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Heyne Science Fiction Classics 12 - Kurd Lasswitz

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 12: Kurd Laßwitz
Vater der deutschen Science Fiction

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

Heyne Science Fiction ClassicsDie Reihe der Heyne Science Fiction Classics wäre ohne Kurd Laßwitz, den unumstrittenen Vater der deutschen Science Fiction, undenkbar. Sein erster Beitrag zu dieser Reihe war aber ein Torso, auf den unten noch genauer eingegangen wird. Carl Theodor Vicor Kurd Laßwitz wurde 1848 in Breslau als Sohn einer Kaufmannsfamilie des gehobenen Mittelstands geboren. Er besuchte das Gymnasium und studierte an den Universitäten in Breslau und Berlin Mathematik und Physik. Bereits 1869 erschien seine erste utopische Erzählung Bis zum Nullpunkt des Seins. Er nahm als Einjährig-Freiwilliger am deutsch-französischen Krieg teil. 1873 promovierte er mit dem Thema Über Tropfen, welche an festen Körpern hängen und der Schwerkraft unterworfen sind. Im Jahr darauf absolvierte er das Staatsexamen und arbeitete dann bis zu seinem Ruhestand als Gymnasialprofessor. Eine akademische Karriere, die er ersehnte, blieb ihm versagt. Unter seinen Schülern war auch Hans Dominik, der sich besonders in der Zwischenkriegszeit einen Namen als Verfasser von utopischer Literatur machen sollte. Laßwitz veröffentlichte neben seiner Tätigkeit als Lehrer eine Reihe von philosophischen Werken, eine Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton sowie eine Anzahl von Erzählungen und Romanen, die seinen Ruf als „Vater“ der deutschsprachigen Science Fiction begründen. Die philosophischen Werke von Immanuel Kant und Gustav Theodor Fechner beeinflussten Laßwitz in seinem eigen Denken und Arbeiten. Er verfasste auch eigene Werke über diese beiden Persönlichkeiten. 1876 ging Laßwitz die Ehe mit Jenny Landsberg ein, der Verbindung entstammten zwei Söhne. Nach einem Schlaganfall 1907 quittierte er den Schuldienst, 1910 starb er an den Folgen einer Blinddarmentzündung. Laßwitz ließ seine Vorstellungen immer wieder nicht nur in seine philosopischen, sondern auch in seine erzählerischen Werke einfließen. In der Nazizeit wurde Laßwitz als zu demokratisch angesehen, seine Werke konnten deswegen nicht weiter aufgelegt werden. Aus heutiger Sicht ist das ein weiteres Adelsprädikat für den Lehrer und Dichter.

Der bekannteste Roman von Laßwitz ist Auf zwei Planeten, welcher erstmals 1897 erschien. Das Werk schildert das Zusammentreffen von Menschen der Erde mit den Marsianern, welche eine hochstehende technische Zivilisation aufgebaut haben und nach dem Besitz der Erde greifen. Der Roman fand auch im Ausland Beachtung und wurde in mehrere Fremdsprachen übersetzt.

Heyne Science Fiction ClassicsIm Auftrag des Astronomen Friedrich Ell, eines reichen Privatgelehrten, dringt eine Expedition mit drei Besatzungsmitgliedern an Bord eines Ballons Richtung Nordpol vor. Expeditionsleiter ist Hugo Torm, seine Gefährten der Astronom Grunthe und der Zoologe Josef Saltner. Das kühne Vorhaben gelingt zwar, aber am Nordpol erwartet die Gefährten eine riesige Überraschung, eine kreisförmige riesige Insel, welche keinesfalls natürlichen Ursprungs sein kann. Der Ballon wird durch eine unbekannte Kraft in die Höhe gerissen und stürzt dann ab. Torm geht verloren, Grunthe und Saltner werden von Fremden gerettet, die sehr helles, fast weißes Haar und große glänzende Augen haben. Es sind Bewohner des Planeten Mars, welche die beiden Pole der Erde in Besitz genommen und dort Stützpunkte erreichtet haben. Die beiden Überlebenden werden von den Martiern gesundgepflegt und in ihrer Sprache unterrichtet. Bei den geretteten Ausrüstungsgegenständen findet sich ein deutsch-martianisches Wörterbuch, das in der Handschrift Ells verfasst ist. Die Geretteten ahnen, dass sie nicht die ersten Menschen sind, die Kontakt mit Martiern bekommen haben. Sie erhalten Gelegenheit, die radförmige Raumstation der Martier zu besichtigen, welche sich über der Erde in 6000 km Höhe befindet und als Weltraumbahnhof für die interplanetarischen Raumschiffe dient. Saltner verliebt sich in La, welche ihm als Dolmetscherin zur Verfügung steht, bis er die martianische Sprache erlernt hat. Die beiden Erdlinge werden zu einem Studienaufenthalt auf dem Mars eingeladen, um die dortigen Verhältnisse kennenzulernen. Grunthe lehnt aber ab, weil er kein offizieller Repräsentant irgendeines irdischen Staates ist. Es fällt der Beschluss, dass Saltner den Mars besuchen soll, während Grunthe mit einem Luftschiff zurück nach Deutschland zu seinem Auftraggeber gebracht wird. Dort wird offenkundig, dass Friedrich Ell einen marsianischen Vater hatte, einen Raumfahrer, der auf der Erde Schiffbruch erlitten hatte. Sein ganzes Bestreben ist es, Freundschaft zwischen den Völker seiner beiden Eltern zu stiften. Der Kommandant des Luftschiffes ist Ill, der Bruder von Ells verschollenem Vater. Oheim und Neffe fallen einander in die Arme. Wenig später erreicht Ell und die sich bei ihm befindende Frau von Torm eine Depesche, dass dieser den Absturz des Ballons überstanden hat und mit Eskimos auf dem Weg nach Süden ist. Das Luftschiff macht sich mit Ell und Isma Torm auf den Weg nach Norden, um Torm zu suchen. Gleichzeitig gibt es im hohen Norden einen Zwischenfall. Zwei Besatzungsmitglieder eines britischen Kriegsschiffes stürzen auf einer Insel eine Eisschlucht hinunter. Zu Hilfe kommende Besatzungsmitglieder eines anderen marsianischen Luftschiffes werden für ihre Mörder gehalten und von den Engländern festgesetzt. Die Martier fordern ihre Freilassung und es kommt zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit dem Kriegsschiff, aus der die Martier aufgrund ihrer weit überlegenen Waffentechnik siegreich hervorgehen. Ist damit ein Krieg zwischen den Geschwistervölkern vorprogrammiert? Das Luftboot ist beschädigt und erericht nur mit Müh und Not die Nordpolstation. Weil es nicht kurzfristig repariert werden kann, reisen Ell und Isma mit Saltner und den marsianischen Rückkehrern von der Nordpolstation zum Mars.

