HORROR EXPERT 13 – Tödliche Kälte
Tödliche Kälte
Was passiert?
Frankreich, in den 70ern. Nach dem sonntäglichen Familienausflug lässt sich Alain von seiner Frau Francoise überreden, in der Nähe eines neuen Motels anzuhalten und eine Pause zu machen. Froh, aus dem nervigen Stau auf der Straße rauszukommen, willigt Alain ein. Und gleich gibt es Ärger, denn Söhnchen Viktor verschwindet spurlos. Die panischen Eltern entdecken ihn, wie er mit einem Fremden geht. Sie rennen hinterher, der Mann verschwindet. Viktor weiß gar nicht, was die Aufregung soll. Er behauptet, doch mit Papa gegangen zu sein. Und Papa habe gesagt, einen Spaziergang machen zu wollen, da er morgen tot sei. Alain ist nicht amüsiert.
Dennoch trinken sie was im Motel. Alain fühlt sich plötzlich krank. Irgendwie geht ihm der Blödsinn seines Sohnes dann doch nahe. Gerade wollen sie aufbrechen, als ihnen ein befreundetes Ehepaar begegnet. Man macht einen Spaziergang. Das Wetter schlägt um. Obwohl er sich immer noch erkältet fühlt, bietet sich Alain an, den Wagen zu holen. Es fängt an zu regnen, die Landschaft ist grau.
Als Alain ins Motel kommt, ist seine Familie verschwunden. Alain ist stinksauer, er fängt an zu suchen. Fragt andere Gäste, das Personal nach seiner Familie. Ständig scheint man ihn zu ignorieren. Mittlerweile ist es Abend. Irgendwann findet er seinen Sohn allein in der Motellobby. Viktor behauptet, dass seine Mutter mit den Bekannten auf ihr Zimmer gegangen ist, um sich umzuziehen. Alain ist immer noch verärgert über das Verhalten seiner Familie, hat aber nun eine Erklärung. Seine Frau war nass geworden und musste sich umziehen. Er besorgt sich die Zimmernummer und befiehlt seinem Sohn, in der Lobby zu warten.
Aber er findet das Zimmer zuerst nicht. Als er es schließlich findet, tritt er einfach ein, aber niemand ist da. Ein Blick aus dem Fenster zeigt ihm, wie ein Mann seinen Sohn über den Parkplatz in ein Nebengebäude führt. Alain schlägt Krach, rennt rüber, greift den erstbesten Mann an, auf den er stößt. Das ist ein Motelangestellter. Der Direktor kommt dazu. Niemand hat den Jungen gesehen, es ist auch keiner reingekommen. Alain steht wie ein Trottel da. Er hat sich offensichtlich geirrt. Und es geht ihm beschissen. Aber wo sind sein Sohn und seine Frau?
Mühsam würgt er etwas zu essen runter, dann schleppt er sich mit dröhnendem Schädel zurück in das Zimmer seiner Bekannten. Aber da wohnt jemand anderes. Schon seit drei Tagen. Mittlerweile fühlt sich Alain so krank, dass er sich ein Zimmer nehmen muss. Er geht die Geschehnisse immer wieder durch.
Als Alain aufwacht, friert er, denn ihm ist eiskalt. Er kann sich nicht bewegen. Seine Frau und sein Sohn stehen da. Sie hören ihn aber nicht. Sie weinen. Und das Zimmer – es ist ein anderes. Sein Vater und seine Mutter sind da. Aber der Vater ist seit zehn Jahren tot. Ein Arzt kommt und erklärt ihn für tot. Dann trägt man ihn weg, legt ihn in ein Grab. Schüttet es zu.
Alain wacht im Motel auf. Alles war nur ein Albtraum. Kalt ist ihm noch immer. Er glaubt seine Frau zu sehen, jagt ihr im Regen nach, der ihn bis auf die Haut durchnässt. Findet sie aber nicht, denn das Motel ist so gut wie menschenleer. Dann ist sein Wagen weg. Er will ihn an der Rezeption als gestohlen melden. Er erfährt, dass das Zimmer, in dem er schlief, seit zwei Tagen nicht mehr vermietet war. Frierend, krank und völlig durcheinander versucht Alain seine Mutter anzurufen, aber die Verbindung ist schlecht. Angeblich sind seine Frau und sein Sohn zu Hause; sie wohnen nebenan. Die Verbindung bricht ab.
Alain will mit dem Bus nach Hause fahren. Der kommt aber nicht. In Regen und Nebel marschiert Alain nach Hause. Der Nebel wird immer dichter. Passanten, die ihm begegnen, scheinen ihn nicht wahrzunehmen. Geschäfte haben unerklärlicherweise geschlossen. Sein Spiegelbild erscheint ihm wie ein Toter. Es muss ihm wirklich schlecht gehen. Seine Uhr ist stehengeblieben. Aber überall ist es 11.05. Als er endlich seine Mutter erreicht, ist er völlig fertig. Nach diversen Missverständnissen stellt sich heraus, dass er eine Gedächtnislücke von 3 Wochen hat. Alain will es nicht glauben.
