Heyne Science Fiction Classics 28 - Laurence Manning
Die Heyne Science Fiction Classics
Folge 28: Laurence Manning
Der Jahrtausendschläfer
Ein beliebtes Thema in der Science Fiction ist das des Schläfers, der in einer späteren Zeit aufwacht und (stellvertretend für den Leser) staunt, was sich gegenüber seinem früheren Leben alles verändert hat. Ein früher Science-Fiction-Vorläufer, der einen solchen Stoff aufgreift, ist Das Jahr 2440 (L’An 2440, rêve s’il en fut jamais) des Franzosen Louis-Sébastien Mercier. Auch die bekannte Geschichte Rip van Winkle des amerikanischen Autors Nathaniel Hawthorne gehört in diese Kategorie. Hier fällt ein amerikanischer Kolonist in einen zwanzig Jahre dauernden Zauberschlaf und findet sich nach seinem Erwachen nicht mehr als englischer Untertan, sondern als Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika wieder. Sehr bekannt ist auch Wenn der Schläfer erwacht (When the Sleeper Wakes) des englischen SF-Klassiker H. G. Wells, der in Kürze in einer weiteren Folge vorgestellt wird. Auch Kurd Laßwitz versuchte sich mit seiner humorvollen Kurzgeschichte Die Fernschule an diesem Sujet, das hier allerdings nur als Traum dargestellt wird. In Stanley G. Weinbaums Roman Die schwarze Flamme (The Black Flame) wird ein Mann durch eine missglückte Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl unfreiwillig zum Schläfer. Eine Variation des Themas ist das des Schläfers, der in der Zukunft aufwacht, dort in die Geschichte eingreift, in den Schlaf zurückkehrt und immer wieder von Neuem in späteren Perioden Abenteuer erlebt. Leser deutscher Science-Fiction-Serien kennen natürlich ein berühmtes Beispiel dafür: der Arkonide Atlan, der in seiner Unterwasserkuppel am Grund des Atlantiks nach dem Untergang von Atlantis immer wieder Jahrhunderte schläft und nach Weckvorgängen eine Reihe von Erlebnissen in der menschlichen Geschichte hat, bis es ihm endlich gelingt, in der Zeit Perry Rhodans zurück den Weg zu den Sternen zu finden. DER Klassiker für diese Variation des Schläfer-Themas wird in der heutigen Folge vorgestellt.
Laurence Manning (1899 – 1972) war ein gebürtiger Kanadier, der eine Ausbildung in der Royal Canadian Air Force machte, aber im Weltkrieg nicht mehr zum Einsatz kam. Er übersiedelte 1920 in die Vereinigten Staaten und nahm deren Staatsbürgerschaft an. Er war viele Jahre Leite des Kelsey-Gartenbaudienstes und verfasste ein Buch über Gartenbau, welches ein Standardwerk zu diesem Thema wurde. 1930 war er ein Gründungsmitglied der American Interplanetary Society, später auf American Rocket Society umbenannt. Im Rahmen seines Präsidentenamts in diesem Verein gab er die Zeitschrift Astronautics heraus. Mannings Science-Fiction-Werk blieb schmal. Zuerst kam 1930 in Hugo Gernsbacks Magazin Wonder Stories die zusammen mit Fletcher Pratt verfasste Kurzgeschichte The City of the Living Dead heraus, dann kamen zwei Romane und wenige Kurzgeschichten, darunter die mehr dem Horror-Genre zuzurechnende Serie um den Stranger-Club. In den fünfziger Jahren publizierte Manning nochmals drei Kurzgeschichten, dann war Schluss. Schade, denn Manning, war ein Autor, der sich – ähnlich wie Stanley G. Weinbaum – einen guten Ruf erarbeitet und Material veröffentlicht hatte, das vom Niveau weit über dem vieler anderer SF-Schundschreiber der dreißiger Jahre gelegen war.