Die Reisenden von der Erde werden auf dem Mars sehr freundlich empfangen und haben die Gelegenheit, Kultur und Gesellschaft kennenzulernen. Es wird klar, dass der Mars sowohl in der Technik als auch der sittlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit weit voraus ist. Bei mehreren Reisen lernen die Gäste auch die faszinierenden Landschaften des Nachbarplaneten kennen. Die positive Stimmung auf dem Mars kippt aber, als das gewaltsame Vorgehen der Engländer gegen das marsianische Luftschiff weitere Kreise zieht. Die Untersuchung durch die Regierung, welche durch ein Retrospektiv erfolgt, das die Vergangenheit sichtbar machen kann, ergibt zwar, dass es sich tatsächlich um ein Missverständnis handelte. Doch mittlerweile ist die öffentliche Meinung deutlich gegen die Erde eingestellt. Die Marsianer rüsten eine Expedition aus, nehmen diplomatische Kontakte mit den führenden Ländern der Erde auf und stellen dem Britischen Empire ein Ultimatum, in dem eine Entschuldigung für den Zwischenfall und finanzielle Entschädigung gefordert wird. Die Engländer lehnen ab. Das bedeutet Krieg, der durch die überlegene Technik der Marsianer binnen kürzester Zeit sein Ende findet. England wird Protektorat der Marsianer, die Engländer werden ähnlich behandelt, wie sie es in ihren Kolonien seit jeher mit den Einheimischen machten. In den englischen Kolonien brechen Aufstände aus, welche sich in die Nachbarkolonien ausbreiten, wo die anderen Kolonialmächte das Sagen haben. Die vom Blutvergießen der Menschen untereinander empörten Marsianer übernehmen als Konsequenz die Schutzherrschaft über die gesamte Erde. Ell, der einzige Mensch, der von Erdmenschen und Marsianern abstammt, wird oberster Kultor. Die eigentlich gutgemeinte Maßnahme, welche den Erdmenschen den Frieden bringen und sie zur Kultur des Mars erziehen sollte, wird auf der Erde immer stärker als Fremdherrschaft und Unterdrückung empfunden. Als die Marsianer auch Amerika unter ihre direkte Regierung nehmen, bricht der lang vorbereitete Aufstand los. In Kommandoaktionen werden die marsianischen Luftschiffe geentert und Stützpunkte besetzt. Die Erde ist jetzt zwar von den Marsianern befreit, es droht aber ein interplanetarischer Krieg unvorstellbaren Ausmaßes, denn auf dem Mars droht eine extrem erdfeindliche Partei die Herrschaft zu ergreifen. Ell legt sein Amt als Kultor zurück und geht in den Wahlkampf auf den Mars, welchen er mit überwältigender Mehrheit gewinnt. Er bringt persönlich die Friedensbotschaft auf die Erde, die Kommunikation mit den marsianischen Nachrichtenapparaten ist aber durch die mangelnde Beherrschung der marsianischen Technik durch die Erdmenschen nicht mehr möglich. Es gelingt Ell zwar, durch Öffnung des Verdecks seines Raumbootes eine mündliche Botschaft zum Raumboot der Erde zu rufen, diese Aktion in der extrem dünnen Luft kostet ihn aber das Leben. Somit hat das Opfer des Kindes zweier Welten den Frieden gewonnen, und auch die Liebe zwischen Saltner und La hat alle Wirrungen überstanden.

Heyne Science Fiction ClassicsGrundlage für die Ausgabe des Romans in den Heyne Science Fiction Classics war die erste Nachkriegsausgabe in der Reihe Romane aus der Welt von morgen des Gebrüder Weiß-Verlags. Bereits diese Ausgabe war stark gekürzt, und für die Taschenbuchausgabe kürzte man nochmals kräftig. Das Ergebnis kann man nur als Torso bezeichnen. Des Taschenbuch hat 208 Seiten, während die Buch-Erstausgabe in zwei Bänden fast 1000 Seiten hatte! Auch wenn die Taschenbuchausgabe mit einem zum Zeitpunkt ihres Erscheinens durchaus üblichen platzsparenden, aber leseunfreundlichen Schriftgrad mit 42 Zeilen auf der Seite gedruckt wurde, bedeutet das eine Kürzung um mindestens zwei Drittel. So wichtig die Vorstellung des Hauptwerkes von Laßwitz für eine Nachkriegsgeneration ist, so sehr muss man diese Vorgangsweise ablehnen. Von Heftreihen war man Kürzungen ja sowieso gewöhnt, und leider auch in Taschenbuchreihen war dies bis weit in die siebziger Jahre noch durchaus üblich. So muss man den Band in der Klassikerausgabe als Kuriosum und als Nacherzählung einordnen, die nur eine Handlungszusammenfassung ohne die philosophischen Elemente der Originalausgabe liefert und auch viele der detailreichen Schilderungen der Kultur und Technik der Marsianer weglässt. So war kaum zu bemerken, dass viele Motive und technische Beschreibungen aus dem Roman von späteren Generationen von Schriftstellern für ihre utopischen Romane wiederverwendet wurden. Dies geht von der radförmigen Raumstation, Kugelraumschiffen, Antigravitation, der Verwendung von Sonnenenergie und dem heute wieder aktuell werdenden Elektroantrieb von Fahrzeugen bis zum Aussehen der Außerirdischen. Zur Illustration, wie drastisch bearbeitet wurde, folgt hier der Vergleich des Romananfangs aus der bearbeiteten und gekürzten mit der vollständigen Fassung:

Eine Schlange jagte über das Eis. Mit Schnellzugsgeschwindigkeit jagte sie von Scholle zu Scholle, gähnende Spalten hielten sie nicht auf; jetzt glitt sie über das offene Wasser eines Meeresarms und schlüpfte gewandt über die Eisberge. Sie schoß auf das Ufer zu, unaufhaltsam in gerader Richtung, nach Norden, dem Gebirge entgegen, das sich am Horizont steil erhob.

Der Schlange stets voran schwebte ein mächtiger rundlicher Körper: ein großer Ballon.

(Zitiert aus: Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten. München 1972, Heyne SF 3299, S. 5)

Eine Schlange jagt über das Eis. In riesiger Länge ausgestreckt schleppt sie ihren dünnen Leib wie rasend dahin. Mit Schnellzugsgeschwindigkeit springt sie von Scholle zu Scholle, die gähnende Spalte hält sie nicht auf, jetzt schwimmt sie über das offene Wasser eines Meeresarms und schlüpft gewandt über die hier und da sich schaukelnden Eisberge. Sie gleitet auf das Ufer, unaufhaltsam in gerader Richtung, direkt nach Norden, dem Gebirge entgegen, das am Horizont sich hebt. Es geht über die Gletscher hin nach dem dunklen Felsgestein, das mit weiten Flecken bräumlicher Flechten bedeckt mitten unter den Eismassen sich emporbäumt. Wieder schießt die Schlange in ein Tal hinab. Zwischen den Felsbrocken sproßt es grün und gelblich, Sauerampfer und Saxifragen schmücken den Boden, die spärlichen Blütter eines Weidenbusches zerstieben unter dem Schlag des mit rasender Geschwindigkeit hindurchfahrenden Schlangenleibes. Eilend entflieht eine einsame Schneeammer, erschrocken und brummend erhebt sich aus seinem Schlummer der Eisbär, dem soeben die Schlange das zottige Fell gestreift hat.