Er will nur noch die eiskalten Klamotten loswerden und ein heißes Bad nehmen, bevor er nach Hause geht. Aber er kann einfach nicht in die Wanne steigen. Sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. Er zieht einen trockenen Anzug seines Vaters an, den die Mutter nicht weggeworfen hat. Auf dem Nachhauseweg verirrt er sich wieder im Nebel. Er fühlt sich von Männern verfolgt und landet schließlich auf dem Friedhof. Der Friedhofswärter erklärt ihm, wie er wieder nach Hause kommt. Alain muss entdecken, dass der Mann von einem Grab sprach. Er entdeckt seinen Grabstein. Der Aufschrift zufolge ist er tot. Bevor er das richtig verarbeiten kann, sind die Verfolger da. Sie stoßen ihn in das Grab.
Alain wacht auf. Er kann sich an alles erinnern. Ein schrecklicher Albtraum. Aber er kann sich nicht rühren. Die Nachttischuhr zeigt 11:05. Das erinnert ihn an etwas. Seine Frau und sein Sohn kommen ins Zimmer. Sie hören ihn nicht. Ein Arzt kommt. Er erklärt Alain für tot. Und diesmal begreift Alain, dass er wirklich tot ist.
Ein Nachruf erklärt, dass sich Alain bei einem Marsch durch den Regen eine Grippe zuzog und nach drei Wochen der Krankheit ins Komma fiel. Man begrub ihn im Anzug seines Vaters. Kurz vor dem Ende wurde er von Krämpfen geschüttelt. Wer weiß schon, welche Albträume die Sterbenden heimsuchen.
Worum geht es?
Und weiter geht es bei Luther mit den Franzosen. Nach dem schwachen Einstand im letzten Monat mit Vielschreiber Dominique Arly kommt bereits der nächste Band der Gruselreihe "Angoisse". Die Original-Nummer 201 mit dem schönen Titel "Un froid mortel", was in der Tat soviel wie "Tödliche Kälte" heißt. Versehen mit einem spektakulär unspektakulären Cover von Michel Gourdon erschien der Roman 1971 unter dem Namen Alphonse Brutsche. Von Brutsche gibt es in Deutschland zwei Veröffentlichungen, diesen Roman und später im selben Jahr der Vampir Horror Nr.3. Insgesamt erschienen bei "Angoisse" aber auch nur drei Brutsche; bei der SF-Reihe "Anticipation" gab es noch vier weitere.
Unter dem richtigen Namen des Verfassers Jean-Pierre Andrevon sieht es da schon anders aus. Geboren 1937 hat sich Andrevon den Ruf eines von Frankreichs bedeutendsten Science Fiction-Autoren erschrieben. Der Mann ist Autor, Herausgeber, Komponist und Illustrator, der nicht zuletzt politisch aktiv ist und sich für Ökologie einsetzt. 2017 erschienen die bis jetzt letzten Werke des Achtzigjährigen. Heute lebt er in Grenoble.
In Deutschland ist er so unbekannt wie sein Alter ego Alphonse Brutsche. Von Andrevon erschienen zwei Romane, eine Comic-Adaption bei Ehapa, eine Handvoll Stories in den wenigen Frankreich-Anthologien und eine Themen-Anthologie. Das ist nicht viel bei einer Bibliografie von mindestens 160 SF-Veröffentlichungen. Der Inhalt seiner Romane ist dabei breit gefächert. Von literarisch hochstehender Inner Space bis zum Weltraumkrieg mit den Aliens.
Allerdings steht er nicht allein, was die mangelnde Bekanntheit angeht. Von französischer Science Fiction hat es kaum etwas über die doch gar nicht so weit entfernte Grenze geschafft, und das zu der Zeit, als sich Science Fiction noch verkauft hat. Aber SF aus Frankreich wird oft als eigenwillig und schwierig empfunden, wie auch Filme wie "Das 5. Element" oder "Valerian" zeigen. Oder, um andere Lesermeinungen zu zitieren: als stinklangweilig und zäh.
Wieder begegnen wir dem fleißigen Verlag Fleuve noir, zu dessen Geschichte wir in einem späteren Beitrag ja noch kommen werden. Anlässlich Andrevons SF-Karriere an dieser Stelle aber ein kurzer Abriss von Fleuve noirs SF-Programm.
