»Unten am Fluss«: Etwas für Kinder?
»Unten am Fluss«
Etwas für Kinder?
Ich habe noch nicht mal eine Verfilmung angeschaut und „der kleine Lord“ ist allenfalls als vage Weihnachtsnotalgie im Kopf. Worum es da genau geht? Keine Ahnung. Ich vermute, dass es den Meisten so ähnlich geht, wenn sie „Unten am Fluss“ - „Watership Down“ - hören. Das ist doch was mit Kaninchen? Und gibts da nicht diesen Film mit „Bright Eyes“ als Titelsong? Und irgendwie um Nazis?
Wenn man nach dem Buch von Richard Adams sucht, wird man in den meisten Bibliotheken im Bereich der Kinderbücher fündig. Vermutlich, weil die meisten Bibliothekare sich sagen: „Oh, ein Buch über putzige Kaninchen. Das können wir direkt zu Peter Hase stellen. Bestimmt eine sehr nette und harmlose Geschichte voller Idylle.“ Die meisten Buchhändler werden das vermutlich auch sagen, denn obwohl man es vermutet: Nein, beide Berufszweige lesen nicht während ihrer Arbeitszeit Romane. Die deutsche Neuausgabe zum Erscheinen der Netfilx-Serie 2018 im Taschenbuch ziert tatsächlich auch ein hübsches Kaninchengruppenbild. Zwar von hinten, aber Kaninchen sind halt niedlich. Und süss. Und überhaupt.
Überhaupt: Es geht in dem Roman - eine klassische Heldenreise - natürlich um Kaninchen. Um Kaninchen, denen der Mensch in die Quere kommt, denn auf dem Ackerland sollen neue Wohnungen gebaut werden. Dass das für dien Großteil des Geheges nicht gut ausgeht, das erfahren wir im Roman selber. Dank seines hellseherisch veranlagten Bruders Fiver jedoch schart sich um das Kaninchen Hazel eine Truppe, die rechtzeitig davonlaufen kann, um zumindest den Baggern und Bauarbeitern zu entgehen. Ihre Reise führt sie zu einem Gehege, in dem die Kaninchen äußerst seltsam geworden sind. Dass hat seinen häßlichen Grund. Der Großteil des Romans dreht sich aber um die Kaninchensiedlung Efrata. Die dank „Kennzeichen“, präziser Organisation, Unterdrückung und Gewalt eindeutig für einen Nazistaat steht. Von General Woundwort regiert.
Der Rhythmus des Romans ist der einer Heldenreise nach dem Schema F. Unterbrochen wird diese durch Geschichten über ein mythisches Kaninchen, das mit seiner Schläuie und seinem Witz immer wieder gegen die Welt besteht. Till Eulenspiegel lässt grüßen. Wobei diese Geschichten dunkler werden je näher man Efrafa kommt. Der allwissende Erzähler wechselt ab und an die Perspektive. Ein Kapitel wird aus der Sicht eines Farmmädchens erzählt und auch sonst schlüpft der Erzähler immer wieder in die Köpfe und die Denkweise seiner Figuren - spricht den Leser sogar einmal persönlich an. Allwissende Erzähler waren in Kinderbüchern Standard, aber der Geschmack hat sich doch eher auf den personalisierten Erzähler verlagert.
Der allwissende Erzähler hat einen Vorteil: Er kann Atmosphäre schaffen. Richard Adams tut das, in dem er immer wieder für einige Absätze die Natur und die Gegend der Downs in England beschreibt. Da wehen Schlüsselblumen im Wind, der Bach rauscht vor sich hin, der Wind weht durch die Erlen … Was bei Tolkien allerdings ein wenig langatmig werden kann, ist bei Adams immer nur die Vorbeireitung der Szene für die nächste Handlung. Wir müssen vorher wissen, dass es einen Abflusskanal gibt, in den Hazel flüchten kann. Wir als Lesende brauchen die Information darüber, wie die Farm aufgebaut ist, aus der Hazel Stallkaninchen befreit und mit ins Gehege bringt. Dass Weibchen eher Gänge buddeln als Männer, auch das bereitet die nächste Handlung vor, in der dann halt gegraben wird. Der Roman mag an manchen Punkten sein Tempo verlangsamen, aber nur um die Spannung für die nächste Szene aufzubauen.
Was nun soll daran nicht für Kinder sein? Selbst wenn Kinder nicht verstehen, dass Efrafa ein Platzhalter für die Nazis ist, warum sollten sie nicht über putzige nette Kaninchen lesen sollen? Der Roman an sich ist tatsächlich auch weniger ein Problem, weil zwar durchaus Blut fließt - und nicht zu knapp - aber diese Kampfszenen immer so gehalten sind, dass sie nicht ausufern oder dass nicht en Detail geschildert wird, wie das Blut jetzt aus den Wunden fliesst. Fast abgehakte Ohren allerdings sind schon im Roman vorhanden, ebenso wie Wunden durch Gewehre oder Bisse. Wenn zum Schluss der Geschichte ein Hund auftaucht und wild um sich beißt ist das auch nichts unbedingt für sanfte Gemüter. Jedoch so erzählt, dass es für Kinder - vielleicht nicht unbedingt Kleinkinder, man sollte schon so ab 8 Jahren alt sein - noch fassbar ist. Ja, es ist schlimm was da passiert und ja, der Tod wird nicht ausgespart, aber es geht ja immer gut aus.
