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Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 39: Edgar Rice Burroughs – Tarzan bei den Affen (1912)

Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im VerbrauchertestTeil 39:
Edgar Rice Burroughs – Tarzan bei den Affen
(1912)

Heute ist Tarzan vor allem eine Film- und Comicfigur. Doch der Roman von 1912 veränderte zunächst mal die Welt der Pulp fiction – und brachte bald Bewegung in die gesamte literarische Phantastik-Szene.

Noch heute ist der erste Tarzan-Roman eine faszinierende Lektüre.


Edgar Rice BurroughsMit literarischem Ruhm ist es oft wie mit dem guten alten Stille-Post-Spiel. Beim letzten Empfänger kommt wenig von dem an, was der Autor ursprünglich formuliert hat.

Der Preis für die Ehre, etwas zu erfinden, das später zum „Alltagsmythos“ aufsteigt, ist hoch. Meist bezahlt der Mythos selbst das damit, zur Karikatur zu werden. So ist das heutige Bild von Tarzan, in den schönen Worten des Filmkritikers Georg Seeßlen

„...eine Mischung aus Greenpeace-Aktivist und Unterhosenmodel, nicht auszuhalten!“

Spielfilme, Animationsfilme, Tarzan-Puppen, ein Tarzan-Musical, Tarzan-Comics – Das Original erstickt an seiner eigenen Ikonisierung.

Tatsächlich haben andre Kunstfiguren der Literatur die Zeiten besser überstanden. Sherlock Holmes etwa ist nicht zur völligen Karikatur seiner selbst geworden, trotz schlechter Filme. Tarzan schon.

Der deutsche Leser mag da an Karl May und Winnetou denken. Die Parallelen drängen sich förmlich auf. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Tarzan just in dem Jahr die (literarische) Welt erblickte, in dem May starb – 1912. Auch bei Winnetou denkt heute fast jeder an die Filme mit Pierre Brice (die eklatant vom Plot der Originale abweichen) und nicht mehr so sehr an die Romane. Selbst die Verfasser haben viel gemeinsam. Wie Karl May, war auch Edgar Rice Burroughs ein aus armen Verhältnissen stammender Viel-Leser, ein Träumer, der die Schauplätze seiner Erzählungen nicht kannte. Und wie May stieg Burroughs bald auf zum steinreichen Schriftstellerstar, zum Lieblingsautor einer, wenn nicht sogar zweier Leser-Generationen.

Tarzan of the ApesDer erste Tarzan-Roman (es sollten 23 weitere folgen) gehört zu seinen frühesten Büchern. Ihm voraus ging nur noch ein weiterer berühmter Roman, der bis heute heftige Kontroversen in der SF-Szene auslöst: „Die Prinzessin vom Mars“, der erste bedeutende Versuch, SF und Fantasy unter einen Hut zu bringen. Burroughs reichte das Mars-Manuskript im folgenschweren Jahr 1912 beim Munsey-Pulp-Magazin „All Story“ ein. Da kam es zu einer lustigen Auseinandersetzung zwischen Autor und Redaktion. Burroughs, damals noch (es klingt wie ein Ausschnitt aus einem Wodehouse-Roman) Chef einer erfolglosen Bleistiftanspitzer-Fabrik, war es peinlich, die Geschichte unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Er schlug als Pseudonym „(a) normal bean“ vor, also „normale Bohne“, quasi ein Allerweltsautor, ein ironisches Understatement auf das krude Mars-Abenteuer, in dem eigentlich nichts wirklich normal war. Der Verlag machte „Norman Bean“ draus, und das brachte Burroughs so auf die Palme, dass er fortan nur unter eigenem Namen schrieb. Tarzan, sein zweiter veröffentlichter Text, war ebenso erfolgreich wie der Mars-Roman und machte ihn zum Kultautor.

