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Heyne Science Fiction Classics 11 - Jewgenij Samjatin

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 11: Jewgenij Samjatin
Wir

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

Heute öffnen wir eine neue Tür in das faszinierende Reich der Science Fiction-Literatur, und zwar in eines ihrer Hauptgebiete, nämlich der Utopie bzw. der Antiutopie. Die Wikipedia meint zwar, dass die Utopie von der SF zu unterscheiden ist, weil sie im Unterschied zu ihr einen vollständigen Gesellschaftsentwurf zeigen will. Diese Meinung sei dem Verfasser unbenommen, aber ich teile sie nicht. Das Kriterium ist für mich nur, ob die Utopie als Erzählung oder in Form einer Abhandlung gekleidet ist. Das kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels schildert in Form einer wissenschaftlich-politischen Abhandlung ein für die damalige Zeit utopisches neues Gesellschaftssystem, welches später als Marxismus bezeichnet wurde. Deswegen ist es natürlich nicht als Science Fiction zu bezeichnen. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass vor der weiten Verbreitung des Terminus „Science Fiction“ im deutschen Sprachraum diese Art von Literatur als „utopischer Roman“ gekennzeichnet wurde. Das wichtige Element, welches die Science Fiction von allgemeiner „realistischer“ Literatur unterscheidet, ist das Novum. Dieses Novum muss sich keinesfalls auf irgendwelche technische Innovationen beschränken, sondern es kann sich genauso auf politische und/oder soziale Elemente beziehen, womit wir wieder bei der Utopie angelangt sind.

Eine besonders interessante Betrachtungsweise ist die Unterscheidung zwischen der Utopie und ihrer dunklen Schwester, der Antiutopie, auch Dystopie genannt. Während die Utopie die positiven Seiten künftiger Gesellschaftsordnungen schildert, zeigt die Dystopie Entwicklungen auf, die zum Totalitarismus, der Unterdrückung der Massen, zur Ausgrenzung von Andersdenkenden bis zu ihrer Vernichtung führen. Doch halt: Kann man nicht bereits bei vielen positiven Utopien sehen, dass die Andersdenkenden bzw. -gläubigen als lästige Störenfriede berachtet werden, derer man sich möglichst schnell entledigen sollte? Genau so ist es, die Unterscheidung zwischen den beiden Zwillingen besteht nur darin, was man in den Vordergrund rücken will. Wenn man unsere real existierende Welt betrachtet, dann ist es eine Tragödie, welche Entwicklungen aus utopischen Gesellschaftsentwürfen erwachsen sind, die durchaus in menschenfreundlichen Konzepten ihren Ursprung hatten. Die Utopie hat leider sehr sehr oft die Tendenz zum Totalitarismus mit im Gepäck. Das „beste“ Beispiel dafür ist der real existierende Sozialismus, wie er sich nach der russischen Revolution entwickelt hat. Sein Scheitern war vorprogrammiert, denn Menschen lassen sich auf Dauer nicht in ein Zwangssystem pferchen.

Heyne Science Fiction ClassicsDamit sind wir beim Autor angelangt, dessen Hauptwerk im vorliegenden Artikel das Thema ist. Jewgenij Samjation (1884 – 1937) war ein russischer Revolutionär und Schriftsteller. Er wurde in der mittelrussischen Provinzstadt Lebedjan geboren und studierte in St. Petersburg, dem späteren Leningrad, Schiffsbau. Bereits während seines Studiums schloss er sich den Bolschewiki an, der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Russlands, welche später die totale Herrschaft über das Land übernahm. Im Ersten Weltkrieg wurde er von der Regierung nach England geschickt, um dort den Bau vor Eisbrechern für das mit den Briten verbündete Russland zu überwachen. Er beteiligte sich aktiv an der russischen Revolution und organisierte auch die Revolte auf dem Panzerkreuzer Potemkin mit. Doch 1920 wurde alles anders, denn als Samjatin den Roman Wir veröffentlichte, kam es zum Bruch mit seinen bisherigen Genossen. Ab 1924 wurde der Roman auch in anderen Sprachen veröffentlicht. Samjatin wurde zur Zielscheibe einer immer größer werdenden Hetze, erhielt Schreibverbot und verließ 1929 den sowjetischen Schriftstellerverband. Nachdem er sich jahrelang geweigert hatte, das Land zu verlassen, erhielt er 1931 von Stalin persönlich die Genehmigung auszureisen. Er ging nach Paris, wo er bereits 1937 verstarb.

