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Heyne Science Fiction Classics 35 - Karin Boye

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 35: Karin Boye
Kallocain

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

Autorinnen sind in der Reihe der Heyne Science Fiction Classics unterrepräsentiert, nur drei Titel davon wurden von Frauen verfasst. Das entspricht allerdings der historischen Entwicklung des Genres SF, in dem der weibliche Anteil in der Autorenschaft erst ab etwa den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stark stieg und dazu führte, dass SF insgesamt eine größere Breite bei den behandelten Themen erreichte. Die heute vorgestellte Autorin hinterließ nur ein schmales Werk, das allerdings durchaus als bedeutend anzusehen ist.

Heyne Science Fiction ClassicsDie Schwedin Karin Boye wurde 1900 in Göteborg geboren. Ihre Vorfahren stammten aus Böhmen. Sie studierte in Göteborg und war anschließend als Lehrerin tätig. 1925 schloss sie sich der Clartébewegung des französischen Pazifisten Henri Barbusse an. Wie viele andere skandinavische Intellektuelle besuchte sie die Sowjetunion, um die dortige Entwicklung in Richtung der ersehnten sozialistischen Utopie zu studieren, wurde aber von der dortigen Realität bitter enttäuscht. Auch der Aufstieg des Nationalsozialismus löste Abscheu in ihr aus. Sie suchte Zuflucht in der Psychoanalyse, fand aber auch dort keine befriedigenden Antworten auf ihre brennenden Fragen und ging 1941 in den Freitod. Neben ihrem erzählerischen Hauptwerk Kallocain verfasste Boye auch einige Gedichtsammlungen, welche von der Kritik hoch gelobt wurden.

Heyne Science Fiction ClassicsAls der vierzigjährige Chemiker Leo Kall den Durchbruch bei seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit erzielt, ahnt er bald, dass dieser gravierende Auswirkungen für das gesellschaftliche Gefüge seines Landes haben wird. Kall lebt in der Chemiestadt Nr. 4 des Weltstaates. Es ist ihm gelungen, eine Wahrheitsdroge herzustellen, unter deren Einfluss jeder Mensch seine innersten Gefühle und persönlichsten Geheimnisse preisgibt. In einem Land wie dem Weltstaat, der mit totalitären Methoden die Menschen an der Kandare hält, fällt damit die allerletzte Bastion der Freiheit der Allmacht der Herrschenden zum Opfer. Kall hofft, mit seiner Erfindung nach oben zu kommen:

Der Gedanke ergriff mich. Ich wußte, daß früher während der zivilisierten Epoche die Menschen durch Hoffnung auf geräumigere Wohnungen, besseres Essen und schönere Kleider zu Arbeit und Anstrengung verlockt werden mußten. Jetzt war Derartiges nicht mehr nötig. Die Standardwohnung – ein Zimmer für Unverheiratete, zwei für Familien – reichte für den Geringsten wie für den Höchstgestellten gut aus. Die Mahlzeiten der Hausküche sättigten den General ebenso wie den Gemeinen. Die allgemeine Uniform – eine für die Arbeit, eine für Freizeit und eine für Militär- und Polizeidienst – war für alle, Mann und Frau, hoch und niedrig, bis auf die Gradbezeichnungen gleich. Nicht einmal diese unterschieden sich sehr voneinander Das Erstrebenswerte eines höheren Grades lag einzig und allein im Symbol desselben. So hoch vergeistigt, dachte ich glücklich, ist tatsächlich jeder einzelne Mitsoldat im Weltstaat, daß das, wenn er den höchsten Wert des Lebens wähnt, kaum eine greifbare Form für ihn hat, als drei schwarze Streifen auf dem Arm – drei schwarze Streifen, die ihm sowohl als Pfand für die Achtung vor sich selbst wie für die Achtung anderer gelten. Von materiellen Genüssen kann man sicher genug bekommen, sogar mehr als genug – gerade darum vermute ich, daß die Zwölfzimmerwohnungen der alten zivilisierten Kapitalisten auch kaum mehr waren als ein Symbol, aber dieses Ungreifbarste von allem, dem man in Form von Gradbezeichnungen nachjagt, übersättigt keinen. Von Achtung und Selbstachtung kann niemand genug bekommen. Auf dieser Grundidee der Vergeistigung, der Abstraktion und der Unerreichbarkeit ruht unsere feste Gesellschaftsordnung sicher und unanfechtbar für alle Zeiten.