Tarzan of the ApesAbenteuerromane und - geschichten aller couleur hatten ab 1900 ein neues Hoch in der amerikanischen Literatur. Auf den Bestsellerlisten standen zwar immer noch haufenweise historische Romane, doch allmählich fanden die Amerikaner immer mehr Interesse an spannenden Geschichten, die in der Gegenwart oder doch zumindest zeitlosen Refugien spielten. Romane wie „Der Gefangene von Zenda“ und „Das Haus der 1000 Kerzen“ standen hoch im Kurs. Auch das Pulp-Imperium reagierte darauf. 1910 gründete die Ridgeway company das erste Pulp-Magazin der Welt, das ausschließlich temporeiche Action-Geschichten brachte: Adventure. Unter dem Eindruck des Erfolgs verschob auch der große Pulp-Riese Munsey in seinen beliebten All-Story-Magazinen den Akzent mehr in den Abenteuer-Bereich. Um sich von den eher handfesten, sehr irdischen Geschichten von Adventure abzugrenzen, setzte Munsey mehr auf schräge Storys, die SF- und Fantasy-Elemente enthielten. Hier wurde die Weird Fiction geboren, und eines ihrer ersten Genies war Edgar Rice Burroughs.

Tarzan of the Apes„Tarzan bei den Affen“ ist innerhalb der Unterhaltungsliteratur-Grenzen ein Meisterwerk. Der drängende knappe Stil besticht bis heute ebenso wie die damals sehr verrückte Grundidee. Zunächst hebt alles an wie eine alte Robinsonade. Das adlige britische Ehepaar Greystoke wird auf der Reise nach Afrika von Meuterern an einem Dschungelstrand abgesetzt. Dort bauen sich die verzweifelten Engländer eine Hütte – und leben so gut es geht, immer in der Hoffnung auf Hilfe. Doch aggressive Affen töten den Lord, die Frau verliert den Verstand und folgt ihrem Mann bald. Zurück bleibt ihr Baby, das eine der Affenmütter für ihr eigenes getötetes annimmt.

Nun beginnt ein merkwürdiger Perspektivwechsel. Wir erleben – wahrhaft phantastisch – nun den Roman aus der subjektiven Wahrnehmung der Tiere, in deren Mitte Tarzan aufwächst. Wir nehmen an den inneren Gedankengängen von Affen, Raubkautzen, ja Schlangen teil.

Tiere mit menschlichen Eigenschaften sind so alt wie die Literatur selbst. Man denke an Äsops Fabeln, oder an – für Burroughs der wichtigere Einfluss – Kiplings Dschungelbuch (1894). Doch hier fehlt jedes Augenzwinkern, jede gewollte Parallelität zum Menschen. Burroughs versucht in die echten Gedankengänge der Tiere einzudringen, ihre Psychologie zu erhellen. Was denkt ein Tiger beim Anblick eines Gorillas? Wie empfinden Affen Eifersucht? Liebe?

Tarzan of the ApesNatürlich geht der Autor da weit über das hinaus, was Tiere vermutlich wirklich „denken“ - grade die Affen agieren hier mit fast menschlicher Intelligenz, aber der ernste, ja düstere Ton dieser inneren Gedankenwelten ist beeindruckend und innerhalb des Romankosmos zwingend.

Tarzan allerdings emanzipiert sich bald von seiner Horde, erkennt seine Unterschiede und anderen Ideale, fängt an sich zu rasieren, ja lernt sogar lesen an Hand von Büchern in der alten Hütte!

Das wirkt sicher nicht immer überzeugend und manchmal sogar albern, doch herausgearbeitet wird eine sehr positive, urwüchsige Form des Menschseins inmitten brutaler Umgebung. Burroughs propagiert dabei keine Naturverbundenheit in unserem heutigen ökologischen Selbstverständnis. Tarzan tötet gern – er findet es völlig in Ordnung, Tiere zu essen, nur soll man von ihnen nicht mehr erlegen, als man braucht. Tiere werden hier auch nicht als liebenswerte Wesen dargestellt oder gar verniedlicht, sondern oft als horrible Geschöpfe ohne Gnade, von denen der Mensch sich emanzipieren muß, weil er es besser weiß.

Tarzan of the ApesDiese Komponente wurde Burroughs später oft als Rassismus ausgelegt, vielleicht auch deshalb, weil ja Tarzan eigentlich kein reiner „Wilder“ ist, sondern der Sohn eines Lords, dessen britische Überlegenheit einfach auch im tiefsten Dschungel greift bei Kindern ohne Erziehung. Den Lord hat man quasi im "Blut". (Dabei waren viere britische Landjunker damals alles andre als besonders edel und benahmen sich eher wie die Affen. Aber wollte und konnte der Amerikaner Burroughs das wissen?)

