EverymanHYBRID: Komplex aber nicht kompliziert
EverymanHYBRID
Komplex aber nicht kompliziert
Nun gelten ja schon Serien wie "Game of Thrones" oder "Breaking Bad" oder "How to get away with murder" als durchaus komplex. Wenn man nicht genau aufpasst, welches Haus gerade mit welchem Haus im Krieg liegt oder welcher Charakter jetzt stirbt und warum, dann hat man bei "Game of Thrones" durchaus etwas Probleme. Wechselnde Hauptfiguren, übergreifende Intrigen - sicherlich ist "Game of Thrones" komplex, aber sie ist nicht kompliziert. Doch, das ist ein Unterschied.
Gut, wer zufällig eine Folge im Fernsehen erwischt und die vorhergehenden Folgen nicht kennt ist verwirrt, das gilt aber für jede Form des horizontalen Serienerzählens. Der große Spannungsbogen geht hier vor. Einige Serien balancieren das etwas aus. "White Collar" hat durchaus einen größeren Bogen, aber die Einzelfolgen haben einen eigenen Plot. Nur ab und an werden dann Elemente aus dem Größeren Ganzen erwähnt, so dass der Zufallszuschauer*in die Folge durchaus nachvollziehen kann. Wer einige Folgen mehr gesehen hat, der weiß aber was hinter den Andeutungen und Hinweisen steckt. (Ich behaupte nicht, dass "White Collar" das in Perfektion hinbekommt. Aber eine Menge von "Prime-Time"-Serien in den USA haben ja dieses Prinzip.)
Allerdings - wenn ich ehrlich bin, dann ist "Game of Thrones" gegenüber "EverymanHYBRID" so klar wie Kloßbrühe. Nun hat "EverymanHYBRID" ein sehr überschaubares Arsenal von Hauptfiguren - die wie bei "Game of Thrones" nun nicht alle überleben. Man muss also keine Diagramme zeichnen, um die ganzen Beziehungen im Auge zu behalten. Allerdings - die eigentliche Handlung ist da schon komplizierter. Vor allem, weil "EverymanHYBRID" den Zuschauer, die Zuschauerin nicht an die Hand nimmt oder deutlich darauf hinweist, was nun gerade wichtig sein könnte. Eine Menge Gehirnschmalz braucht man schon, um eventuell darauf zu kommen, dass...
Aber zurück zur Gefährlichkeit der Komplexität. "LOST" etwa hat mich - und vermutlich einen Haufen von anderen Nicht-Hardcore-Fans - irgendwann verloren, weil ich nicht mehr durchblickte, was jetzt ein Rückblick, ein Vorausblick, ein Seitenblick oder gar eine alternative Zeitlinie ist. Wenn eine Serie nicht genau klarmacht, was jetzt wirklich wichtig ist, was ich als Zuschauer*in wirklich verfolgen soll - und was nicht eventuell ein Traum von Jemanden unter der Dusche ist - dann verliere ich als Zuschauer*in irgendwann nicht nur das Interesse, sondern auch den Faden. Ich brauche einen Ankerpunkt oder muss wenigstens einordnen können, wo ich mich gerade befinde. "How to get away with Murder" mag vom großen Handlungsstrang her gesehen durchaus an der Grenze der Unglaubwürdigkeit hantieren - aber hier ist immer klar, was ein Rückblick ist und was aktuell passiert. Generell ist das bei "EverymanHYBRID" auch gegeben: Die Haupthandlung ist durchaus gradlinig.
Durchaus? Nun ja. Jedenfalls ist immer klar, wo man sich gerade befindet, weil "EverymanHYBRID" das Vlog-Format nutzt. Die Charaktere haben immer die Kamera mitlaufen und filmen sich gegenseitig. Was - wie ich schon mal anmerkte - auch ein Problem sein kann, weil man eigentlich einen universumsinternen Grund dafür haben muss, um sich dauernd zu filmen und das Ganze dann bei Youtube hochzuladen. Oder einen Grund für Audiologs. Etwas unglaubwürdig wird es ja immer dann, wenn es um Morde vor laufender Kamera geht... (Das wird nicht so drastisch gezeigt, aber ja, das gibt es durchaus auch bei "EverymanHYBRID".) Es ist für den Zuschauer, die Zuschauerin also immer klar, wer gerade was tut oder aus welcher Perspektive er/sie was sieht.