Der Bankier und Liebhaberbiologe Norman Winters verschwindet spurlos, nachdem er sein Unternehmen seinem Sohn vererbt hat. Vincent macht sich auf die Suche nach dem Vater und verdächtigt den Gärtner, der mit zwei Schaufeln hantiert hat. Dieser war zwar nicht der Mörder von Vincents Vater, sondern sein Komplize, der ihm bei seinem Verschwinden geholfen hat. Norman hat Eigenschaften der kosmischen Strahlung entdeckt, die Veränderungen im Leben erzeugen und es letzten Endes zum Absterben bringen. Er möchte ein Experiment starten und hat sich in einem unter der Erde befindlichen, mit Blei abgeschirmten Raum eingeschlossen. Dort hat er eine neu entwickelte Droge eingenommen, welche ihn in einen scheintoten Zustand versetzt. Nach einer langen Zeit wird ihn die Strahlung einer Röntgenröhre wieder aufwecken, worauf er sich aus seiner Kammer erheben und die neue Welt erforschen wird. Vincent behält das Geheimnis seines Vaters für sich. Gärtner Carstaris wird nach seinem Verscheiden am Fuß des Hügels begraben, unter dem sein früherer Chef in seiner Kammer ruht. Norman Winters ist Der Jahrtausendschläfer.
Nach dreitausend Jahren erwacht der Schläfer. Obwohl er noch sehr geschwächt ist, verlässt er seine Versteck, um nach Menschen zu suchen. Rundherum hat sich ein riesiger Wald entwickelt, der die Ruinen der Vergangenheit überwuchert. Bald stößt Winters auf einen Mann, der ein nur unwesentlich abweichendes Englisch spricht und ihn zu seinem Dorf mitnimmt. Die Menschen haben sich zu Waldbewohnern entwickelt, die in kleinen Gemeinschaften zusammenleben. Technologie spielt keine große Rolle, es gibt aber Flugapparate, die Lufträder genannt werden, und Winters darf bei einem Rundflug die veränderte Oberfläche der Erde bestaunen. Es wird ihm anfangs nicht geglaubt, dass er aus der Vergangenheit stammt, dies ändert sich aber, als bei einer Röntgenaufnahme sein Blinddarm entdeckt wird. Die Waldbewohner sind in einem Generationenkonflikg zwischen alt und jung verstrickt, der zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führt und zwischen dessen Fronten der Schläfer gerät. Winters wird als Angehöriger der Generation, welche die Ressourcen der Erde rücksichtslos ausgebeutet hat, angeklagt. Er flieht und sucht wieder seine Schlafstätte auf, um dort einer hoffentlich friedlicheren Zukunft entgegenzuträumen.
Der Winter kam, und die Frösche suchten ihre Schlafplätze im Schlamm des kleinen Tümpels, der die Stelle des früheren Sees einnahm. Im nächsten Frühjahr begann der mächtige Baum ein neues Wurzelgeflecht auszubreiten und verschloß von neuem den Eingang zu jener bleiumschlossenen Kammer, wo in völliger Dunkelheit eine leblose Gestalt auf einem Lager aus Daunen ruhte. Die letzten unklaren Gedanken des Schläfers hatten ihn in seine Kindheit zurückgeführt, und das wächserne Gesicht zeigte ein schwaches erstarrtes Lächeln, als habe er endlich das Geheimnis menschlichen Glücks entdeckt.
(Zitiert aus: Laurence Manning: Der Jahrtausendschläfer. München 1977, Heyne SF 35 , S. 47)
Nach weiteren fünftausend Jahren hebt sich Winters erneut aus seinem Todesschlaf empor und sucht den Weg ins Freie. Bald wird er von einem Luftschiff aufgegriffen, denn in dieser Epoche werden Menschen, welche in der Wildnis leben, eingefangen und in die Stadt gebracht und der Herrschaft eines gigantischen Computers, der das große Gehirn genannt wird, unterworfen. Das Gehirn steuert und überwacht alle Lebensbereiche der Menschen, welche immer nur kurz arbeiten müssen und den Rest ihrer Zeit in Vergnügungspalästen verbringen. Doch Winters ist in dieser Zwangsherrschaft nicht glücklich, wenngleich die Diktatur auch friedvoll ist und die Menschen keine Not leiden.
Hier war eine Art von unsichtbarer Gottheit, allwissend, allgegenwärtig, ein personalisierter Gott. Er strafte und belohnte ohne Irrtum. Die Arbeit war so leicht, daß sie auf immerwährenden Müßiggang hinauslief. Die beite Masse konnte sich kaum mehr Luxus oder Annehmlichkeiten wünschen, und doch verspürte Winters eine unbestimmte Abneigung gegen das ganze Arrangement, und er konnte sich gut vorstellen, daß es Leute wie den Mann in Rot gab, die dagegen revoltierten.