Aber vermutlich ist man hier in der Auslegung zu weit gegangen. Wir dürfen nicht vergessen – hier war (noch) kein arrivierter Erfolgsautor am Werk, der seine Philosophie propagieren will in einer kühnen Metapher, sondern ein verträumter Bleistiftanspitzer-Fabrikant, der sich danach sehnte, in einem seiner Lieblings-Pulp-Blätter eine spannende Geschichte zu erzählen.

Die dann noch mal an Fahrt gewinnt durch das Auftauchen einer wissenschaftlichen Expedition – und damit jener legendären Professorentochter Jane Porter, die sich in Tarzan verliebt. Die Sache wird dadurch herrlich verkompliziert, indem auch ein anderer Lord Greystoke mit von der Partie ist – der Bruder Tarzans, der sich auch in Jane verliebt hat.

Tarzan of the ApesDie Liebesszenen des Romans sind äußerst bemerkenswert. Weil sie zeigen, wo die Quelle für die ebenso verstörenden wie faszinierenden Kraftstrotz-Orgien der Pulp-Ära liegt, die dann in den dekadenten überbordenden Conan-Phantasien von Robert E. Howard in den 30ern einen letzten Gipfelpunkt finden. Die Anbetung der männlichen Kraft bekommt aber schon hier, im Tarzan, eine fast pathologische Komponente – die sich fortsetzt bis zur endgültigen Karikatur – dem Super-Hero im comic. (Nicht zufällig wurde auch Tarzan selbst Opfer dieser Welle – vielleicht nicht zu unrecht. ) Jane, rational durchaus kritisch, verfällt der schieren Geschmeidigkeit und Kraft des Helden. Ganz gegen ihren Willen wird sie vom Eros der hehren Männlichkeit narkotisiert. Es gibt eine bemerkenswerte Stelle, in der das ganze Getriebe des Romans kurz zum Stehen kommt, als hätte jemand eine Eisenstange in die Zahnräder geworfen, und plötzlich blitzt die ganze Absurdität dieser Liebe – und der Konstruktion - auf:

She tried to imagine her wood-god by her side in the saloon of an ocean liner. She saw him eating with his hands, tearing his food like a beast of prey, and wiping his greasy fingers upon his thighs. She shuddered.
She saw him as she introduced him to her friends—uncouth, illiterate—a boor; and the girl winced.

[Sie versuchte sich ihren Waldgott im Salon eines Ozean-Dampfers vorzustellen. Sie sah ihn mit den Fingern essen, das Fleisch zerreißend wie eine Jagdbeute, und seine schmierigen Finger an der Hose abwischen. Sie schauderte.
Sie sah ihn, wie sie ihn ihren Freunden vorstellte – ungehobelt, ungebildet – ein Flegel. Und das Mädchen zuckte zusammen.]

Tatsächlich hat der Roman kein gutes Ende in dem Sinne, wie ihn sich die Leser vorgestellt haben mögen. Kein Happy End mit Tarzan und Jane. Jane entscheidet sich wider Lesererwarten für den eleganten zivilisierten Bruder, und Tarzan, inzwischen so gebildet, dass er die Unmöglichkeit der Verbindung einsieht, verzichtet.

Tarzan of the ApesEs wäre ein großartiger Roman mit ungewöhnlichem Ausgang, wäre da nicht der Erfolg, wäre da nicht die Versuchung der Fortsetzung, das Diktat des Lesers, dessen Forderung nach glücklicher Konservativität. Und so kommt es in Band 2, „The return of Tarzan“ (1913), dann doch zur glücklichen Heirat.

Doch soll man dem fleißigen Autor wirklich gram sein wegen der Fortsetzungen? Das geht gar nicht – denn erst auf der Folie des Ur-Romans kann Burroughs das werden, was für die Phantastik-Szene so entscheidend war – diese kaum zu überschätzende suggestive Mischung aus Fantasy, SF, Horror und Abenteuer in den vielen Tarzan-Romanen sollte zum einen die Puristen, die also, die ihre Genres unvermengt sehen wollten (die gabs damals schon zuhauf) dazu anregen, Gegenbilder zu entwerfen, zu zeigen, wie es anders gehen könnte. Zum andern war der Einfluß auf andere große „Fusionierer“ enorm; Autoren wie Howard sind ohne Burroughs' Romane kaum denkbar. Die Tarzan-Romane werden wirklich immer verrückter, immer ausgefallener und immer durchgeknallter, spätestens ab den 20ern bekommen sie endgültig klassischen Fantasy-Charakter, vor allem sind zu nennen (und die Titel sprechen für sich): „Tarzan und die Ameisenmenschen“ (1924), Tarzan und das verlorene Kaiserreich (1928), Tarzan und die Gold-Stadt (1932) und Tarzan und die Verbotene Stadt (1938).

