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Wer ist das eigentlich? Vier Kurzgeschichten von Oliver Müller

Vier Kurzgeschichten von Oliver MüllerWer ist das eigentlich?
Vier Kurzgeschichten von Oliver Müller

Der Vincent Preis für die beste Horrorkurzgeschichte wird seit 2007 verliehen. Bei den bisherigen Preisträgern handelt es sich um eine illustre Runde. Dazu gehören Markus K. Korb, Andreas Gruber, Arthur Gordon Wolf, Vincent Voss und zuletzt Faye Hell.

Der letzte Preisträger aber heißt: Oliver Müller. Grund genug einmal vier seiner Stories näher zu betrachten.

Oliver MüllerDer Autor
Den treuen Zauberspiegellesern ist Oliver Müller natürlich ein Begriff. Gehörte er doch 2008 zum Team der legendären Serie "Der Hüter". Oliver, Jahrgang 1983, hat danach noch an etlichen anderen Serien mitgearbeitet. Im Mohlberg-Verlag etwa bei "Rex Corda" und "Ad Astra". Weitere SF-Serien, an denen er mitschrieb, waren "Raumschiff Promet" (Blitz) und "Deinoid XT" (Peter Hopf). Im Gruselbereich ist die Serie "Vampir Gothic" (Romantruhe) zu nennen. Aber nicht nur bei den Kleinverlagen auch im Bastei Verlag konnte er in den letzten Jahren reüssieren. "Maddrax", "Professor Zamorra" und zuletzt auch "John Sinclair" wurden durch seine Romane fortgesetzt.

Es gibt aber auch den Kurzgeschichtenautor Oliver Müller. Die Storys erschienen in verschiedenen Anthologien. 2010 errang er den ersten Platz in der Ausschreibung "Navi des Grauens" (Verlag P&B). In den letzten vier Veröffentlichungen (2016-2019) der "Dark"-Reihe bei der Romantruhe ist er mit Geschichten vertreten.

Die Geschichten
Achtung Spoileralarm! Entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit, werde ich diesmal die Geschichten komplett besprechen, also auch den Schluss verraten!

Vier Kurzgeschichten von Oliver MüllerBeginnen wir doch gleich mit "Die Unschuldige von Beerfelden" aus der Anthologie "Dark Place". Hauptperson von Oliver Müllers Geschichte ist die junge Studentin Lisa Mattern. Sie wird so charakterisiert:

"Sie hatte nicht viel gemein mit den heute das Bewusstsein beherrschenden Modepüppchen, die auf den Privatsendern ununterbrochen über den Bildschirm flimmerten und Unsinn absonderten wie andere Leute Schweiß". (S.124)

Dementsprechend ist im Urlaub auch nicht wie ihre Kommilitoninnen auf Mallorca, sondern als Rucksacktouristin auf Schusters Rappen in Deutschland unterwegs. Mal übernachtet sie im Zelt, mal in einer Herberge, je nachdem, was sich ergibt. Von Heidelberg führt ihr Weg entlang des Neckars und dann nach Neckarsteinach. Sie übernachtet bei der Burgruine Schwalbennest. Auf ihrem weiteren Weg stößt sie auf ein Hinweisschild zum "Beerfelder Galgen", der ihr Interesse erregt. Auf einer Hinweistafel erfährt sie, dass es sich um den besterhaltenen dreischläfrigen Galgen Deutschlands handelt. Er wurde um 1550 errichtet und die letzte Hinrichtung fand im Jahre 1804 statt. Damals wurde eine Zigeunerin hingerichtet, die ein Huhn und zwei Laib Brot gestohlen hatte.

Hungrig gönnt sie sich eine Brotzeit. Plötzlich taucht ein gackerndes Huhn auf. Während sie sich noch wundert, wo das Federvieh herkommt, treten auch noch drei Männer auf den Plan. Die seltsam gekleideten Gestalten bezichtigen sie des Hühnerdiebstahls. Als sie sich gegen Vorwurf verwahrt werden die Kerle gewalttätig und wollen "die Zigeunerin" umgehend aufknüpfen. Sie fesseln sie und machen sich auf den Weg zum Galgen. Vorher gewähren sie ihr noch ein letztes Gebet.