1951 startete FN die Science Fiction-Reihe "Anticipation", die es bis zur Einstellung 1997 auf 2001 Taschenbücher brachte. Hier finden sich nur wenige Übersetzungen aus dem Amerikanischen und Englischen, vor allem in den 50ern und 60ern kam wohl niemand in Europas SF an "Klassikern" wie Vargo Statten, Volsted Gridban und Murray Leinster vorbei. Aber es gab bei "Anticipation" auch gehaltvollere Autoren wie John Wyndham oder Arthur C. Clark.
Doch den Rest machen französische Autoren aus, wobei die verlässlichen Hausautoren, die FN über Jahrzehnte für alle Genre kultivierte, vom Krimi bis zum Erotikroman, einen riesigen Anteil hatten. Für "Anticipation" waren die Vielschreiber wie Maurice Limat (108 Romane), Peter Randa (79 Romane), André Caroff (63 Romane) und B.R.Bruss (42 Romane) , um Namen zu nennen, die man in Deutschland wenigstens aus dem Vampir Horror und von Luther kennt.
Aber "Anticipation" war nur der Anfang eines großen SF-Programms. In den 70ern und 80ern kamen bei FN zahlreiche Reihen mit Originalromanen, Übersetzungen und Novelisations hinzu. Die Liste reicht von "Alias" bis "Warcraft". Perry Rhodan gab und gibt es auch, der erscheint mittlerweile aber ausgelagert beim Verlag "Pocket". (Wie in Deutschland gibt es in Frankreich eine Verlagskonzentration, die einstige Konkurrenzunternehmen unter einem Konzerndach vereint.) Mittlerweile ist man beim Zyklus "L'Armada Infinie".
Die Qualität von "Anticipation" dürfte, vorsichtig ausgedrückt, schwankend gewesen sein. Allerdings stehen den ganzen offensichtlich angloamerikanischer Abenteuer-SF nachgeäfften Romanen (die in diversen französischen Kritiken meistens kurz und bündig als Schund bezeichnet werden) immer mal wieder Erfolgsgeschichten gegenüber. Da gibt es zum Beispiel George-Jean Arnaud. (Nicht zu verwechseln mit dem Autor von "Lohn der Angst" gleichen Namens.) Ebenfalls ein Vielschreiber mit ca. 400 Veröffentlichungen in allen Genre seit 1957 startete er 1980 die SF-Serie "La Compagnie des Glaces", in der die Menschheit nach einer neuen Eiszeit in Kuppelbauten ihr Leben fristet und von den neuen Eisenbahngesellschaften unterdrückt wird, die den Verkehr aufrechterhalten. Bis 2005 gab es davon 98, von Arnaud selbst verfasste Romane in diversen Ausgaben, des weiteren Comics, Anime, ein Computerspiel und 2006 eine Fernsehserie. In Deutschland gab es einen Krimi und ein Vampir Horror-Heft von dem Mann.
Andrevon ist also in guter Gesellschaft, was den Nicht-Erfolg (oder die Nicht-Zurkenntnissnahme) im europäischen Ausland angeht. In Frankreich hat er im Laufe seines Lebens diverse Literaturpreise erhalten, darunter auch Preise, die über das Genre-Ghetto hinausgehen.
"Un froid mortel" hat ein Thema und eine Gestaltung, die man bei den französischen Phantastikautoren öfters findet. Es ist eine für unseren Geschmack sehr eigenwillige Mischung aus Horrorelementen, SF-Elementen und Entfremdung. Was allein schon verkaufstechnisch gesehen problematisch ist, denn für die Horror-Fans ist zu wenig Horror drin, für die SF-Fans zu wenig SF. Das Thema des Protagonisten, der sich aus einem völlig banalen Treiben plötzlich in einer abseitigen Realität wiederfindet, an der er letztlich scheitert, findet sich in auffallend vielen französischen Geschichten. Oft in Kombination mit den Themen Amnesie oder der Frage nach der Identität - nichts ist das, was es zu sein scheint, die Realität hat einen doppelten oder gleich mehrfachen Boden. Hat man mehr davon gelesen, wird verständlicher, warum ausgerechnet Philip K.Dick in Frankreich so beliebt war.
Leider ist "Tödliche Kälte" schlecht gealtert. Dem etwas erfahrenen Genre-Leser sollte früh klar sein, dass Alain tot ist und durchs Jenseits oder was auch immer irrt. 1971 wird das frischer gewesen sein, wenn auch kaum originell. Das Thema wurde schon in den 60ern selbst in Fernsehserien wie "The Twilight Zone" mehr als einmal verarbeitet.