Natürlich hat der Figur an sich nicht geschadet, dass sie so populär durch Filme und Comics wurde – und vor allem Burroughs hat es nicht geschadet, er hat viel daran verdient. Doch den Romanen selbst hat es geschadet. Sie werden mit ihrem Einfallsreichtum durch die seichteren Versionen fürs Auge aus dem kollektiven Bewußtsein verdrängt.

Tarzan of the ApesAllerdings kann man sich die Literatur leicht zurückerobern. Für englischsprachige Fans ist es besonders einfach. Alle Bücher bis auf einen Roman (Tarzan and the madman) gibt’s auf der australischen Roy-Glashan-Bibliothek zum download als ebook.

Kurioserweise findet sich ausgerechnet der fehlende Band in einer deutschen Anthologie des Heyne-Verlages, der 2013 drei Bücher in einem Band herausgab, darunter auch den ersten Teil.

Übrigens ist dieses dicke Taschenbuch schon allein wegen des schönen 20seitigen Essays von Georg Seeßlen anschaffenswert, der auf das Phänomen viel umfassender eingeht, als ich es hier in dem kleinen Artikel kann.

Auch sonst findet man (antiquarisch) eine erstaunliche Anzahl von Tarzan-Fortsetzungen auf deutsch bei größeren und kleineren Verlagen. Ob ebay oder amazon – meist sind sie recht erschwinglich.

Sicher, die Tarzan-Reihe ist und bleibt ein Meilenstein in der Fantasy-Literatur, doch darüber sollte man nicht vergessen, dass Burroughs noch unkonventionellere Romanreihen geschrieben hat, denen das Genre noch mehr verdankt als Tarzan. Da wären etwa seine Mars-Romane zu nennen und vor allem seine siebenteilige Erdkern-Reihe, eine Serie über eine unterirdische Welt. Die übrigens ein schönes Crossover mit der Tarzan-Reihe enthält: „Tarzan at the earth core“ (1930). Burroughs wird uns also sicher noch einige Male in dieser Kolumne begegnen. 

Nächste Folgen:
Roald Dahl - James und der Riesenpfirsich (1961) (05. September)
Isaac Asimov - Ich, der Roboter (1950) (19. September)

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Kommentare  

#1 Andreas Decker 2016-09-05 09:52
Wie immer ein schöner Artikel.

Ich habe Tarzan ziemlich jung in einer vermutlich gereinigten Jugendbuchausgabe gelesen, danach immer nur in Adaptionen. Wo du es aber ansprichst, ein paar Dinge sind hängengeblieben. Dieses sich das Lesen selbst beizubringen erschien völlig plausibel :-) , und die Macht des Werkzeugs, sprich das Messer, das Tarzan überlegen macht. Das war schon eine Botschaft. Irgendwie genauso einprägsam wie bei Verne die Verherrlichung der Technik in Die geheimnisvolle Insel, wo die Jungs anfangs nur die zerlumpten Klamotten am Leib haben und am Ende ihre Pfeifen im Schaukelstuhl rauchen.

Es sagt viel über die Schaffenskraft unserer Kultur, dass es heute keinen Burroughs mit seinem Einfluss mehr gibt und vermutlich auch nicht geben kann.
#2 Toni 2016-09-05 19:17
Mein erster Kontakt mit Tarzan dürfte ein Film mit Johnny Weissmüller gewesen sein. Er hatte dieses "Amt" schließlich 16 Jahre intus und die Filme dieser Zeit liefen im Nachmittagsprogramm meiner Kindheit quasi in Dauerschleife.
Danach ging man auf die Straße und nervte die Nachbarn mit dem Gebrülle. Nur die Elefanten wollten irgendwie nicht kommen :-)
#3 Laurin 2016-09-05 19:26
Ich glaube, mein erster Tarzan war Lex Barker und dann kam irgendwann Johnny Weissmüller dran. Und das nerven mit dem Gebrüll kenne ich auch. Allerdings kamen auch bei uns zu Hause keine Elefanten, dafür aber wutschnaubende Nachbarn gesetzteren Alters. Die waren allerdings dann genauso rasend wie Elefanten. :lol:

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