Creepypasta: Moderne Folklore für moderne Zeiten
Creepypasta:
Moderne Folklore für moderne Zeiten
Da das Internet allerdings durchaus eine digitale Folklore erschaffen hat - es gab nicht umsonst eine Ausstellung zu dem Thema 2015: Ja, Folklore und Internet passen zusammen. Und Creepypasta zeigt das im Bereich des Horror-Genres.
Mal wieder so ein englisches Kofferwort? Ja, aber es gibt keinen richtigen deutschen Begriff dafür und "Horror-Geschichten, die von Leuten ins Internet geschrieben werden" ist ja nun auch weder kurz noch griffig. Der Bestandteil des Wortes Creepy ist klar: Angsteinflößend, furchtbar, seltsam. Pasta kommt allerdings nicht von den englischen Teigwaren, sondern ist Bestandteil des bekannten "Copy and Paste"-Begriffs. Kopieren, Einfügen. So verbreiten sich Text im Netz. Früher gab es die Kettenbriefe, die kopiert und per Briefpost versendet wurden - heute ist das kein Problem. (Eventuell kann man sich über die Frage des Urheberrechtes und dessen Verletzung aufregen, aber hey, wir sind doch jenseits des Privacy-Zeitalters...)
Horrorgeschichten des Internets. Das hat zuerst nun nichts mit Folklore zu tun, schließlich werden schon seit jeher Geschichten ins Netz geschrieben. Oder Texte. Insofern: Nichts Neues, oder? Nun, neu an dem Genre ist, dass sich die Geschichten - neben den üblichen verfluchten Artefakten, Dämonen, Puppen oder anderen Horrortopoi - stark mit dem Netz an sich auseinandersetzen. Creepypasta beschäftigt sich mit dem Internet und holte dieses ins Horror-Genre. Eine ganze Reihe von Geschichten drehen sich um verfluchte Videospiele - vermutlich kennt jeder "Ben Drowned", wenn nicht, unbedingt nachholen. Seltsame Email-Anhänge treiben den Empfänger in den Wahnsinn, künstliche Wesen ihr Unwesen im Netz und in sozialen Netzwerken werden merkwürdige Nachrichten geschrieben. Meistens geht das für den Protagonisten der Geschichten nicht unbedingt gut aus. Ist ja auch Horror.
So weit, so normal. Eine Gruppe von Leuten tauscht sich aus, erfindet Geschichten und da wir in modernen Zeiten leben ist der Horror nicht mehr auf Draculas Schloss, Frankensteins Labor oder die dunklen Verließe eines Kerkers begrenzt. Der Horror findet im Internet statt und das ist nun auch keine neue Erkenntnis. (Wer jetzt meint, dass einige Kommentare wirklich den wahren Horror des Netzes darstellen, der könnte natürlich auch Recht haben...) Daher sollte es nicht verwundern, dass das Internet sich auch eine digitale Folklore schafft. Interessanter ist die Frage, ob sich - wie Geschichten sich durch das Kopieren und Einfügen verändern.
Nun: Selbst wenn man "Ben Drowned" nicht von der Originalseite her kennt sondern sie in einem anderem Forum findet - die Geschichte an sich wird sich nicht verändert haben. Es wird keine neuen Einschübe geben, keine Kürzungen, keine Bearbeitungen - außer die Geschichte wird übersetzt natürlich - es fehlt also alles, was Folklore auch auzeichnet. Die permutative Veränderung während der Jahre des mündlichen Erzählens, in denen diese angesprochenen Dinge passieren können. Und ja, auch die Holder-Geschichten an sich sind - abgesehen von ihrer statischen Struktur mit dem immer gleichen Anfang "In any city, in any country, go to any mental institution or halfway house that you can get yourself into" - ebenfalls kaum verändert, wenn sie kopiert und eingefügt werden. (Holder sind übrigens Gegenstände, die man durch bestimmte Rituale oder Dinge erwirbt und von denen es eine begrenzte Anzahl gibt und wehe, jemand packt die alle zusammen an einen Ort...)
Eine Veränderung könnte natürlich passieren, wenn jemand nachdem er die Geschichte gelesen hat, sie versucht einem Anderem zu erzählten. An diesem Punkt würde die Geschichte an sich die Grenzen zwischen reiner Internet-Folklore und der Erzählten-Folklore überwinden und vielleicht, wenn sie später neu niedergeschrieben wird, tatsächlich Abweichungen haben, die mit dem "traditionellem" Text nicht mehr vereinbar sind. Fragt sich genau, wann das passiert. Allerdings wohl nicht unbedingt in nächster Zeit. Schließlich ist der Zugriff auf die Creepypasta-Geschichten relativ einfach und wer mehr über die Holder erfahren möchte, tippt den Begriff bei Google einfach ein.
Wenn wir allerdings Folklore auch dahingehend definieren, dass sie nicht einfach nur Dinge bewahrt und diese für die nachfolgenden Generationen festhält, sondern sich auch erweitert und verzweigt, sich verändert - und das geschieht auch mit der Art und Weise, wie neue Generationen mit dem Alten umgehen - dann passt das für Creepypasta durchaus. Jeder kann einen neuen Holder erschaffen. Er muss sich nur an die vorgegebene Struktur halten. Jeder kann dem Slender-Man neue Eigenschaften zuschreiben, sofern die Geschichte an sich gut geschrieben ist und funktioniert. So paradox das nun klingen mag: Gerade durch die Flexibilität von Creepypasta sind gewisse Dinge erstmal bewahrt. Wir wissen, wie sich der Slender-Man verhält, weil es in unzähligen Geschichten um ihn gewisse Muster gibt, die sich nach und nach ausgebildet haben. (Schön, wenn ein Video Artefakte zeigt und ein seltsamer Ton erklingt: Yepp, man halte nach dem Mann im Anzug Ausschau. Auch das ist mittlerweile Teil der Folklore geworden übrigens...)
Insofern ist Creepypasta - zum Teil jedenfalls, denn natürlich absorbiert das Genre auch die üblichen Horror-Topoi, die schon vor dem Internet en vogue waren - Folklore des Internets. Folklore, die ihre eigenen Charaktere erschafft, die sich - jedenfalls was den Text betrifft - nicht verändert, die aber anders als die Folklore, die wir kennen offen ist für Neues. Irgendwann einmal werden wir definitiv auch nicht mehr wissen, wer die erste Geschichte von Jeff the Killer erzählt hat. Wir werden nur noch wissen, dass es Jeff the Killer bestimmt, mit Sicherheit, irgendwann mal gegeben hat - weil der Freund eines Freundes eines Freundes, der hat diese eine bestimmte Geschichte wirklich tatsächlich erlebt...