Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wenn einer die Welt auf den Kopf stellt

Terry PratchettWenn einer die Welt auf den Kopf stellt

Terry Pratchett ist etwas Besonderes, seine Bücher immer wieder ungewöhnlich, herausfordernd und häufig nicht das, was man beim ersten Hineinlesen erwartet.

Bei "Nation", in Deutsch zu "Eine Insel" geworden, ist das nicht anders.


Kartenausschnitt aus "Eine Insel"Immer wieder im Verlauf seiner literarischen Arbeit sind die Bücher von Pratchett in der einen oder anderen Weise "politisch unkorrekt", wechseln sich "amüsante" Bücher mit bissiger Satire. Es ist das Besondere, wenn sich ein Autor nicht auf eine Schiene festlegen lässt. Es wäre viel zu einfach, in Terry Pratchett nur den Schaffer der Scheibenwelt zu sehen.

Wenn ich im Moment lese, habe ich in der Regel das Buch "Die Insel" von Terry Pratchett in Händen, und mein Kopf ist voll von Gedanken über dieses Buch.

Klar, "man" weiß "es". Wer sich ein bisschen für die Literaturszene der Phantastik interessiert, der weiß von der Erkrankung dieses Schriftstellers, und sehr wahrscheinlich beeinflusst es die Art und Weise, ihn und seine jetzige und zukünftige Arbeit zu sehen. Mir jedenfalls gelingt es kaum, dieses Wissen von dem zu trennen, was ich da lese. 

Manchmal lesen wir Dinge und interpretieren sie in einer Art und Weise, weil wir es gerne wollen. Und auf mich wirkt "Nation" (der Titel passt meiner Ansicht nach viel besser zu dem Buch als "Eine Insel") fast wie ein Alterswerk. 

Dieses Buch ist so vielschichtig, so breit in seiner Wirkung, wie ich es bisher in kaum einem seiner  anderen Bücher gefunden habe - aber auch das mag wieder "nur" daran liegen, dass ich es so verstehen möchte (siehe oben).

Da ist der klassische Aufbau der besonderen Situation, der Unmöglichkeit zu entkommen, das Grauen, das in Form der gigantischen Welle hereingebrochen ist. Eine ganze Nation wird binnen Sekunden durch die Flut ausgelöscht. Und als der Junge nach Beendigung seiner Initiationsprüfung auf die Insel zurückkehrt, stellt er fest: Offenbar hat niemand überlebt. Statt von einer Gruppe feiernder Mitbewohner begrüßt zu werden, findet er sich in einer Katastrophe aus Leichen und Zerstörung wieder.

Am anderen Ende der Insel sitzt eine junge Frau verlassen in einem Schiffswrack und versucht, sich in einer ihr vollkommen fremden Welt zu orientieren. Sie soll zu einer Dame erzogen werden, immerhin steht ihr Vater an 136. oder 164. Stelle der Thronrangfolge. Jetzt hat sie allerdings andere Probleme. Das Mehl ist so gut wie ungenießbar, sie ist alleine ... und da ist ja auch noch dieser fremde Junge, mit dem sie sich gerne verständigen würde - aber nicht kann.

Einladung auf die "Sweet Judy"Da ist der Aspekt zweier Kulturen, die in aufeinander prallen. Das Hosenmenschenmädchen und der Junge aus der Nation und die Frage, ob und wie es ihnen gelingen wird, sich zu verständigen.  Kindlich genial, und einfach ausdrucksstark in seiner Erzählung ist die Einladung zum Tee, die Daphne an den Jungen ausspricht (siehe Abbildung) und was der Junge in der Zeichnung versteht. Es erinnerte mich an eine Spielsimulation zum Thema kulturelle Regeln, in denen man sich als Teil einer Gesellschaft in einer vollkommen fremden Kultur bewegen muss um die Regeln dieser Gesellschaft heraus zu finden. In meinem nicht sehr ausgeprägten "grundweiblichem Rehverhalten" flog ich nach kürzester Zeit aus der Gesellschaft, die ich besuchte - ich hatte die unbekannte Regel verletzt, dass eine Frau keine Männer ansprechen durfte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen - ich verstand ja nichtmal warum ich rausflog.