Unvermittelt betritt eine andere junge Frau die Szene und gebietet den Männern Einhalt. Die dunkelhaarige ist wie eine Zigeunerin gekleidet und verkündet, dass hier keine Unschuldigen mehr hingerichtet werden. Sie stürmt auf die Männer los und vertreibt sie wie einen Spuk. Danach stellt sie sich als Juanita vor, die vor 211 Jahren unschuldig an diesem Ort ihr Leben lassen musste. Lisa googelt noch schnell nach und verlässt danach fluchtartig den Ort.

Eine Geschichte mit starkem Einstieg, deren Ende dann überraschend schnell kommt.

Vier Kurzgeschichten von Oliver MüllerEin Jahr später erschien "Enongeschmor" in der Anthologie "Dark Creatures". Diesmal entführt Oliver Müller den Leser nach Coesfeld und ins Jahr 1875. Im Mittelpunkt steht die Bauernfamilie Schladminger.

In der Erntezeit will der Einunddreißig Jahre alte Bauer mittags die Ernte fortsetzen. Seine neunzigjährige Großmutter Resi warnt ihn eindringlich davor. Wie schon ihre Großmutter erzählt hatte, gehe um die Mittagszeit die Enongeschmor, die Mittagsfrau, um mit ihren Roggenwölfen. Während seine Kinder, die fünfjährige Johanna und der zwölfjährige Rudolf Angst bekommen, weisen der Bauer und seine Frau Elisabeth die Großmutter in die Schranken. Wer glaubt schon an so etwas! Man lebe schließlich nicht mehr im Mittelalter.

Der Bauer geht denn auch aufs Feld und will die Sense schwingen. Seine Kinder werden gleich nachkommen. Da hört er wolfsähnliche Geräusche. Doch er lässt sich nicht beirren und beginnt, den Roggen zu schlagen. Er kommt gut voran, aber dann hört er Schreie, Schreie seiner Kinder. Er rennt ihn Richtung der Geräusche, da steht plötzlich eine Frau vor ihm, die ihn um drei Haupteslängen überragt.

"Ihre Gestalt war die einer uralten Frau, die Haut runzelig und schwarz wie die Nacht. Mit langen Armen, die in feurigen Fingern endeten, griff sie nach ihm." (S.84)

Die Dämonin schlägt den Bauern und zwingt ihn Teer aus ihrer Brust zu saugen. Sie sagt ihm, dass sie sich an ihm rächen wird, weil er sie verleugnet hat. Hilflos schließt der Mann mit seinem Leben ab. Da schlägt die Kirchturmuhr eins. Die Dämonin verschwindet. Als er sich mühsam aufrappelt findet er seine vier Kinder. Tot, wie von Wölfen zerrissen. Er fragt sich bang, wie er dies seiner Frau mitteilen soll. Da ertönt eine Stimme: "Die weiß es schon." Die Dämonin ist wieder da. Irgendwie gleicht sie seiner Großmutter. Und schlägt ihm den Kopf ab.

Eine gruselige Geschichte. Ich werde mittags keinen Roggen mehr ernten!

Vier Kurzgeschichten von Oliver Müller2018 erschien "The Axeman's Jazz" in "Dark Killers". Die Geschichte spielt in New Orleans, der Wiege des Jazz.

Gleich zu Beginn betritt ein Mann einen alten Teil eines Friedhofs. Vor einem Grab mit den Daten 1875-1920 bleibt er stehen.