Die Schlange kümmert sich nicht darum, während ihr Schweif über die nordische Sommerlandschaft hinjagt, hebt sie ihr Haupt hoch empor in die Luft, der Sonne entgegen. Es ist kurz nach Mitternacht, eben hat der neunzehnte August begonnen.

Schräg fallen die Strahlen des Sonnenballs auf die Abhänge des Gebirges, das unter der Einwirkung des schon monatelang dauernden Tages sich mit reichlichem Pflanzenwuchs bedeckt hat. Hinter jenen Höhen liegt der Nordpol des Erdballs. Ihm entgegen stürmt die Schlange. Wo aber ist der Kopf des eilenden Ungetüms? Man sieht ihn nicht. Ihr dünner Leib verfließt in der Luft, die klar und durchsichtig über der Polarlandschaft liegt. Doch welche seltsame Erscheinung? Der Schlange stets voran schwebt, von der Sonne vergoldet, ein rundlicher Körper: Es ist ein großer Ballon.

(Zitiert aus: Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten. München 1998, Heyne SF 8007, S. 2f)

Heyne Science Fiction ClassicsHeyne leistete allerdings viele Jahre später mit einer sehr schönen, ungekürzten und illustrierten Ausgabe in der Subreihe High 8000 der Heyne SF und Fantasy Wiedergutmachung, in der auch ein umfangreicher Anhang über Leben und Werk von Laßwitz samt Bibliografie enthalten ist. Die Aufmachung dieser Subreihe war für einen Taschenbuchverlag ungewöhnlich: Hardcover im Taschenbuchformat mit Glanzumschlag. Leider hat sich dieses Format am Markt nicht durchgesetzt, für mich zählen aber diese Ausgaben zu den Glanzlichtern meiner Sammlung.

Heyne Science Fiction ClassicsAls weiteres Kuriosum sei außerdem erwähnt, dass Auf zwei Planeten sogar eine Nachkriegspublikation in Heftausgaben hatte, und zwar 1958 in der Reihe Abenteuer im Weltraum des Hamburger Alfons-Semrau-Verlages in zwei Bänden unter den Titeln Auf zwei Planeten und Angriff vom Mars. Der Verlag wurde später an Pabel verkauft, die ganze Gruppe trat deswegen nach der Fusion mit Moewig auch als „Verlagsgruppe Pabel-Moewig-Semrau“ auf. Neben der Abenteuer im Weltraum, die 19 Bände erreichten, gab es im Semrau-Verlag auch die Schwesterreihe Der Weltraumfahrer, in welcher 8 Bände herauskamen. Beide Reihen waren in Bezug auf Aufmachung, Seitenumfang und die Auswahl der Titel etwa mit dem Utopia Großband zu vergleichen, hatten aber teilweise schreckliche Titelbilder. Neben dem Laßwitz-Roman wurden hier immerhin Titel wie Griff nach der Sonne (Solar Lottery) und Geheimprojekt Venus (The World Jones Made) des späteren Kultautors Philip K. Dick sowie Verschwörung im All (The Big Planet) und Start ins Unendliche (To Live Forever) von Jack Vance publiziert. Im Weltraumfahrer erschienen unter anderem die auch in dieser Artikelserie besprochenen Romane Geheimformel QX 47 R (The Skylark of Space) von E. E. Smith und Im Banne des Meteors von Ray Cummings als deutsche Erstveröffentlichungen.

Heyne Science Fiction ClassicsDer zweite Band von Laßwitz in den Heyne Science Fiction Classics ist der Sammelband Homchen. In diesem ist die umfangreiche Erzählung gleichen Namens enthalten, die ursprünglich 1902 als eigenständiges Buch veröffentlicht worden war, die beiden zusammengehörigen Erzählungen Bis zum Nullpunkt des Seins und Gegen des Weltgesetz, welche erstmals 1878 zusammen unter dem Titel Bilder aus der Zukunft publiziert worden waren, sowie ausgewählte Kurzgeschichten aus den früheren Sammelbänden Seifenblasen und Traumkristalle. Dem Band ist auch noch der Aufsatz Über Zukunftsträume beigegeben. Die Geschichten kann man nur zum Teil als Science Fiction bezeichnen, am ehesten wohl die beiden Bilder aus der Zukunft. Viele dieser Erzählungen sind phantastische Humoreksen oder gar Grotesken mit jeder Menge von philosophischen Einschüben. Nachfolgend eine Übersicht über den Inhalt der Geschichten:

Homchen: Die Hauptfigur dieser Erzählung ist ein kleinwüchsiges Beuteltier, ein Vorfahre der Menschheit, der viele Millionen Jahre vor der heutigen Zeit lebt, als noch Dinosaurier die Erde beherrschen, aber ihr Ende und der Aufstieg der Säugetiere bevorstehen. Homchen steht natürlich für Menschlein, und der kleine Kerl geht mit Mut und Pfiffigkeit seinen Weg. Sein Motto ist:

„Homchen heiß' ich,

Echsen beiß' ich,

Mehr als alle Tiere weiß ich.

Schlangen schlag' ich,

Feuer trag' ich,

Neue Wunder sag' und wag' ich.“

(Zitiert aus: Kurd Laßwitz: Homchen. Bergisch Gladbach 1982, Bastei Phantastische Literatur 72019, S. 7)