Heyne Science Fiction ClassicsD-503 ist der Konstruktuer des Raumschiffes INTEGRAL, welches in vier Monaten starten soll. Wie bereits vor tausend Jahren die Vorfahren nach einem zweihundertjährigen Krieg die ganze Erde dem Einzigen Staat untertan gemacht haben, sollen auch die noch unbekannten Wesen, welche auf anderen Planeten leben, unter das segensreiche Joch der Vernunft gebracht werden. D-503 will wiedergeben, was WIR denken, und deswegen gibt er seinen Aufzeichungen, die er in Tagebuchform zusammenstellt, auch diesen Namen. Er lebt in der gläsernen Stadt in einer segensreichen Gesellschaft, in der Personennamen abgeschafft sind. Nummern sind viel praktischer, das leuchtet einem Mathematiker wie D-503 natürlich ein. Der Einzige Staat regelt das Leben seiner Bewohner bis ins kleinste Detail. Sogar das Liebesleben verläuft geordnet. Nur an Geschlechtstagen dürfen die Vorhänge an den Fenstern zugezogen werden. Das rosa Billett wird vorgezeigt, und dann darf der Besucher bzw. die Besucherin in die Wohnung eintreten. Jede Nummer hat das Recht auf eine beliebige andere Nummer als Geschlechtspartner.

„Es ist die alte Legende vom Paradies … natürlich auf uns, auf die Gegenwart übertragen. Jene beiden im Paradies waren vor die Wahl gestellt: entweder Glück oder Freiheit – oder Freiheit oder Glück. Und diese Tölpel wählten die Freiheit – wie konnte es anders sein! Und die natürliche Folge war, daß sie sich jahrhundertelang nach Ketten sehnten. Darin war das ganze Elend der Menschheit beschlossen – sie sehnte sich nach Ketten. Jahrhundertelang! Und wir sind erst dahintergekommen, wie man das Glück wiedergewinnen kann … Unterbrechen Sie mich nicht. Der alte Gott und wir sitzen am gleichen Tisch. Jawohl! Wir haben Gott geholfen, endlich den Teufel zu überwinden - denn der Teufel war es ja, der die Menschen dazu trieb, das Verbot zu übertreten und von der verderblichen Frucht zu kosten, er, die höllische Schlange. Wir aber haben ihm den Kopf zertreten und sind so wieder in das Paradies zurückgekehrt, und sind wieder einfältig und unschuldig wie Adam und Eva. Es gibt kein Gut und Böse mehr. Alles ist unkompliziert und einfach geworden. Der Wohltäter, die Maschine, die Gasglocke, der Würfel, die Beschützer – all dies ist erhaben und kristallklar. Es erhält unsere Freiheit, und unsere Freiheit ist unser Glück. Die Menschen von einst hätten sich lange den Kopf zerbrochen, ob das eine Ethik sei oder nicht. Aber genug davon. Ist das nicht ein prächtiges Gedicht über das Paradies? Und ein so ernstes dazu!“

(Zitiert aus: Jewgenij Samjatin: Wir. München 1975, Heyne SF 3467, S. 44f)

Wie im biblischen Paradies kommt die Versuchung in Gestalt einer Frau. Es ist I-330, die mit D-503 ganz andere Sachen aufführt als seine bisherige Favoritin O-80. Sie spricht ihn mit Du an, was längst nicht mehr üblich ist. Sie flößt ihm bei einer Geschlechtsbegegnung Likör ein. Es ist ihm, als gäbe es plötzlich zwei D-503. Er springt auf und läuft wie gehetzt weg. In der Nacht kann er nicht schlafen. Doch in der Nacht zu schlafen ist Pflicht. Wer nicht schläft, begeht ein Verbrechen. D-503 geht zum Gesundheitsamt, um sich untersuchen zu lassen.