"Fast zärtlich fuhr er mit den Fingern über die Buchstaben. Dann, mit einem Ruck, stand er auf. Sein Mund öffnete sich zu einem Lachen, das die Stille auf dem Friedhof zerriss. Es klang, als würden alte Buchseiten zu Staub zerfallen." (S.70)

Dann wird umgeblendet. Der Musiker Brad erwacht völlig verkatert nach einer durchzechten Nacht in seinem Hotelzimmer. Als das Handy klingelt und sein Manager dran ist, glaubt er zuerst es gehe um den Fernsehtermin am gleichen Abend. Doch stattdessen wird er informiert, dass sein Bandkollege Leroy ermordet worden ist. Wenig später steht er mit zwei Polizisten vor der Tür, die Brad routinemäßig befragen. Dabei erfährt er, dass Leroy in seinem Haus mit einer Axt erschlagen worden ist.

Er besucht danach die anderen beiden Bandmitglieder Lester und Stan, mit denen zusammen er den neuen Stil Nu Electro Jazz entwickelt hat. Die beiden stammen wie Leroy aus New Orleans und haben bei Stans Großmutter Unterschlupf gefunden haben. Beide sind über den Tod ihres Kollegen schockiert. Die Großmutter erzählt dann von einem Axtmörder der zwischen 1911 und 1919 dreizehn Menschen in der Stadt ermordet hat. Immer war damals eine Axt die Tatwaffe und immer kam der Mörder durch die Hintertür.

Der Mörder streift derweil durch die Stadt und freut sich auf seine nächsten Taten. Zuallererst will er einige Personen bestrafen.

Brad bleibt unterdessen bei seinen Freunden und lässt den Manager Nachforschungen über den Axtmörder anstellen. Dieser ist nie gefasst worden und hat damals sogar einen Brief an die Zeitung geschrieben, in dem er weitere Morde angekündigt hat. Verschont werden sollte nur wer sich in einem Haus befand, in dem Jazz gespielt wurde.

In der Nacht wacht Brad auf und hört merkwürdige Geräusche aus dem Obergeschoss. Kurz darauf sieht er in der Zimmertür die Silhouette eines Mannes mit einer Axt. Er ist unfähig zu fliehen, geht stattdessen ans Klavier und beginnt ... Jazz zu spielen. Originalen New-Orleans-Jazz, wie er um 1905 in der Stadt gespielt wurde. Der Fremde kommt näher, bleibt stehen und hört zu. Nach einer Weile sagt er: "Du kannst es ja doch."

Brad spielt immer weiter und weiter. Bis zum Morgen und auch danach. Auch als die Polizei kommt, spielt er einfach weiter. Er glaubt, er ist nur sicher, solange er spielt. Schließlich wird er verhaftet und in eine Zelle gesteckt.

"Es war ihm egal. Denn egal, wohin sie ihn brachten, wenn er wollte, würde er ihn finden. Und wenn es einhundert Jahre dauerte. Für den Axeman bedeutete Zeit nichts. Brad würde einfach warten, bis er kam. Und er würde kommen. Irgendwann. Zurück nach New Orleans." (S.82)

Die Geschichte ist genial und hat verdientermaßen den Vincent Preis erhalten!

Vier Kurzgeschichten von Oliver MüllerIn der neuesten Geschichte "Die dritte Mandränke" aus "Dark Islands" erwacht Linda im Stockdusteren auf einem Boot. Sie fragt sich, wo sie ist und wie sie dahin gekommen ist. Nach und nach fällt ihr ein, dass sie auf der Silberhochzeit ihres Onkels gewesen ist. Dort hat ein Arbeitskollege ihres Vaters sie mit Sekt abgefüllt und dann bedrängt. Nur der Pastor hat sie vor seinen unerwünschten Annäherungen bewahrt. Er erinnerte an Gottes Zorn über solch lasterhaftes Treiben, doch die anderen Gäste haben ihn nur verlacht. Deshalb war sie aus der Gaststätte geflohen.