(Zitiert aus: Karin Boye: Kallocain. München 1978, Heyne SF 3619, S. 8)

Kall ist verheiratet, wie es sich für einen loyalen Staatsbürger gehört, und hat mit seiner Frau Linda drei Kinder, die bereits in staatlichen Erziehungsanstalten ausgebildet werden und nur wenige Zeit bei den Eltern verbringen. Die Überwachung durch den Staat geht so weit, dass in den Wohnungen Polizei-Augen und Polizei-Ohren installiert sind. Sogar der Geschlechtsverkehr zwischen den Paaren wird überwacht, denn es ist notwendig, dem Staat neue Mitsoldaten in der benötigten Menge zur Verfügung zu stellen.

Für die weitere Verfolgung seines Projektes, insbesondere die Zurverfügungstellung von Versuchspersonen, ist die Überwachung durch einen Kontrollbeamten notwendig. Wie von Kall befürchtet, wird Edo Rissen für diese Funktion bestellt. Leo mag Rissen nicht, er hat ihn im Verdacht, dass er früher ein Verhältnis zu Leos Frau Linda hatte und sie sich nach wie vor zu ihm hingezogen fühlt. Und dann macht Rissen, als er von Kalls Substanz Kallocain erfährt, eine eigenartige Bemerkung. Er meint, dass wahrscheinlich kein Mitsoldat über dem vierzigsten Lebensjahr ein reines Gewissen hat, dass also sich jeder als schuldig erweist, wenn er unter der Wahrheitsdroge aussagen muss. Ist Rissen etwa in Wirklichkeit ein Staatsfeind und versteht es nur, seine subversiven Auffassungen zu verstecken? Das Misstrauen von Kall steigt. Die Versuche mit Mitgliedern des Freiwilligen Opferdiensts verlaufen erfolgreich. Der Polizeichef wird informiert, der sogleich die Bedeutung von Kallocain erkennt. Kall und Rissen werden in die Hauptstadt abkommandiert. Sie sollen Aufmerksamkeit im Ministerium erregen und erreichen, dass ein Gesetz erlassen wird, welches bereits nicht der Norm entsprechende Gedanken unter Strafe stellt. Das Vorhaben ist erfolgreich, mit dem neuen Gesetz können Personen, welche als unerwünscht angesehen, nach Belieben als Verbrecher gebrandmarkt und aus der Gesellschaft entfernt werden. Der Staat ist alles, der Einzelne ist nichts!

„Und glauben Sie vor allen Dingen nicht, daß ich von einer Art zivilistischen Aberglauben ausgehe, daß der Staat für uns da sein sollte, anstatt wir für den Staat, wie es sich ja in Wirklichkeit verhält. Ich meine nur, daß das Wesentliche im Verhältnis der einzelnen Zellen vom Staatsorganismus im Hunger nach Sicherheit liegt. Und wenn wir eines Tages merken sollten – ich sage nicht, daß wir das getan haben, aber wenn – daß unsere Erbsensuppe dünner wird, unsere Seife kaum mehr anwendbar, unsere Wohnungen baufällig und alles vernachlässigt würde, würden wir uns dann beklagen? Nein. Wir wissen, daß das Wohlleben in sich selbst keinen Wert hat und daß unsere Opfer einenm höheren Ziel dienen. Und wenn wir Stacheldraht über unsere Wege gespannt sehen, finden wir uns dann nicht mit allen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ab? Ja. Wir wissen, daß dies alles für den Staat geschieht, um ihn vor Schaden zu bewahren. Und wenn eines Tages alle unsere Freizeitbeschäftigungen zugunsten der notwendigen militärischen Übungen eingeschränkt, wenn die unzähligen Luxus-Betätigungen, die zu unserer Erziehung gehörten, beiseite gelassen würden, um die unumgängliche Spezialausbildung des einzelnen für die unbedingt notwendige Industrie zu ermöglichen? Haben wir Grund, dann zu klagen? Nein, nein, und noch einmal nein. Wir sehen ein und billigen es, daß der Staat alles, der einzelne nichts ist. Das sehen wir ein und beugen uns vor der Tatsache, daß der größte Teil der soganannten „Kultur“ - ich sehe dabei von den technischen Wissenschaften ab – als Luxus Zeiten vorbahalten bleibt, in denen keine Gefahr droht (Zeiten, die vielleicht nie wieder kommen werden). Was übrig bleibt, ist der nackte Lebensunterhalt und das immer stärker entwickelte Miltär- und Polizeiwesen. Sie sind der Kern des Staatslebens. Alles andere ist nur Äußerlichkeit.“