Die Behäbigkeit der Handlung verlangt dem Leser einiges an Geduld ab. Wie häufig bei solchen Geschichten wird die ständige Wiederholung von Ereignissen manchmal etwas zäh. Obwohl Andrevon die oft wenig plausiblen Reaktionen seines Protagonisten geschickt auffängt und das Ende nachträglich eine klare Erklärung bietet, hat das für den Leser ein gewisses Frustrationspotential. Man fragt sich, wie viele Leute den Roman gelangweilt aus der Hand gelegt haben, weil es (scheinbar) einfach nicht voran geht. Und weil die abenteuerlichen Elemente und die Gruselelemente, die üblicherweise fester Bestandteil solcher Geschichten sind, dem Leser vorenthalten werden. Denn es passiert nicht viel, außer dass der Protagonist durch seinen Albtraum irrt. Action gibt es hier keine.
Aber auch anderes fehlt. Der Verzicht auf jegliche okkulte oder religiöse Elemente, die bei diesem Thema ja naheliegend wären, ist Programm; Alains Vorhölle besteht nur aus den nüchternen Beschreibungen banaler und banalster Alltagsvorkommnissen, sowie aus der wachsenden Entfremdung des Protagonisten mit der Realität. Zwar verzichtet Andrevon nicht völlig auf Versatzstücke aus dem Horrorgenre – zb. die Szenen mit dem lebendig begraben werden -, aber für die Handlung sind sie letztlich nicht von Bedeutung. Und sie wirken auch eher pflichtschuldig. "Grusel" in der gewünschten Form war nicht Andrevons Ding, wie die mageren drei Veröffentlichungen bei "Angoisse" zeigen.
Allerdings ist das im Allgemeinen geschickt und stimmig erzählt. Die surreale Atmosphäre funktioniert durchaus. Alains Odyssee durch die verschobene Welt ist sicherlich beklemmend dargestellt. Sie ist nur nicht besonders interessant und das Ende keine große Überraschung.
Der Kontrast zu Dominique Arly im Vorband ist jedoch enorm. Da eine misslungene Gothic-Kopie, hier eine Geschichte, die sich nicht um Genre-Konventionen schert und letztlich trotz aller Kritikpunkte eigenständig ist. Ob die Luther-Leser, die immerhin etwas mit der Aufschrift Horror kauften, damit wirklich etwas anfangen konnten, ist aber zumindest fraglich. Andrevons Roman hat nun wirklich nichts mit so handfester Genre-Kost wie Peter Saxon oder Seabury Quinn gemeinsam.
Dass sich so gegensätzliche Texte in Luthers Gemischtwarenladen finden, wundert einen nach 13 recht unterschiedlichen Bänden kaum mehr. Sind die Romane schon sehr gegensätzlich, gilt das erst recht für die Quellen. Agentur Singers amerikanische B-Schublade und Fleuve noirs Franzosen, da prallen zwei Welten aufeinander. Genremäßig gesehen unspektakuläre typisch angloamerikanische Gebrauchsliteratur ohne höheren Anspruch oder französische Versuche in Phantastik, die die ausländischen Vorbilder entweder mehr schlecht als recht kopieren oder so anders sind, dass sie eigentlich nicht mehr ins Konzept solcher Reihen passen. Immerhin bleibt sich Luther treu. Auch wenn die meisten Beiträge dieser Gruselwundertüte nicht unbedingt von Qualität zeugen, sind sie in ihrer Unberechenbarkeit zumindest nicht langweilig: der Leser weiß nie, was ihn erwartet. Nach welchen Kriterien gerade die französischen Texte aus dem großen Angebot ausgesucht wurden - immerhin lagen zur Erscheinungszeit 1972 allein bei "Angoisse" 200 Titel vor - wird Spekulation bleiben. Aber die Vermutung liegt nahe, dass es ein willkürlich zusammengesuchtes Paket gewesen ist, erst recht in Anbetracht der noch folgenden Bände. Offensichtlich geeignete Titel wie z.b. die Frankenstein-Serie von Jean-Claude Carriere (6 Bände als Benoȋt Becker) wurden ignoriert.
"Tödliche Kälte" wurde Jahre später als "Dämonenland" Nr. 123 nachgedruckt. Durch den etwas kleineren Satz als üblich konnte man soweit ersichtlich auf Kürzungen verzichten.
Man kann sich nur wiederholen. Herbert Papala, keinen Bezug zum Inhalt, schöne, atmosphärische Illustration. Bon.
Das Original
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Des Collections Du Fleuve Noir (www.polar-sf.fr)
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Les lectures de l'oncle Paul (Blog)
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The Müller-Fokker Pulpbot Effect (Blog)
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Wikipedia.fr
Kommentare
Wenn ich lese wieviel die anderen so geschrieben haben, frage ich mich, warum Pabel für die späteren Nummern nicht öfter zugegriffen hat. Die Mischung, im Wechsel mit den eigenen Sachen, war ja nicht schlecht.