Nun allerdings kann der Zuschauer, die Zuschauerin auch in die Perspektive eines Teilnehmenden, einer Teilnehmerin - Spieler*in - wechseln, da die Webserie auch lose eingestreut ARG-Elemente beinhaltet. Alternate Reality Games verwischen die Grenze zwischen Realität und Fiktion, weil sie von sich aus behaupten, dass sie "wirklich" sind, obwohl das Ganze nur ein Spiel ist. Wenn eine Hauptfigur einen Wettbewerb per Twitter organisiert und die Gewinner tatsächlich dann Post bekommen - ihre Preise - dann ist die Grenze zwischen Fiktion und Realität durchaus zerbrochen. Der Zuschauer, die Zuschauerin wird Teil des fiktionalen Universums und das garantiert dann natürlich eine durchaus stärkere Immersion. Bedenkt man, dass "EverymanHYBRID" kein oder wenig Budget hat, dann ist natürlich das Internet als Verlängerung der Serie ideal. (Falls irgendjemand in Deutschland das mal nachmachen würde - und zwar in Gut - dann hätte er meine Hochachtung.)
Die Komplexität von "EverymanHYBRID" liegt in der Geschichte selbst begründet. Wir begegnen alternativen Versionen der Hauptcharaktere, wir erfahren, dass einige Videos für die Charaktere nicht zu sehen sind - für uns aber schon. Es gibt ein zwei Stunden (!) langes Video bestehend aus Audioaufnahmen, die irgendwie eine andere Zeitlinie aufzeigen. Wobei diese Audiologs noch gut begründet sind: Ferngespräche waren in den USA in den 70gern durchaus teuer, daher hatte man Diktiergeräte und verschickte dann die Kassetten per Post. (War billiger.) Und es gibt offenbar nicht nur eine Zeitlinie, sondern mehrere, die teilweise aufeinanderprallen. Das Motiv der Wiederholung ist sehr ausgeprägt, aber eine Wiederholung, die auch variabel ist. Zeit und Raum dehnen sich und schrumpfen. Artefakte stören das Videobild. All das ist durchaus gefährlich, weil es - wie in "Finding Fairmont" etwa - den Zuschauer, die Zuschauerin durchaus verwirrt.
Aber die Serie ist deswegen nicht kompliziert. Sie ist vielschichtig, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes mehrere Wibbly-Wobbly-Timey-Wimey-Ebenen beinhaltet. Wir wissen aber immer, wo wir gerade sind. Schön, wir wissen nicht immer unbedingt, ob der Charakter, der gerade filmt, der Charakter ist, den wir seit den letzten Videos kennen - wie geschrieben: Timey-Wimey. Aber genau wie bei "Doctor Who" bleibt der Charakter an sich im Grunde immer gleich. Ich erwähnte ja, dass Wiederholungen eine große Rolle spielen. Und Rollen werden ja durchaus in der Serie auch erwähnt - es gibt eine Referenz etwa auf "Everyman", eines der Mysterien-Spiele aus England. Vorlage unter anderem für "Jedermann", den man in Salzburg immer spielt.
"EverymanHYBRID" ist nicht für jede*n Serienzuschauer*in etwas. Vor allem nicht für Leute, die jede Woche eine neue Folge brauchen - etliche Monate oder ein Jahr kann schon vergehen, bis die neue Folge online ist. Sie lohnt sich aber. Gerade weil sie einen faszinierenden Antagonisten hat, weil die Hauptcharaktere gut gespielt sind und auch, weil es die Serie in die Tiefe geht. Puzzlestücke setzen sich zusammen, alte Handlungsstränge erscheinen im neuen Licht. Nun ja. Man muss es ja nicht unbedingt wie ich übertreiben und knapp sechs Stunden einen Live-Stream verfolgen, der die letzten hochgeladenen Videos erklärt... Merke: Bei knapp 2.200 Zuschauern ist der Chat bei Youtube unübersichtlich wie sonst was und Unterhaltungen nicht möglich. (Der Night-Mind-Livestream zur anderen Serie namens "Tribe Twelve" war dann 8 Stunden lang... Nein, den habe ich nicht live verfolgt, den schau ich mir nach und nach an.)