(Zitiert aus: Karin Boye: Kallocain. München 1978, Heyne SF 3619, S. 90f)

Auch Rissen selbst ist unter den Opfern des neuen Gesetzes, denn Leo denunziert ihn, worauf sein früherer Kontrollbeamter verhaftet und verurteilt wird. Kall zweigt eine Dosis Kallocain ab und befragt seine Frau unter dem Wahrheitsserum, ob sie mit Rissen etwas hatte, und sie verneint, jemals eine entsprechende Beziehung gehabt zu haben. Leo bereut seine Beschuldigung und möchte sie zurückziehen, aber es ist zu spät. Rissen wurde auch von einem anderen Mitarbeiter des Projektteams denunziert und sieht seiner Hinrichtung wegen staatsfeindlicher privaten und asozialen Gefühle entgegen. Aber Kall erfährt nie, ob Rissen tatsächlich sein Leben lassen musste, denn Truppen des benachbarten Universalstaates besetzen handstreichartig das Land und setzen Leo gefangen. Der rettet sein Leben, indem er sein Wissen den neuen Herrschern zur Verfügung stellt. So ist gesichert, dass auch im Universalstaat unerwünschte Gedanken gnadenlos ausgemerzt werden. Die Aufzeichnungen Kalls über sein Leben und seine Erfindung werden von der Zensur unter Verschluss gehalten, denn seine Illoyalität, seine Feigheit und sein Aberglauben sind ein drastisches Beispiel über die Entartung, die im Nachbarland Platz gegriffen hat. Die Zensur empfiehlt dringend, weiterhin in die unvergleichlich besseren und glücklicheren Verhältnisse im Universalstaat größtes Vertrauen zu haben.

Der Roman reiht sich nahtlos in die Reihe der großen Dystopien des 20. Jahrhunderts ein und ist damit in guter Gesellschaft mit beispielsweise Wir von Jewgenij Samjatin, Schöne neue Welt von Aldous Huxley, 1984 von George Orwell, Nein – die Welt der Angeklagten von Walter Jens und Der Report der Magd von Margaret Atwood. Insbesondere der Einfluss auf 1984 ist auffallend, etliche Motive sind in Kallocain vorweggenommen, beispielsweise der Konflikt zwischen den beiden Staaten oder die Überwachung, die bis in die persönlichste Sphäre hineingeht. Beide Romane sind gleichermaßen von der Enttäuschung ihrer Autoren über die Entwicklung Russland im stalinistischen Systems geprägt. Kallocain ist einer der wichtigsten Romane in der Reihe der Heyne Science Fiction Classics. Diese Ausgabe war nach der Erstausgabe 1947 erst die zweite in deutscher Sprache und kann somit als Wiederentdeckung betrachtet werden, welcher seither eine respektable Anzahl weiterer Ausgaben gefolgt sind.


Titelliste von Karin Boye

Anmerkung:
Es werden die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics, die deutsche Erstausgabe sowie die Originalausgabe des Werks angeführt.


1978

3619 Kallocain
deutsche Erstausgabe: Zürich 1947, Büchergilde Gutenberg
Originalausgabe 1940 als Kallocain


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Tags: Science Fiction and Fantasy

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