Daphne und Mau finden ihren eigenen Weg: In der Tat gelingt es ihnen, wenn auch nicht ganz ohne Schwierigkeiten, und sie schaffen eine neue Nation, gemeinsam mit den verstreuten Überlebenden der anderen Inseln, die im Lauf der Zeit auf der Insel eintreffen. Dieses Moment des Formens einer Kultur ist interessant gestaltet. Im Buch "geschieht es einfach", man ist so sehr mit Überleben beschäftigt, dass man zunächst keine Gedanken darüber verliert, wie man eine Gesellschaft neu gestaltet. Und je mehr Überlebende ankommen, desto mehr wird diese neue Nation von den Regeln der Pelagonier bestimmt.

Da ist die Frage, was nun geschehen wird, wenn das Schiff, das nach Ermentrude/Daphne suchen wird, eintrifft. Bisher war die kleine Insel der Nation zu uninteressant um kolonialisiert zu werden, aber wenn sie schon mal da sind ... was sollte sie davon abhalten, doch eine englische Flagge am Strand zu platzieren?! Daphne, die ahnt, was passieren wird, schwankt zwischen Angst und Hoffnung, und irgendwann ist sie so gereift, dass es den Anschein hat, sie will gar nicht "gerettet" werden. War doch im Grunde die Katastrophe ihre "Rettung". Und überhaupt ... wie wird die Geschichte der Beziehung zwischen den beiden ausgehen, wenn sie "gerettet" wird?

Da ist der Aspekt der Frage nach der Existenz von Göttlichem, von Glaube und Übernatürlichem. Und ich stolpere durch meine eigenen Gedankenwelten, die durch diese Aspekte angerührt werden wie schon lange nicht mehr. Was ist Glaube, was Relgion? Was ist der Unterschied zwischen Beidem? Wo stehe ich selbst? 

In der seiner Art Wahrheiten zu verpacken, erinnert er mich immer wieder an Adrian Plass, einen anderen von mir sehr geschätzten englischen Autoren. Mit Witz und Ironie verpackt er Wahrheiten und schiebt sie einem unter. Man nimmt sie wahr, und mir gehen sie unter die Haut. Ohne das "deutsche" Bemühen um Ernst und Tiefe erzeugen sie Tiefe. 

Wer Pratchett nicht sehr schätzt, mag (nicht ganz zu Unrecht) kritisieren, dass Pratchetts Bücher gerade in diesen Dingen absolut vorhersehbar sind und sich in dieser Kombination von vermeintlich Tiefsinnigem und humorvollen Elementen wenig von einem großen Teil seiner anderen Bücher unterscheiden. 

Karte am Buchende Und dann war die Geschichte zu Ende (es gibt KEIN klassisches Happy-Ending - großes Lob für Pratchett) und ich schaute mir die Karte an, die am Ende des Buches abgedruckt war und fragte mich "ähem ... und was für eine Karte ist DAS nun?" Es dauerte den einen oder anderen Moment bis es mir klar wurde (und damit auch wieder symbolisch für die Wirkung, die dieses Buch auf mich hatte):

In vielfacher Weise stellt Pratchett die Welt auf den Kopf. Karte umdrehen!

 Kartenausschnitt aus "Nation / Eine Insel" von Terry Pratchett

Quellen der Abbildungen:

  • Foto Pratchett: Autorenseite Verlagsgruppe Random-House (Link öffnet sich in neuem Fenster, Link verlässt die Seiten von Zauberspiegel-online)
  • sonstige Abbildungen: Buch "Nation / Eine Insel" von Terry Pratchett, aus dem Englischen von Peder Brehnkmann, in Dtld. erschienen bei Manhattan, 448 Seiten, € 19,95, ISBN: 978-3-442-54655-8 

Kommentare  

#1 GuentherDrach 2009-07-02 21:42
Pratchetts Bücher liebe ich einfach. Nation hat mich tief beeindruckt.
Bzgl. der Übersetzung: hinter Peder Brehnkmann versteckt sich Bernhard Kempen, der sozusagend seinen Namen zurückgezogen hat. Zwischen Lektorat und Übersetzer gab's offenbar ein richtiggehendes Verwürfnis, da dem letzteren die Änderungen des ersten zu weit gingen, das Gesamtresultat zu stark auf 'all age' trimmten. Siehe z.B. www.wetterspitze.info/?p=1550 und otherland-berlin.corneredchicken.com/contenido/cms/front_content.php?idart=753 (Nlog-Eintrag 3/9

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.