Wer allerdings mal den Zeichentrickfilm gesehen hat, wird sicherlich sich früh dafür entscheiden, dass eine Freigabe ab 12 für diesen Film mindestens in Ordnung ist. Aber nicht darunter. Wer einmal General Woundwort in diesem Film gesehen hat, wird nachvollziehen können warum Kinder Albträume haben werden. Abgesehen von Efrafa selbst. Der Film selbst ist zudem tatsächlich schon verstörend, wenn er von dem Schicksal der Kaninchen berichtet, die nicht mit Hazel davongezogen sind. Die Vergasung von Kaninchen ist im Roman selbst keine angenehme Erzählung, aber im Gegensatz zum Film ist es dann doch reichlich - zurückhaltender.
Gut, dann lässt man die Kinder halt nicht den Film oder die Netflix-Serie in jungem Alter schauen. Aber der Roman selbst ist doch einigermaßen harmlos? - Nun ja. Ein Problem ist mit Sicherheit das Frauenbild bei Adams. Was man in der Netflix-Serie dann etwas geändert hat, in dem man einen Charakter von einem Männchen zum Weibchen machte. Im Roman aber sind Frauen dazu da, erobert zu werden. Das ist ja das Ziel des ganzen Efrafa-Strangs: Es geht immer darum, dass Hazel und seinen Kameraden „Mütter“ erobern . Sobald die einmal im Gehege sind, hört man nur noch: „Ach, die haben geworfen und kümmern sich jetzt um die Jungen.“ Frauen sind im Roman zarte Wesen, die man beschützen muss und selbst, wenn sie etwas spöttisch auftreten, folgt die Strafe auf den Fuss. Insofern: Hmmm. Ja, das Frauenbild ist problematisch.
Ein zweites Problem: Der Roman ist unglaublich komplex für ein Kinderbuch. Jetzt sollte man Kinder nicht unterfordern oder unterstellen, sie verstünden nicht von komplexen Zusammenhängen. Im Gegenteil, jedoch ist die Frage, ob trotz der leserfreundlichen kurzen Kapitel und den vier Büchern, in die der Roman unterteilt ist, jugendliche Lesende nicht doch überfordert werden. Zwar ist die Hauptgruppe relativ klein von den Charakteren her, die alle auch bestimmte Merkmale haben. Schwierigkeiten könnten aber die eigene Sprache der Kaninchen beinhalten - selbst ich habe nicht verstanden, was ein homba nun sein soll, während ein Dachs oder Fuchs schon eher erkennbarer ist. Da helfen auch Fussnoten bisweilen nichts. Zudem verliert man in den Action-Szenen ab und an die Übersicht. Wer jetzt gegen wen aktuell kämpft ist manchmal nur aufs zweite Lesen nachvollziehbar. Ab und an zieht sich Adams dann auch geschickt mit einem Gott aus der Maschine - ein Kapitel heißt sogar so, nicht ohne Grund - aus der Affäre. Gut, das ist eher schlechter Stil als verwirrend, aber trotzdem.
Interessant ist, dass die Werbung für den Roman in England eher auf Kinder zugeschnitten war, während sonst der Rest der Welt die Erwachsenen ansprach. So ganz einig, ob „Unten am Fluss“ jetzt was für Kinder ist oder nicht, scheint man sich zu Beginn der Veröffentlichung des Romans nicht gewesen zu sein. Der Roman stand dennoch für eine Zeitlang auf Platz Eins der Bestsellerlisten - ein Longseller ist er sowieso. Bleibt die Frage also unbeantwortet? Ist „Unten am Fluss“ eher was für Jugendliche und Erwachsene als für Kinder? Letzten Endes muss das Jeder für sich entscheiden. Ja, das Frauenbild und die Gewaltszenen im Roman gehen schon auf den Magen, wenn man da sensibel für ist. Ja, der Film ist auf keinen Fall was für jüngere Kinder, ebensowenig wie ich die Netflix-Serie geeignet empfinden würde. Die dazwischen produzierte Zeichentrick-Serie kenne ich leider nicht. Jedenfalls: Der Roman bietet auf alle Fälle Grund zu längeren Unterhaltungen mit den Kindern. Vor allem, wenn es um Nazis geht - oder um Kommunisten, wenn man das erste Gehege so deuten möchte, also das mit dem … ähm … Putzige niedliche Kaninchen, die sorglos unbeschwerte Abenteuer erleben sollte man nicht erwarten. Aber als Erwachsener kann man durchaus seinen Spaß daran haben, wie Kaninchen hier dargestellt sind und agieren. Oh, Hazel-Rah!
Kommentare
Damals hat man beim Schreiben offenbar nicht an irgendwelche Zielgruppen gedacht, heute spielt da keine Agentur mehr mit.
Vor Jahren gab es übrigens schon mal eine Rezension zu Adams Fantasy Roman "Maia" in der Printausgabe des ZS.