Der junge Angehörige der Sippe der Kalas wird zur Berühmtheit, als er einen Hohlschwanz besiegt und tötet, einen Flugsaurier, der weit größer ist als das etwa die Größe eines dreijährigen Kindes aufweisende Beuteltier. Doch Knappo, Homchens Vater, ist von der Tat nicht begeistert. Weil Homchen den Wald bei Tage verlassen hat, hat er das Gesetz der roten Schlange verletzt. Er wird verbannt und zieht in die weite Welt hinaus. Er will die rote Schlange suchen und erfahren, ob sie ihm wirklich zürnt. Auf seinem Weg kommt er ans Meer, wo er sich mit Rudistenmuscheln unterhält, die sich aber als ziemlich dumm erweisen. Sie warnen ihn vor einer sich nähernden Seeschlange, die aber zwischen den Zähnen eines Hais zerrissen wird. Der weggeschleuderte Schlangenkopf kommt neben Homchen zum Liegen, deshalb entsteht für die Rudisten der Eindruck, als hätte Homchen die riesige Schlange getötet. So wird aus Homchen ein berühmter Schlangentöter und er zieht weiter. Eine Schildkröte dient ihm als Boot, so kann er auch das Wasser überwinden. Er steigt in die Berge hinauf. Wieder wird er von zwei Schlangen verfolgt, aber Erdbeben und ein Lavastrom erzeugen einen Erdrutsch, durch den die eine Schlange von einem Steinbrocken getroffen und erschlagen wird. Das kann ich auch, denkt Homchen, und er erschlägt die zweite Schlange mit einem anderen Stein. Er glaubt nunmehr, dass ihm die rote Schlange, für die er den Lavastrom hält, wohlgesonnen ist, und macht sich wieder auf den Heimweg. Dann entkommt er knapp einem Feuer und erkennt, dass er es mit sich tragen kann, indem er ein glosendes Röhrchen zwischen seinen Zähnen trägt. Hohlschwänze kommen herbei, seine Feinde, seit er den einen getötet hat, und greifen ihn an. Homchen lässt sein Röhrchen fallen und das Gras entzündet sich. Der aufsteigende Rauch verwirrt die Hohlschwänze, die in das auflodernde Feuer stürzen und verbrennen. Der Kala hat erneut seine Feinde besiegt. So kommt er unbeschadet nach Hause, wo sein Stamm kurz vor der Auswanderung steht, weil sie von den Zierschnäbeln, den heimlichen Herrschern des Waldes, manipuliert worden waren. Doch Homchen hat längst erkannt, dass die Zierschnäbel lügen, wenn sie behaupten, das Gesetz der roten Schlange zu kennen. Er ist allein den Weg zu ihr gegangen und heil zurückgekehrt. Die rote Schlange beschützt ihn weiterhin, denn die riesigen Echsen, welche die kleinen Säuger ausrotten wollen, fallen einer riesigen Flut zum Opfer. Ihre beiden letzten Überlebenden, der Iguanodon und die Großechse, verletzen sich im letzten Zweikampf um die Oberherrschaft gegenseitig tödlich. Die Zeit der Echsen auf der Erde ist vorbei, der Herrschaft der Säuger beginnt.

Heyne Science Fiction ClassicsDiese Erzählung kann man einerseits als Vorläufer von Tierfantasy-Romanen charakterisieren. Unten am Fluss (Watership Down) von Richard Adams, eine der berühmtesten Geschichten dieses Subgenres, hat einige inhaltliche Ähnlichkeiten: Ein kleines Volk, immer in Gefahr durch stärkere Nachbarn, zieht unter einem charismatischen Anführer in eine neue Heimat. Andererseits hat Homchen auch Parallelen zu Vor- und Vorzeitmenschengeschichten wie Bevor Adam kam von Jack London oder Am Anfang war das Feuer von J. H. Rosny. Der wahre Hauptdarsteller ist die Evolution und der Sieg des Klügeren über den Dümmeren und nicht des Größeren über den Kleineren. Homchen ist ein kleines Juwel unter den phantastischen Erzählungen über die Vorzeit der Erde.

Bis zum Nullpunkt des Seins: Wir schreiben das Jahr 2371. Die Künstlerin Aromasia Duftemann Ozedes wartet ungeduldig auf ihren Angebeten Oxygen. Und auch Freund Magnet, der Dichter, ist unpünktlich. Aromasias Kunstrichtung ist die Ododistik, und sie spielt meisterhaft mit dem Ododion, dem Geruchsklavier, mit dem sie die allerfeinsten Duftkompositionen von sich zu geben vermag. Magnet Reimert-Oberton fasst seine Kunst zwar nur in Worte, hat es allerdings mit seinen Grundzuletts zu Bekanntschaft gebracht. Oxygen Warm-Blasius verdient seine Brötchen dagegen mit einem Beruf, der auf reiner Wissenschaft beruht, denn er ist Wetterfabrikant. So ist es kein Wunder, dass die drei Freunde in eine kontroverse Debatte hineingeraten:

„Vielleicht hat die Überlegung, daß jeder einzelne nur im ganzen zu existieren und zu wirken vermag, daß die heilige Ordnung allein Staaten und Menschen erhalten kann, daß nicht das erreichte Ziel, sondern das Streben und Ringen allein das Glück enthält und daß ein jeder nur sich zufrieden fühlen kann in dem beschränkten Kreise, der die volle Betätigung seiner Energien zuläßt und abgrenzt – vielleicht hat diese Überlegung dieses Ideal allmählich überzeugt.“ […]

„Und sollte dies alles nicht auch durch einen Fortschritt der Erkenntnis zu erreichen sein? Durch die ausgebildete Fähigkeit, in einem Augenblicksschlusse, ähnlich den Schlüssen des Taktgefühls, die ganze Reihe der Möglichkeiten zu überblicken und daraus diejenige Bestimmung zu treffen, welch dem eigenen Anspruche und dem Recht der Allgemeinheit am besten entspricht? [… ] Ich erkläre es für geradezu unmöglich, daß aus dem Streite entgegengesetzter Meinungen heutzutage ein persönlicher Haß, ja nur eine tatsächliche Anfeindung hervorgehen könnte. Und wodurch haben wir das alles erreicht?“

Durch die Ododik“, warf Aromasia ein.

„Nein Liebste, allein durch die Erkenntnis und Beherrschung der Natur“.

(Zitiert aus: Kurd Laßwitz. Bis zum Nullpunkt des Seins. In: Traumkristalle. München 1981, Moewig SF 3535, S. 214f)

Aromasia vermisst bei Oxygen Respekt für die Kunst, die Diskussion eskaliert. Oxygen meint, dass die Bestimmung der Menschen sei, die Natur aufzuheben, die Atome in ihre Ruhelage zu bringen und zum ursprünglichen Nichts, Zum Nullpunkt des Seins, zurückzukehren. Die beiden Künstler sind beleidigt, Oxygen entfernt sich vom Ort des Disputs. Magnet veröffentlich eine Schmähschrift gegen den Kunstfrevler, die bereits eine Stunde später in telegrafischem Selbstdruck erscheint und auf allen öffentlichen Zeitungstafeln an den Ecken aufliegt. Oxygen lässt die Beleidigung nicht auf sich sitzen. Er sabotiert das nächste Konzert Aromasias, indem er verschiedene Gestanksstoffe unter die Duftkompositionen seiner früheren Geliebten mischt. Doch wehe, denn ein Teil der Gase mischt sich unheilvoll untereinander. Es gibt eine Explosion, welche einen Brand auslöst. Die Künstlerin ist unter den fünf Todesopfern. Der Attentäter wollte zwar diesen Ausgang nicht, hat aber die Katastrophe verursacht. Als Buße schießt er sich selbst in einem kugelförmigen Gefährt auf Nimmersehen in den Weltenraum hinaus.