Die Menschheit brauchte keinen Gott, der ihr zeigte, wie sie zu leben hatte, dachte Winters. Nötig waren ungelöste Probleme, an denen die Menschen ihre Erfindungsgabe und ihren Einfallsreichtum üben konnten. Nur durch Arbeit und die ständige Auseinandersetzung mit moralisch-ethischen Herausforderungen konnte die Menschheit sich zu einer höheren Existenzebene hin entwickeln. Er als Beobachter der Jahrtausende sah diese Wahrheit so klar, daß er sich über die Oberflächlichkeit und Stumpfheit der Menschen wunderte, die sich wie eine Art Vieh halten und abfüttern ließen.
(Zitiert aus: Laurence Manning: Der Jahrtausendschläfer. München 1977, Heyne SF 35 , S. 73)
Er schließt sich einer Widerstandsbewegung an und schmuggelt am Standort des Gehirns einen Sabotageapparat ein. Winters wird somit Herr des Gehirns, denn der Apparat wird wahnsinnig und genauso die von ihm geistig beeinflussten Menschen. Das Gehirn wird zerstört und die Revolutionäre übernehmen die Macht. Winters ist jetzt eine Berühmtheit, aber er möchte nicht bleiben, sondern weiter in die Zukunft reisen. Seine Freunde bauen für ihne eine neue Schlafkammer, die mit Atomkraft betrieben wird, und der Jahrtausendschläfer begibt sich weiter auf seine Reise in die Ewigkeit.
Als Winters wieder erwacht, sind wie bei der letzten Reise in die Zukunft wieder fünftausend Jahre vergangen. Er rettet mit seiner Waffe einen jungen Mann vor einem Wolfsangriff. Erik hat sich mit seiner Gefährtin Jalna zerstritten, weil er sich nicht mit ihr gemeinsam unter die Traummaschine begeben wollte. Die meisten Menschen dieser Zeit sind an die Traummaschinen angeschlossen, an denen sie ein virtuelles Leben ganz nach ihren Wünschen führen können, während ihre Körper ausgezehrt dem Tod entgegendämmern. Nur eine Handvoll Wissenschaftler ist mit der Wartung der Traummaschinen beschäftigt. Die Stadt der Schläfer ist wie ausgestorben, die Geburtenrate geht gegen null, die Menschheit träumt ihrem Ende entgegen. Zusammen mit seinem Freund Erik und einer Gruppe von Wissenschaftlern, die sich dem Ende entgegenstemmen, baut er mit Hilfe einer Atommaschine eine neue befestigte Stadt in der Wildmis, welche die Keimzelle einer neuen Zivilisation werden soll. Winters begibt sich in eine neu erbaute Bleikammer mit Atommotor am Rand der Stadt, um eine weitere Etappe von fünftausend Jahren seiner Zeitreise anzutreten.
Die Idee der Schläfer, die von Drähten eingesponnen sind, entnahm Manning aus der von ihm gemeinsam mit Fletcher Pratt verfassten Kurzgeschichte The City of the Living Dead, den Handlungsrahmen gestaltete er aber neu.
Als der gealterte und geschwächte Winters nach der nächsten Schlafperiode an die Oberfläche kommt, sieht er sich bald in einem wilden Kampf verstrickt, der um seine Person geht. Er ist zu einer Legende in der Menschheit geworden, seine Eingriffe in die Ereignisse sind in den Geschichtsbüchern verzeichnet. Die Menschen haben sich zu extremen Individualisten entwickelt, welche kein Gesetz und keine Regel kennen, nur die Durchsetzung der eigenen Wünsche. Winters Aufwachen wurde bereits durch Die Individualisten erwartet, und mehrere Forscher kämpfen in ihren mobilen Festungen darum, wer ihn als Beute erringt. Er wird Gefangener des Biologen Hangry, der ihn sezieren und als Zuchtmaterial verwenden will, denn die Menschen haben sich seit Winters erstem Leben genetisch stark verändert. Sie haben beispielsweise keine Zähne mehr. Hangry sperrt Winters in einem Spiegelkabinett ein, in dem sein Erzeuger Bengue zusammen mit Hunderten von identischen Klonen von ihm selbst, die alle im Gleichklang denken, reden und sich bewegen, gefangen ist. Es gelingt Winters zusammen mit Bengue zu entkommen und seinen Schlafraum erneut aufzusuchen. Auch Bengue legt sich nach dem Vorbild von Winters in einer anderen Kammer zum Jahrtausendschlaf nieder.
