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Verliebt in die eigene Schöpfung? - September 2013

Auf eine Mail mit Uschi ZietschVerliebt in die eigene Schöpfung?

Wann ist ein Mensch ein Mensch, beziehungsweise: Wann ist eine fiktive Figur so real, dass wir als Leser uns mit ihr freuen und mit ihr leiden?

Wann wird ihr der Hauch des Lebens eingeatmet? Muss der Autor möglichst viel von sich selber reinpacken oder möglichst wenig? Und ist es gut, wenn sich der Autor in seine eigene Figur verliebt?

Oder ist das quasi fiktiver Inzest?


Andreas: Wann ist ein fiktiver Charakter ein "echter" Mensch, und wie originell muss er sein? Ab welchem Punkt leiden wir mit ihm mit? Wie nah muss der Charakter dem Autoren (z.B. vom Alter oder vom Geschlecht) sein, damit es stimmig wirkt? Können Randfiguren, die nur wenig zu tun haben, "echt" wirken?
Uschi: Ein fiktiver Charakter ist nur dann überzeugend und nachvollziehbar, wenn er realistisch wirkt. Wenn man glaubt, es mit einer lebenden, realen Person zu tun zu haben. Das ist für den Leser sehr wichtig, für den Autor aber nicht weniger. Denn er schafft schließlich die Geschichte darum herum, lässt den Charakter leiden und glücklich sein, wirft ihm alle erdenklichen Knüppel in den Weg und tut ihm all das an, was man selbst lieber nicht erfahren will. Aber natürlich auch das Gegenteil davon!
Ich erstelle mir immer ein Datenblatt der wichtigsten Charaktere, erstens, um bei der Beschreibung keine Widersprüche zu riskieren, und zweitens, um mir die Figuren bildlich vorstellen zu können. Wie im realen Leben auch ist es am Anfang immer schwierig, eine Figur einzuschätzen, weil man sie noch nicht kennt. Aber je mehr die Geschichte fortschreitet, umso mehr offenbart sich der Charakter der Figur und fängt dadurch auch an, die Geschichte zu bestimmen. Manchmal verhält sie sich eben nicht so, wie es gedacht ist, weil sie sich durch die bisherigen Umstände in eine ganz andere Richtung entwickelt hat, als zuerst angenommen.  Der Autor selbst sollte dabei kein Spiegel der Figur sein (außer, es ist von der Thematik her so gedacht, dass eigene Erfahrungen aufbereitet werden), denn sonst ist es ja keine eigenständige Figur. Ich vermeide es grundsätzlich, selbst aufzutreten, meine Charaktere sind fremde Personen, die vielleicht in diesem und jenem so entscheiden wie ich – wie auch Freunde von mir, wodurch wir uns ja gut verstehen –, aber die keinesfalls "ich" sind. Ich halte stets Distanz zu meinen Figuren, auch wenn sie mich manchmal wütend machen oder zu Tränen rühren. Doch wenn ich die Distanz unterschreite, fange ich womöglich an, mich in meine Figur zu verlieben, und das ist äußerst fatal für die Geschichte. Denn dann schreibe ich für mich, aber nicht mehr für Leser. So geschehen bei dem Vampir Lestat, aber auch bei Duncan Idaho (Dune), um zwei prominente Beispiele zu nennen. Man kann als Autor nicht mehr davon lassen, und das irritiert den Leser ziemlich, weil er keine Liebesgeschichte zwischen Autor und Figur lesen will.
Randfiguren sollen nicht weniger "echt" sein, auch wenn sie nur kurz auftreten. Manchmal werden sie dadurch sogar zu Hauptcharakteren. Mein Lieblingsbeispiel, das ich hier schon mehrfach angeführt habe: Aus der Serie Elfenzeit der Charakter "Tom". Er sollte nur einen einzigen Auftritt in Band 4 bekommen, weil er da benötigt wurde. Tja, und dann klopfte er in Band 5 an die Tür der Serienheldin und von da an wurden wir ihn nicht mehr los. Alle Versuche, ihn rauszuschreiben und umzubringen, scheiterten. Er setzte sich fest, wurde zu einem Hauptnebencharakter und spielte schließlich eine wichtige Schlüsselrolle, die mir zu Beginn noch nicht bewusst war, sich am Ende aber völlig harmonisch fügte, als wäre es schon immer so gedacht gewesen.
Wenn ich mir als Leser eine Figur plastisch vorstellen kann, dann lebe, liebe und leide ich mit ihr, und so soll es sein, das gilt für alle auftretenden Personen, weil diese schließlich auch die Stimmung und das Ambiente schaffen.