Gegen das Weltgesetz: Direktor Strudel-Pudel des Pädagokums erklärt einem Herrn, der seinen Sohn im Alter von drei Jahren als Zögling anmeldet, die Vorteile der Erziehung und Bildung im Jahre 3877. Ein Drittel des Großhirns wird in der Hirnschule für allgemeine Bildung präpariert, ein Drittel nach den Wünschen des Vaters für Spezialausbildungen und das verbleibende bleibt dem hoffnungsvollen Sprössling für spätere individuelle Wünsche vorbehalten. Der Vorteil dieses Systems ist, dass mit dem neunten Jahr die Erziehung vollendet ist und der Geist des Neunjährigen an Reife und Erfahrung dem eines bejahrten Menschen aus einer früheren Periode entspricht. Und auch die Nahrungssorgen sind beseitigt, seit man unmittelbar aus den Elementen künstliche Nahrung gewinnen kann. Allerdings sind die Pflanzen deswegen kurz vor dem Aussterben, weil sie vermeintlich nicht mehr gebraucht werden. Kotyledo ist der letzte Botaniker, und er macht zusammen mit Strudel-Pudel einen Ausflug auf den Grund des Ozeans, um die submarine Flora zu studieren. Er verehrt die wohlbekannte Psychistin Lyrika, die seine Zuneigung erwidert. Aber die Zukunft meint es nicht gut mit ihnen, denn die Mathematikerin Funktionata hat mit ihrer Integrationsmaschine ausgerechnet, dass eine Verbindung der beiden mit dem Tod Kotyledos in 623,7 Tagen enden müsste. So weist Lyrika ihren Verehrer zu seinem eigenen Schutz zurück, und Atom Schwingenschwang, der bekannte Chemiker, macht sich Hoffnungen. Aber Lyrika mag ihn nicht und sagt ihm das deutlich, als er ihr einen Heiratsantrag macht. Atom möchte sie trotzdem für sich gewinnen, denn bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt, denkt er. Er möchte sie durch eine Behandlung der Zentralorgane des Nervensystems umdrehen. Doch sie entschlüpft ihm. Atom, der Gegen das Weltgesetz verstoßen hat, will sich selber ins All sprengen und seinen Rivalen Kotyleda mitnehmen. Aber dieser entkommt ihm, und das Paar findet doch zusammen, denn Funkionatas Rechnung hatte eine Variable falsch eingesetzt. Vor kurzem wurde eine Kiste im Meer mit einem Körper aus historischer Zeit gefunden, dem das ganze Blut entzogen war. Der Mann wurde mit den aktuellen medizinischen Möglichkeiten problemlos wiederbelebt, und es stellte sich heraus, dass er Friedrich Schulze ist, ein Mann aus dem 19, Jahrhundert, der einen Selbstversuch mit einem Mittel für Einbalsamierung und Wiederbelebung gemacht hat und in einer späteren Zeit wiederbelebt werden wollte. Schulze ist ein gemeinsamer Vorfahre von Kotyleda und Lyrika. Durch sein Auftauchen wird die ganze komplizierte Rechnung Funktionatas obsolet, weil sich damit eine Ausgangsvariable geändert hat. So steht dem Glück der Liebenden nichts mehr entgegen.

Ein ähnliches Schicksal wie das Schulzes werden wir in einer späteren Folge dieser Artikelserie im Roman Der Jahrtausendschläfer von Lawrence Manning kennenlernen, und auch der berühmte Herbert George Wells hat in seinem Roman Wenn der Schläfer erwacht einen vergleichbaren Plot verarbeitet. In L. Sprague de Camps und P. Schuyler Millers Die neuen Herrscher werden gleich alle Passagiere eines Zugs in eine Jahrhunderttausende dauernde Katalepsie versetzt und erwachen in einer Zukunft, in der die Affen das Erbe der Menschen angetreten haben.

Apoikis: Als Gast eines englischen Lords ist der Deutsche Ebbert im Südatlantik auf einer Dampfyacht unterwegs, als die Seefahrer vermeintlich auf riesige Eisberge stoßen. Sie fahren näher und erkennen, dass es sich in Wahrheit um eine Felswand aus Kalkspatkristallen handelt, die einen Zugang zu einer Insel bilden. Ebbert überklettert die Wand und stoßt dahinter auf ein liebliches Land, in dem es reichen Pflanzenwuchs gibt und sich eine wunderschöne Stadt ausbreitet. Nachdem er Griechisch beherrscht, wird er von den Einwohnern von Apoikis freundlich empfangen. Es handelt sich um ausgewanderte Griechen, die nach der Hinrichtung des Philosophen Sokrates ihre Heimat verließen und hier eine neue Gesellschaft aufbauten, in der die harmonische Ausgestaltung des inneren Lebens, die Vertiefung des Denkens, die Erziehung des Willens und der maßvolle Genuss heiterer Sinne zentrale Grundsätze darstellen. Ihre geistigen Kräfte machen sie gegen Angriffe von außen unangreifbar. Ebberts Gefährten verlieren alle Erinnerung an den Besuch der Insel, er selbst denkt nach seiner Rückkehr wehmütig an seine Zeit in der Welt der Sinne zurück.

Prinzessin Jaja: Die Prinzessin des Königreichs Drüberunddrunter ärgert ihre Patin, die Fee Dysthimos Kräkeleia so sehr, dass sie von ihr verwunschen wird. Sie soll nicht eher einen Mann bekommen, bis sie die überflüssigeste Frage der Welt gefunden und gelöst hat. König Hähäh schreibt einen Wettbewerb aus. Das ganze Land beteiligt sich, die blödesten Fragen werden gestellt, aber keine ist die überflüssigste. Das Wirtschaftsleben kommt zum Erliegen wie in der Coronakrise, bis der König die Notbremse zieht und das Raten verbietet. Die Prinzessin kommt letzten Endes selbst auf die Frage, ob sie wirlich existiert. Aber sie weiß die Anwort nicht, und so ist sie noch immer nicht erlöst. Doch als sie sich in den jungen Oberhofdiamantenzerklopferer verliebt, spielt die Antwort keine Rolle mehr, und ihr Prinz heißt Glaube.