Entkräftet wacht Winters auf und begibt sich an die Oberfläche auf der Suche nach Menschen.
Sollte er erfolgreich weitee fünftausend Jahre überdauert haben, nur um in einer unfreundlichen Wildnis an Hunger und Unterkühlung zu sterben? Wo waren die Menschen dieser Zeit? Schließlich nickte er ein und schlief zwei Stunden lang. Als er erwachte, fühlte er sich ein wenig erfrischt und stapfte weiter durch den Regen, langsam und entkräftet, doch mit wachen, lebhaften Augen. Winters gehörte zu den Männern, die selbst angesichts des sicheren Untergangs nicht aufgeben können. Gewiß, er sah ein, daß er wahrscheinlich sterben würde, wenn dies auch einen Tag andauerte. Zugleich aber war er hier in der zukünftigen Welt, die er hatte sehen wollen. Nun, sieh sie dir an, solange du kannst, dachte er. Er überwand eine flache Anhöhe, hinter das Land in weißlichem Nebel gehüllt lag. Er wankte hinunter, eine zerbrechliche, mitleiderregende Gestalt, und einige Zeit später verschwand er in Nebel und Regen und war nicht mehr zu sehen.
(Zitiert aus: Laurence Manning: Der Jahrtausendschläfer. München 1977, Heyne SF 35 , S. 157)
Der Wanderer durch die Zeiten wird von einer Gruppe von Biologen gerettet, die an der Entwicklung einer lebensverlängernden Substanz forschen. Das Elixier ist die Rettung für Winters, denn es schenkt ihm nicht nur ewiges Leben, sondern gibt ihm auch seine jugendliche Konstitution wieder. Die Forscher streiten darum, ob die Substanz allen Menschen zur Verfügung gestellt werden soll oder nur ausgewählten, würdigen Persönlichkeiten. Schließlich fällt die Entscheidung zugunsten der gesamten Menschheit, was dieser den Übergang in eine ganz neue Ära ihrer Geschichte beschert. Der Weg zu den Sternen ist nun offen, denn durch die Lebensverlängerung werden Interstellarreisen trotz der langen Reisezeiten möglich. Während eines Besuchs auf der heimatlichen Erde trifft Winters Bengue, den Mann, den er während seiner letzten Etappe durch die Zeiten kennengelernt und der sich auch zum langen Schlaf gelegt hatte. Schließlich schließt er sich einer Gruppe von Forschern an, welche auf dem Planeten einer entfernten Sonne gemeinsam den Sinn des Lebens enträtseln wollen. Immer tiefer dringen die Suchenden in die Geheimnisse des Universums ein, doch die allerletzte Bedeutung wird für immer verborgen bleiben.
Der Jahrtausendschläfer hat eine gewisse Großartigkeit in sich, speziell die letzte Episode greift weit in Raum und Zeit hinaus und wurde auch mit Olaf Stapledons Zukunftsvision von der kosmischen Bestimmung der Menschheit in Last and First Men verglichen. Bemerkenswert, dass ein Roman dieses Kalibers zuerst in Hugo Gernsbacks Wonder Stories erschienen ist. Gernsback ist ja als Herausgeber von Geschichten mit literarisch eher zweifelhafter Qualität verschrieen. Aber auch der Großteil der Erzählungen des hochgeloben Autors Stanley G. Weinbaum kamen in Wonder Stories heraus. Sollte man Gernsbacks Herausgeberschaft doch etwas differenzierter betrachten? Auf jeden Fall bleibt Der Jahrtausendschläfer eine interessante Schilderung von möglichen Etappen der zukünftigen Entwicklung der Menschheit und ein wichtiger Beitrag zur Reihe der Heyne Science Fiction Classics. Über die heute wissenschaftlich nicht mehr haltbare Annahme, dass durch das Abschirmen der kosmischen Strahlung der Alterungsprozess des Körpers aufgehalten werden kann, sehen wir großzügig hinweg.
Anmerkung:
Es werden die Ausgaben in den Heyne Science Fiction Classics sowie die Originalausgaben des Werks angeführt.
1977