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... Kaspar Maase über Schund, Schmutz und Jugendschutz

Prof. Dr. Kaspar Maase... Kaspar Maase ...
... über Schund, Schmutz und Jugendschutz

Kaspar Maase lernte ich Kennen, als der Zauberspiegel in Gestalt von Bettina und mir ein DFG-Projekt zur Serialität beobachtete.

Jetzt hat sich Kaspar Maase in »Die Kinder der Massenkultur« dem Schund- und Schmutzkamp im Kaiserreich angenommen mit erstaunlichen Parallelen in  unsere Zeit. Ein paar FRagen dazu.

Zauberspiegel: Bereits im Frühjahr 2012 erschien ihr Buch »Die Kinder der Massenkultur«. Es geht darin um »Schund und Schmutz im Kaiserreich«. Insbesondere den damaligen Heftroman und das frühe Kino.
Was hat Sie bewogen dieses Buch zu schreiben?
Kaspar Maase: Sie haben Recht, der Schwerpunkt der Studie liegt zwischen 1890 und 1918; die anschließende Linie durch das 20. Jahrhundert wird nur knapp gezeichnet. Doch mein Interesse kommt aus der Gegenwart. Seit langem irritiert mich der Generalverdacht gegen Kinder und Jugendliche, wenn es um moderne Medien geht. Wie Fernsehen, Internet, Computerspiele Heranwachsende  verrohen, gewalttätig und abhängig machen – diese Frage steht immer als erste im Raum. Und ich spüre dabei oft unterschwelliges Misstrauen oder sogar offene Aggressivität gegen Jugendliche. Das Buch versucht zu ergründen, woher diese Einstellung kommt.

Zauberspiegel: Was ist »Schund und Schmutz«? Mir kommt vieles schwammig und indifferent vor. Gibt es eine klare Definition des Begriffs (vor und nach dem Kaiserreich)?
Kaspar Maase: Es gab jede Menge Definitionen. Die hatten und haben jedoch zweierlei gemeinsam. Erstens waren sie derart auslegbar, dass selbst unter Pädagogen die Urteile weit auseinandergingen; denken Sie nur an das heute maßgebliche Kriterium „sozialethisch desorientierend“ – darunter versteht jeder etwas Anderes. Zweitens wurden die formulierten Maßstäbe völlig willkürlich angewendet; vor dem Ersten Weltkrieg galten beispielsweise Detektivromane in Heftform als verderblich und verrohend – nicht jedoch chauvinistische Kriegsgeschichten für Kinder, und auch nicht Sherlock Holmes-Stories für bürgerliche Leser. Deshalb bin ich zu der Einschätzung gekommen: „Schund“ ist keine Sache, sondern ein Argument.

Zauberspiegel: »Schund und Schmutz«. Dem Heftromanleser der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg kommt das seltsam bekannt vor. Auch die Kinder, die mit den Comics von Hans-Rudi Wäscher in der Hand aufwuchsen, mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie eben Schund in Händen hielten.
Manche der Argumente, die ich in den siebziger Jahren in der Schule zu hören bekam (und ich den unterhaltungsfeindlichen Linken oder 68er – und mit denen ich oft sympathisierte - zuschrieb, sind fast wortidentisch mit jenen aus dem Kaiserreich (und dort eher aus dem bürgerlich-konservativen Umfeld stammten).
Wie kommt so etwas zustande? Haben Sie dafür eine Erklärung?
Kaspar Maase: Die These des Buches ist: In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg trat die deutsche Gesellschaft in die moderne Mediengesellschaft ein, deren Grundzüge bis heute fortbestehen. Neu war die Allgegenwart und allgemeine Zugänglichkeit von Wissen (Informationen, Bildern, Geschichten), das nicht länger mehr obrigkeitlich oder pädagogisch kontrolliert werden konnte, sondern sich über seine Attraktivität auf dem Markt und in der Öffentlichkeit verbreitete. In den Kampagnen gegen „Schmutz und Schund“, die bis in die 1960er anhielten und von der Schule bis in die Familien reichten, wurden Wahrnehmungsmuster und Kontrollpraktiken eingeübt, die mit der Zeit selbstverständlich wurden – und zwar quer durch alle politischen Lager. Unsere Gesellschaft sieht sich noch vor dem selben Problem „Wie kann man den Zugang der Heranwachsenden zu schädlichem Wissen verhindern?“, und sie greift immer wieder auf die über Generationen eingeschliffenen Reaktionsmuster zurück.