Aladins Wunderlampe: Die Freundesrunde von Professor Alander diskutiert darüber, welches Zauber-Requisit am besten wäre. Man einigt sich auf Aladins Wunderlampe, und die Anwesenden sind bass erstaunt, als der Professor tatsächlich eine Lampe mit arabischer Aufschrift auf den Tisch stellt. Nachdem die Patina heruntergerieben wird, meldet sich tatsächlich der Geist, aber er kommt nicht heraus, weil in der Gegenwart die Sklaverei abgeschafft ist. Auch alle Versuche, irgendwelche Wunder vom Geist zu bekommen, schlagen fehl, denn in unser aufgeklärten Zeit würde alles gegen irgendwelche wissenschaftliche Erkenntnisse verstoßen. Der Geist kann aber nur das bewirken, das den augenblicklich bekannten Naturgesetzen nicht widerspricht, und da man vor Jahrhunderten an Zauberei glaubte, hatte er damals in Aladins Zeit keine Probleme. Beeindruckt von der Weisheit des Geistes entlässt ihn der Gastgeber nach dreitausendjähriger Haft in die transzendentale Freiheit.

Psychotomie: Der Privatgelehrte Dr. Schulze bekommt Besuch von einem Fremden, der sich als Psychotom vorstellt, welcher Verstandesbegriffe in physische Figuren transformieren kann. Zum Beweis zieht er verschiedene Kategorien aus Schulzes Bewusstsein. Besondert tragisch ist es für Schulze, dass ihm die Negation herausgezogen wird, und er es den ganzen Tag nicht mehr schafft, nein zu sagen. Das bringt ihm einiges an Schulden und eine Freundin ein, die er gar nicht wollte. Schulzes Freund Müller isst vermeintlich seinen Kaviar, hat aber stattdessen seine Gefühle verschlungen. Aber da steht noch etwas in der Ecke und schaut ihn schadenfroh an: es ist der höhere Blödsinn!

Mirax: Heino Mirax ist dabei, die Wissenschaft endlich zu reformieren. Dazu benötigt man zwar Prinzipien und eine Methode, aber bitte sehr: er hat beides. Mit seiner Logik beweist er beispielsweise, dass des Sonnenbewohner gibt und dass sich die Menschen in späterer Zukunft zur besseren Verdauung Granaten ins Maul schießen werden. Sein Artikel über die Entwicklung der Weltseele bewegt den Erdgeist dazu, sich auf die Suche nach dem Selbstbewusstsein zu machen. Auf der Suche wird er zwar nicht fündig, denn auch die gewitzesten Philosophen können ihm nicht wirklich weiterhelfen, aber er verliebt sich wenigstens in das Nordlicht. Doch die Liebe wird nicht recht erwidert, und der Erdgeist empört sich gegen Mirax, der ihm den Floh ins Ohr gesetzt hatte. Als Folge des durch den Erdgeist ausgelösten Bebens stürzen die Büsten Kants und Goethes in Mirax' Bibliothek aus dem Regal, und damit ist für Mirax bewiesen, dass dem Menschen die Erkenntnis der Geisterwelt möglich ist.

Auf der Seifenblase: Onkel Wendel hat das Mikrogen entdeckt, mit dem er sich in eine Mikrowelt versetzen kann. Zusammen mit seinem Neffen reist er in das Reich einer Seifenblase, wo die Saponier leben. Die beiden Reisenden werden von den Einheimischen recht freundlich empfangen, aber als sich der Neffe in eine philosophische Diskussion einmischt und den Saponiern klarmachen will, dass sie auf einer Seifenblase leben, droht den Fremden wegen Ketzerei und Majestätsbeleidigung der Siedetod in einem Kessel Glyzerin. Wendel verstellt die Skala des Mikrogens, dadurch die beiden kehren flugs in die Heimatwelt zurück und die Seifenblase platzt.

Die Geschichte thematisiert die Makro- und Mikrowelt bereits Jahrzehnte vor Ray Cummings, der durch die Erzählung The Girl in the Golden Atom populär wurde.

Die Fernschule: Professor Frister ist Fernlehrer der Geographie am 211. telephonischen Realgymnasium. Er sitzt vor einer Wand mit 30 rechteckigen Rahmen, in denen sich bewegende Gesichter befinden – seine Schüler aus der Oberprima, welche sich in Wirklichkeit in ihren Wohnzimmern aufhalten. Obwohl der Schulweg und damit manche Ausrede für Zuspätkommen weggefallen ist, gibt es trotzdem die bekannten Geschichten über nicht gemachte Hausarbeiten, vorgetäusche Krankheiten etc. Der Vorteil ist allerdings, dass der Sessel, auf dem ein Schüler sitzt, mit Messapparaten bestückt ist. Sobald die Gehirnenergie des Schülers über eine bestimmte Schwelle herabfällt, erkennt das der Psychograph und die Verbindung wird unterbrochen. Wenn ein Drittel der Klasse abgeschnappt ist, muss der Professor die Stunde schließen. Doch da schreckt der Professor hoch, der Rahmen ist verschwunden und seine Bücher stehen neben ihm. Kollege Voltheim hat ihn aufgeweckt. Deswegen müssen wir heute in Zeiten der Coronakrise beim Onlineunterricht auf die wünschenswerte Unterstützung des Psychographs verzichten, aber immerhin hat Laßwitz schon 1907 die Fernschule beschrieben.

Der Traumfabrikant: Dormio Farbach hat ein Traumkissen herausgebracht, das seinen Kunden angenehme Träume verschaffen kann. Das bringt ihn ins Dilemma, denn seine Angebete Amalie Siebler ist die Tochter eines Abgeordneten, der mit seiner Partei lautstark die Verstaatlichung aller Schlaf- und Traumanstalten fordert, was Dormios Geschäft zerstören würde. So traut sich Dormio nicht, bei Siebler um Amalies Hand anzuhalten. Die verhinderte Braut möchte, dass Dormio für ihren Vater ein besonders präpariertes Traumkissen produziert, um ihn gnädig zu stimmen. Dormio lehnt ab, denn die Verwendung des Traumkissens muss auf absolute Freiwilligkeit beschränkt bleiben, sonst kann es unerwünschte Nebenwirkungen geben. Amalie probiert es trotzdem und schiebt dem Vater ihr eigenes Traumkissen unter. Der Erfolg ist bestechend. Nach überstandenem Alptraum steigt Siebler aus der Politik aus und gibt der Verbindung seinen Segen. Doch die Tatsache bleibt bestehen, dass die künstliche Traumbeglückung mit Verantwortung vogenommen werden muss.

Der Gehirnspiegel: Onkel Pausius ist ein Genie. Er hat einen Gehirnspiegel entwickelt, der wie auf einem Film die Gedanken jedes Menschen bildlich zeigen kann. Man kann das Ergebnis sogar fotografieren. Morgen wird er das Manuskript über die Erfindung an die Presse senden und damit bekanntmachen. Die anwesende Gesellschaft lässt zur Feier des Tages die Gläser erklingen, da fällt ein Auge auf den Abreißkalender: Es ist der 1. April!