Jetzt ist sie mutterseelenallein im Dunkeln in einem Boot auf dem Meer. Sie ruft um Hilfe und wird zum Glück von einem Einheimischen gehört, den sie allerdings kaum verstehen kann. Als sie zu ihm will, fällt sie über Bord. Doch sie wird gerettet. Der Fremde ist nicht allein, in seinem Boot sitzen auch noch etliche altmodisch gekleidete Frauen. Der Mann redet immer wieder von Faam, Sunde und Floed, was sie nach einer Weile als Jungfrau, Sünde und Flut übersetzt. Jetzt erfährt der Leser auch, dass Linda auf Pellworm gefeiert hat und dorthin zurück will. Ihr Retter reagiert reserviert:

"Ik tinke net, dat noch immen lebt. Alle op stran sin dea." (S.216)

Der Mann glaubt zwar nicht, dass dort noch jemand lebt, folgt aber ihrem Wunsch. Kaum ist sie an Land gegangen, ist das Boot wie von Geisterhand verschwunden.

Als sie die Gaststätte betritt, ist dort alles ruhig und nass. Sie findet nur noch Tote. Eine alte Karte der Insel vor der letzten großen Flut öffnet ihr die Augen. Die alte Insel Strand wurde 1362 von der ersten großen Mandränke überrollt. Dabei ging auch die Stadt Rungholt unter. Ihre Bewohner wurden angeblich für ihr gotteslästerliches Verhalten bestraft. Nur der Pastor wurde verschont. Alle sieben Jahre sollen Sonntagskinder in der Johannisnacht ihre Glocken hören. Linda ist ein Sonntagskind. Obendrein trägt sie einen Anhänger des Heiligen Burkhard. Nach diesem ist die zweite große Mandränke benannt, die 1634 die alte Insel Strand endgültig zerrissen hatte, so dass nur zwei kleine Inseln davon übrig geblieben waren: Pellworm und Nordstrand. Und bei der Sprache der Fremden handelt es sich um Halligfriesisch, was früher dort gesprochen wurde.

Eine anheimelnde atmosphärisch dichte Geschichte.

Meine Gedanken
Oliver Müller hat in der "Dark"-Reihe vier Geschichten vorgelegt. Drei davon spielen in Deutschland und knüpfen an historische Begebenheiten bzw. Sagen. Nur die preisgekrönte Geschichte "The Axeman's Jazz" spielt in den USA, bezieht sich aber ebenfalls auf ein historisches Ereignis. Sie ist außerdem auch die längste der vier Storys, die aber allesamt zu den kürzeren ihres Genres zählen. Zweimal sind die Protagonisten Frauen, zweimal sind es Männer. Alle Stories sind einnehmend und lesen sich angenehm.

Oliver Müller erweist sich in den vorliegenden Geschichten als versierter Erzähler, der den Leser zu fesseln weiß. Die eingebauten historischen Elemente verleihen den Stories Authentizität und Glaubwürdigkeit. Die Schlusspointen zünden allerdings nicht in allen vier Geschichten gleich gut. Die erste, "Die Unschuldige von Beerfelden", ist in meinen Augen hier am schwächsten angelegt. Auch in "Die Enongeschmor" ist der Schluss zwar überraschend, aber bei näherer Betrachtung vermutlich doch nicht ganz logisch. Wie zu erwarten überzeugt "The Axeman's Jazz" am meisten. Die Verbindung von Kriminalstory, Jazzmusik, Rockstarleben und Grauen ist rundherum gelungen.

Wird es bald noch mehr Kurzgeschichten von Oliver Müller geben? In einem Interview mit Michael Schmidt aus diesem Jahr schrieb er dazu:

"In den letzten Jahren habe ich einige Kurzgeschichten geschrieben, denn ich mag das Genre sehr. Durch die Arbeit als Serienautor komme ich nicht mehr so oft dazu, aber wenn ich die passende Idee im Kopf habe, dann muss sie auch raus." (vincent-preis.blogspot.com)

  • Die Unschuldige von Beerfelden, in: Dark Place (2016), S.124-131
  • Die Enongeschmor, in: Dark Creatures (2017), S.80-86
  • The Axeman's Jazz, in: Dark Killers (2018), S.70-82
  • Die dritte Mandränke, in: Dark Islands (2019), S.211-218

Kommentare  

#1 Myxin der Magier 2019-08-04 16:49
Der Autor dankt für den netten Artikel. Und für die Spoilerwarnung an die Leser. ;-)

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