Ich stürzte auf ihn zu, als wäre er mein Bruder, ich stammelte etwas von Schlaflosigkeit, Träumen, Schatten, von einer gelben Welt.

Seine schmalen Lippen lächelten: „Schlecht, schlecht. Bei Ihnen hat sich offenbar eine Seele gebildet.“

Eine Seele? Das ist ein uraltes, längst vergessenes Wort. Wir sagen wohl noch manchmal >ein Herz und eine Seele<, >Seelenruhe<; >Seelenverderber<, aber Seele, nein!

„Ist das … sehr gefährlich?“? stotterte ich.

„Unheilbar“, erwiderte er.

(Zitiert aus: Jewgenij Samjatin: Wir. München 1975, Heyne SF 3467, S. 61)

Am Tag der Einstimmigkeit versammeln sich die Nummern, um feierlich und demokratisch einstimmig für die Wiederwahl des Wohltäters zu stimmen. Doch dieses Mal gibt es Aufruhr, denn bei der Frage, ob jemand dagegen ist, ist hebt sich eine Hand. I-330 ist die Revolutionärin. D-503 befreit die Festgenommene. Die beiden flüchten, sie führt ihn aus der Stadt hinaus. Jenseits der Grünen Mauer leben andere … Menschen. Sie sind alle ohne Kleider und haben dafür ein kurzes Fell, welches das Gesicht freilässt. Sie sind die Nachkommen jener Menschen, welche sich nicht unter die Herrschaft des Wohltäters in der gläsernen Stadt mit künstlicher Nahrung begeben haben. Die Verschwörer planen, sich des Raumschiffs INTEGRAL nach seiner Fertigstellung zu bemächtigen und mit ihm die Diktatur des Einzigen Staates zu beenden.

Ich sprang auf. „Das ist ja Wahnsinn! Ist dir nicht klar, dass das, was du planst, eine Revolution ist?

„Ja, es ist eine Revolution! Und warum soll es Wahnsinn sein?“

„Weil unsere Revolution die letzte war. Es kann keine neue Revolution mehr geben. Das wissen alle.“

Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch:

Mein Lieber, du bist doch Mathematiker, mehr noch, du bist ein Philosoph. Bitt nenn mir die letzte Zahl.“

Was meinst du damit? Ich … ich verstehe nicht, welche letzte Zahl?“

„Nun, die letzte, höchste, die allergrößte Zahl.“

„Aber I, das ist ja alles dummes Zeug. Die Anzahl der Zahlen ist doch unendlich. Was für eine letzte Zahl willst du also?

„Und was für eine letzte Revolution willst du? Es gibt keine letzte Revolution, die Anzahl der Revolutionen ist unendlich.“

(Zitiert aus: Jewgenij Samjatin: Wir. München 1975, Heyne SF 3467, S. 115)

Heyne Science Fiction ClassicsDer Aufstand bricht aus, die Mauer wird niedergerissen. Doch der Staat schlägt zurück. Er hat eine wichtige Entdeckung gemacht, die seine Herrschaft wieder festigen kann. Das Zentrum der Phantasie des Menschen ist ein winziger Knoten an der Gehirnbasis. Eine dreimalige Bestrahlung dieses Knotens, und jeder ist für immer von der Phantasie geheilt. Die Menschen werden verpflichtet, zur Operation zu gehen. D-503 will aber nicht mehr gerettet werden. Doch er kommt nicht aus, er wird verhaftet und operiert. Am nächsten Tag ist er wieder gesund und wundert sich, was er alles in seinem Manuskript geschrieben hatte. Er muss sehr, sehr krank gewesen sein. Er wird zum Wohltäter geführt und berichtet alles, was er von den Feinden des Glücks weiß. Es gibt eine Reihe weiterer Verhaftungen, darunter I-330, welche sich aber standhaft weigert, weitere Informationen weiterzugeben, auch als sie dreimal unter die Glocke gesetzt wird. Morgen werden sie und alle anderen Mitverschwörer die Stufen zur Maschine des Wohltäters hinaufsteigen.