Wie der Teufel den Professor holte: Der Teufel holt den Professor ab und nimmt ihn auf eine Reise durch den Weltraum mit. Er holt vorzugsweise Philosophen und versucht sie mit seinen Fragen zu übertölpeln. Aber der Professor ist gewitzt und bietet dem Teufel Paroli. Mehr noch, er holt aus dem Widersacher, der als Doppelgängergestalt des Professors erschienen ist, eine Menge von Informationen heraus. Die Debatten drehen sich um physikalische Erscheinungen, philospophische Fragen, die Unendlichkeit des Weltalls und die Macht, die der Teufel besitzt. Nach einer Reise von 5000 Lichtjahren kommen die beiden wieder bei der Erde an, denn das Weltall ist zwar unbegrenzt, aber in sich gekrümmt und deshalb nicht unendlich. Das ist genau wie auf der Erde, wenn man geradewegs in irgendeine Richtung losfahren würde, nach 40000 km wäre man wieder am Anfangspunkt. Der Teufel hat das noch nicht gewusst. Er ist beeindruckt und setzt den Professor wieder zuhause ab. Die Freunde des Professors freuen sich über die Geschichte. Sie sind zwar nicht sicher, ob sie wahr ist, freuen sich aber auf jeden Fall, dass der Teufel den Professor zurückgebracht hat.

Die Weltprojekte: Bei der Erschaffung der Welt möchte der Herr die allerbeste hervorbringen, aber der Kostenvoranschlag ergibt, dass die vollkommenste Welt zu teuer ist. So werden zwei billigere Projekte in Lebensgröße ausgeführt. Nach einigen Dezillionen Jahren schaut der Schöpfer nach, was aus den Welten geworden ist. Bei Projekt A ist alles durchgeplant, nichts kommt überraschend, man kann alles erfahren, aber nichts ändern. Das ist für die Bewohner schauderhaft. Auch bei Projekt B sind die Bewohner nicht zufrieden, denn dort wird jeder Wunsch zwar sofort erfüllt, gerät aber mit dem des Nachbarn in Wettbewerb. Es gibt kein Mittel zu verhindern, dass das Wirklichkeit wird, was der andere sich ausdenkt, niemand hat für sich Ruhe. Die beiden Planeten werden vorerst einmal in die Ecke gelegt. Als später wieder Nachschau gehalten wird, kommt heraus, dass sich die Welten zu einer zusammengetan haben und dabei die eine die Phantasie und die andere das Gesetz beisteuert. So entwickeln sie sich zusammen in Richtung einer vernünftigen Welt.

Die Universalbibliothek: Professor Wallhausen, Max Burkel und Susanne Briggen diskutieren über eine Bibliothek, die alle möglichen Bücher enthalten könnte, welche vorstellbar sind. Darunter ist beispielsweise ein Buch, dessen 500 Seiten leer sind, bis auf die letzte Seite, auf der ein kleines a steht. Am Schluss kommen die drei drauf, dass sie den Band, den sie benötigen, nicht in der unendlichen Bibliothek suchen, sondern selbst herstellen sollten. Der Professor wird gleich am nächsten Tag zu schreiben beginnen.

Jahrzehnte später wurde das Thema wieder von Jorge Luis Borges in seiner berühmten Erzählung Die Bibliothek von Babel neu aufgegriffen, und William von Baskerville und Adson von Melk kämpften nochmals später in Umbertos Roman Der Name der Rose gegen den unheimlichen Bibliothekar Jorge um das verbotene Buch.

Über Zukunftsträume: Hier handelt es sich um einen Aufsatz, der das erste Mal 1900 im Band Wirklichkeiten erschienen ist.

Der einzige Kritikpunkt beim Sammelband Homchen ist, dass diese Ausgabe etwas zu spät kam. Denn nachdem mit Ausnahme von Auf zwei Planeten Laßwitz' Werk von den Verlagen jahrzehntelang links liegengelassen worden war, hatten bereits relativ kurz vor dem Heyne-Sammelband der Moewig-Verlag in der Reihe Moewig SF die gesammelten Kurzgeschichten von Laßwitz im Band Traumkristalle und der Bastei-Verlag die Erzählung Homchen in seiner Reihe Phantastische Literatur herausgebracht.

Anschließend noch einige Blicke auf zwei Romane von Laßwitz mit phantastischem Inhalt, welche man aber nicht unbedingt als Science Fiction bezeichnen kann. Sie sind von der Philosophie von Gustav Theodor Fechner beeinflusst und thematisieren dessen Vorstellung von einer beseelten Natur.

Heyne Science Fiction ClassicsAspira. Der Roman einer Wolke handelt nicht von einer ganz normalen Wolke, sondern von einer Wolkenprinzessin, der Tochter von Migro, des König des Luftmeeres. Im Unterschied zu den anderen Elementargeistern interessiert sich Aspira für die Menschen. Sie steigt auf, weit über das Reich ihres Vaters hinweg, bis sie im unendlichen Weltraum zum Hohen kommt und von ihm die Erlaubnis erhält, sich in einem Menschen niederzulassen, um deren Weisheit zu gewinnen. Die wissensbegierige Wolke landet im Körper von Wera Lentius, einer Chemikerin, welche in einem Bergdorf auf Urlaub weilt, und bereichert deren Geist um ihre Erfahrungen, ohne dass sich Wera ihrer bewusst ist. Wera ist mit dem Geologen Paul Sohm verlobt. Durch das Eindringen Aspiras in ihren Geist wird sie sich dieser Liebe unsicher und streitet mit Paul über die Möglichkeit einer beseelten Natur, welche ihr von Aspira eingegeben wird. Sie lernt den Ingenieur Theodor Martin kennen, der im gleichen Gasthof wie sie übernachtet und eine nahegelegene Tunnelbaustelle für die Eisenbahn leitet. Aspira weiß durch ihren Kontakt mit den anderen Elementargeistern über die Gefahren, die im Berg lauern könnten, und vom möglichen Zorn dieses Wesen auf die Störungen durch die Menschen. Martin verliebt sich in Wera, und Aspira in Weras Körper möchte ihn vor einer Katastrophe retten, denn beim weiteren Tunnelvortrieb könnte eine Schlammlawine über die Bergleute hereinbrechen. Sie besteigt den Berg, in einer Gletscherspalte verlässt sie Weras Körper, um in ihr Reiche zurückzukehren und weiter nachzuforschen. Martin begibt sich auf die Suche nach der verschwundenen Wera, findet zwar ihren leblosen Körper, kommt aber in einer herabdonnernden Lawine um. Doch Wera ist gerettet, bekommt ihre Erinnerung wieder zurück, ihr vorheriges eigenartiges Verhalten erscheint ihr als Traum, der Hochzeit mit Sohm steht nichts mehr entgegen. Aspira ist wieder gänzlich in ihr Reich zurückgekehrt, in die Freiheit des Himmels.

