 mit der anschließenden Flucht in die Kanalisation und dann weiter in den Spreekanal. Das setzt sich letztlich aus drei, vier verschiedenen Motiven zusammen. Denn natürlich gab es in der gefundenen Fabrik keinen Zugang zur Kanalisation. Das ist also wieder ein anderer Ort. Und die Röhre, in der sie rennen, ist auch wieder ein anderer Ort. Und wenn sie hinten am Kanal wieder rauskommen, ist es ein vierter Ort.“
(Seite 102)
Der zweite Teil, Gespräche mit den Beteiligten, ist dann leider wesentlich kürzer. Auf 86 Seiten kommen Drehbuchautor Rolf Basedow, die WDR-Redakteure Wolf-Dietrich Brücker und Frank Tönsmann, ARTE-Redakteur Andreas Schreitmüller, Producerin Kathrin Bullemer, Kameramann Michael Wiesweg, Szenenbildner Claus Jürgen Pfeiffer, die Musiker Florian van Volxem und Sven Rossenbach sowie die Cutterin Claudia Wolscht zu Wort. Die Beiträge runden das Buch ab.
Bedauerlicherweise fast ein wenig überflüssig die Beiträge der Darsteller Max Riemelt, Ronald Zehrfeld, Marie Bäumer, Misel Maticevic, Alina Levshin und Katja Nesytowa. Jeweils auf nur einer Seite (auf der zudem noch jeweils ein Porträtfoto gebracht wird) dürfen sie Dominik Graf loben und die Arbeit an der Serie toll finden. Hier hätte ich mir mehr Substanz und konkrete Fragen gewünscht. Ich weiß – ein ausufernder Wunsch.
Immerhin, die Darsteller sind die Beteiligten, die man auf der Leinwand bewundern darf und die bei „Im Angesicht des Verbrechens“ durch die Bank zur Höchstform aufgelaufen sind; ihr Medium, wo sie ihr Können zeigen dürfen, ist die empfehlenswerte DVD, die in meinen Augen beweist, dass eine deutsche Produktion mit den besseren der HBO-Serien mithalten kann. Der Regisseur muss den richtigen Draht zu ihnen gefunden und die Schauspieler sich auf ihn eingelassen haben.
Abgerundet wird das Buch mit dem Anhang: Eine (in meinen Augen zu Recht) lobende Kritik Peter Körtes (Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung) zur Serie, eine Episodenübersicht mit Inhaltsangabe, Titelregister, Personen- und Namenregister sowie einem Glossar und einer Filmografie Dominik Grafs.
Fazit: Ein herausragendes Buch, das faszinierenden Einblick in eine sehr gelungene Serie bietet. Es lädt ein zum Schmökern – gerade die Antworten Dominik Grafs sind sehr umfangreich und stehen für sich, auch wenn sie aufeinander Bezug nehmen.