Andreas: Hast du einen Lieblingsautoren, der besonders gut Personen ins Leben rufen kann? Und einen erfolgreichen Autoren, dem das eher schlecht gelingt?
Uschi: Es gibt Autoren, die machen eine Geschichte am Thema fest, und es gibt Autoren, die machen eine Geschichte an der Figur fest. Isaac Asimov hat keinen Wert auf Charaktere gelegt, bei ihm ging es um die SF-Thematik. Seine Personenbeschreibungen sind mehr als dürftig. Viele klassische Krimiautoren reduzieren die Ermittler sehr stark, weil sie nicht in den Vordergrund gerückt werden sollen, sondern der Fall. Es gibt natürlich auch Autoren, die von ihrer eigenen Geschichte so mitgerissen werden, dass sie ihre Figuren dabei fast vergessen.
Ich persönlich bevorzuge beim Lesen immer die figurenbetonte Erzählung und treffe dafür auch die entsprechende Buchauswahl. Marquez und Rushdie, Murakami und viele mehr sind stark figurenbetonte Erzähler, aber nur ein paar wenige Beispiele, die Liste dafür ist seeeeeeeehr lang.

Kommentare  

#1 Kerstin 2013-09-09 08:28
Uschi,

vielen Dank für deine regelmäßigen Beiträge. Ich habe daraus schon eine Menge gelernt und gute Denkanstöße bekommen.

Gruß, Kerstin
#2 Kaffee-Charly 2013-09-09 14:57
Ich muss ehrlich gestehen, dass mich (vor allem bei SF-Romanen) die Charakterenbeschreibungen am wenigsten interessieren. Mein Interessenschwerpunkt ist da mehr auf die Geschichte bzw. das Thema der Geschichte gerichtet. Wenn der Charakter eines Protagonisten wichtig für die Story ist, nehme ich es beim Lesen hin, wenn mir dieser Charakter (möglichst beiläufig in der Story verpackt) beschrieben wird. Sobald es aber in eine "Bauchnabelselbstbetrachtung" der Figur ausartet, fang' ich an zu überblättern, weil ich das einfach nicht leiden kann.
Ich mag es einfach mehr, wenn der Schwerpunkt auf der Story und weniger auf den Figuren liegt.
#3 Kerstin 2013-09-09 16:28
Tja, bei den Krimis scheint es ja auch große Mode zu sein, dass sich alles um die Person des Ermittlers oder der Ermittlerin dreht und der Fall nur noch so nebenbei läuft. Das gefällt mir absolut nicht. Die Persönlichkeit muss da sein, klar. Aber das Privatleben sollte nicht in den Vordergrund rücken. Ich will auch nichts davon hören oder lesen, dass Frau Kommissarin sich Vorwürfe macht, dass sie ihr Kind in die Kita schickt und Verbrecher jagt, anstatt mit dem Kind unnützen Kram zu basteln und schiefe Lieder zu singen und dem Gatten die Socken für morgen rauszulegen.

Was mich auch maßlos ankotzt, sind diese Historienschinken, wo es dann nur um die selbstverständlich betörend schöne Heldin geht und die historischen Hintergründe nur die Kulisse bilden, die dann eben maßgeschneidert um die Person zurechtgebogen werden müssen.

Dummerweise sind das zwei Plots, die bis zum Erbrechen zelebriert werden, anscheinend weil die Mehrheit der Frauen sowas gerne liest. Ich finde damit die Geschichten sehr austauschbar. Wenn der Verleger eine Story in einem anderen Jahrhundert oder einem anderen Land spielen lassen will, ist das ruckzuck umgeschrieben. Auch die Tat im Krimi nimmt nicht so viel Raum ein, als dass der Wechsel auf ein anderes Motiv nicht mal eben zu machen wäre und das flächenmäßig meiste kann bleiben, weil es um den Privatkram geht.

Aber gute Geschichten sind das für mich nicht.

Es gibt eben Geschichten, wo die Person im Vordergrund stehen sollte, und welche, wo es mehr um die Handlung geht. Da ich mir vorher noch nie so intensiv Gedanken über diese Unterscheidung gemacht habe, finde ich den Beitrag gut, weil er mich weiterbringt bei künftigen Planungen.
#4 Andrew P. Wolz 2013-09-10 13:36
@Kaffee-Charly: Ich würde nicht sagen, dass ein Charakter dann lebendig wird, wenn seine Beschreibung möglichst ausführlich ist. Ich könnte mir denken, dass Uschi da das berühmte "Show, don't tell" anbringt. Ein Charakter wird durch sein Handeln und Fühlen lebendig. Wie du es selber schon mit dem Wort "beiläufig" umschrieben hast, kommen Äußerlichkeiten nach und nach dazu - wenn sie überhaupt nötig sind. Früher dachte ich auch immer, wenn man einen neuen Charakter einführt, muss man erst einmal ein paar Eigenschaften abarbeiten und aufzählen. Puh... Aber da war ich noch jung und brauchte die Zeilen. ;-)

@Kerstin: Vielen Dank für dein Lob, das freut uns!

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