Heyne Science Fiction ClassicsSternentau. Die Pflanze vom Neptunsmond stellt ein Rätsel für zwei Menschen dar, zwischen denen sich eine Liebesgeschichte entwickelt. Die junge Harda findet beim Riesengrab, wo auch ihre verstorbene Mutter ihre letzte Ruhestätte gefunden hat, eigenartige blaue Blumen, die sie Sternentau nennt. Sie findet in Dr. Eynitz einen Mitstreiter, der sich um die wissenschaftliche Aufbereitung der Entdeckung kümmert. Eynitz ist zwar Dorfarzt, hat aber auch Biologie studiert und erkennt bald, dass die Pflanzen einen Forpflanzungszyklus haben, der statt Früchten eigenartige fliegende, elfenartige Wesen erzeugt, die unsichtbar werden. Die beiden Forscher entdecken auch, dass seltsame Verständigungsversuche passieren, denn als sich eines der Wesen auf Hardas Kopf niederlässt, vermeint sie, mit ihm sprechen zu können und außerdem die Sprache der heimischen Pflanzen zu hören. Haben die Elfenwesen ein eigenes Bewusststein? Das erscheint bei Pflanzen von der Erde unmöglich. Doch die Idunen, wie sie sich selbst nennen, stammen nicht von der Erde, sondern von einem Mond des Neptun. Ein Meteorit hatte Samen der dort heimischen Spezies durch das Weltall getragen, bis er sich auf der Erde niederließ und keimte, was den blühenden Sternentau erzeugte. Die Idunen erkennen, dass zwischen ihnen und den Menschen eine unüberbrückbare Barriere besteht. Auf der Erde gibt es im Unterschied zu ihrer eigenen Lebenssphäre eine strikte Trennung zwischen dem Tierreich, an dessen Spitze die Menschen stehen, und dem Pflanzenreich. Es gibt keine echte Verständigungsmöglichkeit. Durch die unterschiedliche Umweltsituation auf dem schweren Planeten Erde ist es für die Idunen auch nicht möglich, sich zu paaren, damit Samen für eine neue Generation des Sternentaus hervorzubringen und ihren eigenen Lebenszyklus auf der Erde zu etablieren. Sie entschließen sich, ihr Leben zu beenden und die Erde ihrer eigenen Entwicklung zu überlassen. Harda und Werner Egli werden ein Paar, doch der Sternentau blüht weiter, ohne aber in Hinkunft Frucht zu tragen.

In diesem Roman hat Laßwitz Elemente aus seiner 1884 erschienenen Novelle Schlangenmoos aufgegriffen und in kosmischem Rahmen weiter ausgebaut. Die handelnden Personen verewigen sowohl den Autor selbst als auch Personen aus seinem eigenen Umkreis, unter anderem eine entfernte junge Verwandte, der er und die ihm tief zugeneigt war.

Heyne Science Fiction ClassicsWer sich heute für Erzählendes oder gar für Philosophisches von Kurd Laßwitz interessiert, muss sich nicht auf dem Markt für antiquarische Bücher umschauen und vielleicht in Frakturschrift gesetzte und deswegen für die Augen einer heutigen Generation schwer lesbare Texte studieren. Nein, es gibt eine hervorragende Quelle! Dieter von Reeken hat sich mit seinem Verlag als Spezialist für die Wiederveröffentlichung alter utopischer Literatur und für die Herausgabe von Sekundärliteratur aus diesem Bereich einen ausgezeichneten Namen gemacht. Ein Kernpunkt seines Buchprogrammes ist die Kollektion Laßwitz. In ihr werden in drei Abteilungen die Schriften von Laßwitz gesammelt, sodass praktisch sein ganzes Werk wieder greifbar ist. Die Abteilung I umfasst die Romane, Erzählungen und Gedichte, Abteilung II Sachbücher, Vorträge und Aufsätze und Abteilung III Selbstzeugnisse und Sekundärliteratur. Teilweise haben die Bände eine grafische Gestaltung des Umschlags, die fast 1:1 den Erstausgaben im Verlag von B. Elischer Nachfolger entspricht. Die sorgfältige Edition der Laßwitz-Ausgabe kann man kaum genug hervorheben. Es ist kaum zu glauben, was ein Kleinverlag alles leisten kann, der im Wesentlichen ein Einmannbetrieb ist. Es schließt sich der Kreis, denn die deutschen Science-Fiction-Schaffenden haben 1980 den Kurd-Laßwitz-Preis ins Leben gerufen, der jährlich vergeben wird und mit dem herausragende Leistungen im Bereich der deutschsprachigen Science Fiction geehrt werden. Dieter von Reeken erhielt den Preis 2011 unter anderem für sein Bemühen, das Gesamtwerk von Kurd Laßwitz herauszugeben.

Ist Kurd Laßwitz heute noch lesbar? Das kommt darauf an. Wenn man nur für flott zu lesende Abenteuergeschichten zu haben ist, dann sicher nicht. Da könnte man höchstens zur zusammengekürzten Ausgabe von Auf zwei Planeten in den Heyne Science Fiction Classics greifen. Aber da würden einem die Ideen und Anschauungen des Autors verborgen bleiben, das wäre bedauerlich. Denn Laßwitz hat mit seinen Ideen manche Themen als Erster bearbeitet, die Jahrzehnte später von anderen Schriftstellern wieder aufgegriffen wurden. Natürlich muss man sich darauf einlassen, dass auch in den erzählenden Werken seitenweise philosophiert wird und dass die Sprache nicht die des 21. Jahrhunderts, sondern die der wilhelminischen Epoche ist. Wenn man dazu bereit ist, kann man die Literatur von Laßwitz nach wie vor mit Genuss und Gewinn lesen.

 

Titelliste von Kurd Laßwitz

Anmerkung:
Es werden die Ausgaben in den Heyne Science Fiction Classics, weitere Ausgaben im Heyne-Verlag sowie die Erstausgabe der Werke angeführt.

1972

3299 Auf zwei Planeten
ungekürzte Neuausgabe 1998 mit neuer Aufmachung in der Subreihe Heyne SF High 8000 unter der Nr. 8007
deutsche Erstausgabe: Weimar 1897, Felber

1986

4309 Homchen und andere Erzählungen (Erstausgabe dieser Zusammenstellung)
- Franz Rottensteiner: Kurd Laßwitz - Erkenntnis und Ethik dazu (Vorwort)
- Homchen
- Bis zum Nullpunkt des Seins
- Gegen das Weltgesetz
- Apoikis
- Prinzessin Jaja
- Aladins Wunderlampe
- Psychotomie
- Mirax
- Auf der Seifenblase
- Die Fernschule
- Der Traumfabrikant
- Der Gehirnspiegel
- Wie der Teufel den Professor holte
- Die Weltprojekte
- Die Universalbibliothek
- Über Zukunftsträume
- Dietmar Wenzel: Literarische Seifenblasen des deutschen Kaiserreichs (Nachwort )


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Tags: Science Fiction and Fantasy

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