Wir müssen handeln, die Sache duldet keinen Aufschub, denn in den westlichen Vierteln gibt es immer noch Chaos, Gebrüll, Leichen, Tiere und leider auch eine bedeutende Zahl von Nummern, die die Vernunft verraten haben.

Aber es ist uns gelungen, auf dem 40. Prospekt eine provisorische Mauer aus Starkstrom zu errichten. Ich hoffe, daß wir siegen. Ich bin sogar fest von unserem Sieg überzeugt. Die Vernunft muß siegen!

(Zitiert aus: Jewgenij Samjatin: Wir. München 1975, Heyne SF 3467, S. 150f)

Heyne Science Fiction ClassicsAuch diese Mauer wird nicht halten, denn die Zahl der Revolutionen ist unendlich! Gerade eine solche Aussage war in der Frühzeit der sowjetischen Gesellschaft sehr gefährlich, denn sie ist im Kontext der unterschiedlichen Fraktionen der Bolschewisten zu sehen. Leo Trotzki hatte die These von der permanenten Revolution aufgestellt. Er wurde von Stalin als sein gefährlichster Konkurrent gesehen, aus dem Führungskreis der Partei ausgeschlossen und ins Exil getrieben, wo ihn ein von Stalin beauftragter Attentäter ermordete. Die Ereignisse der weiteren Geschichte beweisen aber die Aussage. Men denke an den Arbeiteraufstand in der DDR 1953, den Umsturz in Ungarn 1956, den Prager Frühling 1968, die Solidarnosz-Bewegung in Polen 1980 und schließlich den endgültigen Zerfall des Ostblocks 1989.

In weiten Kreisen werden Schöne neue Welt (Brave New World) von Aldous Huxley und 1984 von George Orwell als die beiden klassischen Antiutopien des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen. Doch zweifellos muss ihnen Wir gleichberechtigt an die Seite beziehungsweise sogar vorangestellt werden, denn Samjatin entwickelte seine Zukunftsvision direkt aus seinen Erfahrungen in der Russischen Revolution und dem nachfolgenden Aufbau der sowjetischen Gesellschaft. Der Roman kann somit als Ahnherr der Dystopien angesehen werden. Dass die anderen beiden Werke in der Öffentlichkeit bekannter sind, ist möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass sie zuerst in englischer Sprache erschienen sind. Auf jeden Fall ist Wir ein Schmuckstück der Heyne Science Fiction Classics und ein Volltreffer für alle Leser, welche sich nicht nur für Weltraumgeballere interessieren, sondern auch dafür, wie wir unsere Gesellschaft weiterentwickeln wollen.

Der Roman wurde auf Deutsch erstmals 1958 veröffentlicht. Die Heyne-Ausgabe war die erste Taschenbuchveröffentlichung. Seither hat Wir eine respektable Anzahl von Neuausgaben in verschiedenen Verlagen erreicht, ein Beweis dafür, dass Samjatins Warnung vor einer totalitären Zukunft nicht in Vergessenheit geraten ist.


Titelliste von Jewgenij Samjatin

Anmerkung:
Es werden die Ausgaben in den Heyne Science Fiction Classics sowie die Erstausgabe des Werks angeführt.


1970

3218 Wir (Ü.: Giselka Drohla)
ungekürzte Neuausgabe 1975 unter der Nr. 3467
deutsche Erstausgabe: Köln 1958, Kiepenhauer & Witsch
Originalausgabe: Mij, 1920


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Tags: Science Fiction and Fantasy

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