Zauberspiegel: Im Schund und Schmutz-Kampf ging es um die Kinder und Jugendlichen. Warum wurden diese so herausgestellt? Erwachsene erliegen auch doch dem Reiz des Schundes. Warum also konzentrieren sich die Bemühungen so um Jugendliche. Das hat sich ja bis heute nicht geändert. Der Jugendschutz hat mich zu meiner jedenfalls oft geärgert. Warum hat sich der Jugendschutz so entwickelt? Gibt es da Hinweise aus der Kaiserzeit?
Kaspar Maase: Dass Eltern und Erzieher sich Sorgen machen, ob ihre Zöglinge auch die für unverzichtbar gehaltenen moralischen Regeln und Wertvorstellungen übernehmen, ist verständlich; entsprechende Zeugnisse finden sich in der gesamten uns bekannten Geschichte. Die Mediengesellschaft radikalisierte diese Besorgnisse, weil der Zugriff der Erwachsenen auf die Kinder und auf die Informationen, die denen zugänglich werden, dramatisch an Kraft verlor. In den modernen Städten, mit Massenmedien zu Pfennigpreisen und öffentlicher Werbung für jedermann, bleibt Heranwachsenden nichts verborgen – das fürchteten die Erwachsenen im Kaiserreich, und diese Entwicklung versuchte der „Schundkampf“ aufzuhalten oder zumindest in geregelte Bahnen zu lenken. Mein Eindruck ist, dass sich damals aber auch ein grundlegendes Misstrauen gegen die eigenen Kinder radikalisierte. Interessanterweise war das in Frankreich anders; Altersbeschränkungen im Kino (die im Kaiserreich rigide durchgesetzt wurden) führte man erst zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein, und bis heute sind sie dort sehr viel großzügiger als hierzulande.

Zauberspiegel: Was machten gerade Heftromane und das Kino zum Schlachtfeld des Schundkampfes?
Kaspar Maase: Das lag zum einen an deren Reichweite. Zum anderen wurden die billigen Hefte, die von Hand zu Hand gingen, mit ihren farbigen, hinreißenden Umschlagbildern als Provokation gegen das „gute“ – gebundene, solide, mit „inneren Werten“ werbende – Buch empfunden; und der Film galt vielen Bildungsbürgern wegen der fehlenden Sprache rundherum als Un- und Antikunst. Darüber hinaus waren das die „gefährlichsten“ Medien, weil sie spannende, lustige und freche Geschichten erzählten und damit Jungen und Mädchen fesselten; diese ästhetische Anziehungskraft, die Stoff für Phantasien lieferte, schien Erwachsenen besonders bedrohlich.

Zauberspiegel: Interessanterweise gab es keine Verbote und Beschlagnahmungen von Schund. Woran lag das? Man sollte meinen, in einem Reich wie dem Kaiserreich und mit einer monarchistischen Grundstruktur ließe sich so was wie eine geordnete Beschlagnahmung schnell organisieren und den Kampf effizient führen. Was hat die Schundkämpfer aufgehalten?
Kaspar Maase: Das ist wirklich ein überraschender Befund. Es gab Filmzensur und Altersgrenzen, die Jugendliche von den meisten Filmen ausschlossen; in Schulen wurden angebliche Schundhefte einkassiert. Aber Kolportageromane und Serienhefte hielten sich derart penibel an Gesetz und Moral, dass keine Polizeimaßnahme vor dem Gericht standhielt. Und die Juristen gaben zu, dass die kursierenden Schunddefinitionen in ihrer Willkür und Vagheit nicht für ein Verbotsgesetz taugten. Ich habe daraus gelernt, in welchem Maße das Kaiserreich doch ein Rechtsstaat war; ein Schundgesetz wäre als Eingriff in die Kunst- und Meinungsfreiheit auf erheblichen Widerstand gestoßen.  

Zauberspiegel: Lehrer waren einer der Motoren des Kampfes. Ich habe – wie schon erwähnt – da auch lebhafte Erinnerungen an meine Deutschlehrer, die das Thema »Heftroman« gern nutzten, um ihre Schüler davor zu warnen.
Was prädestiniert Lehrer dazu wider dem Schund zu kämpfen? Woher kommt diese Haltung? Ist es so was wie ein elitäres Bildungsbürgertum?
Kaspar Maase: Ich würde eher sagen, hier schlug Fürsorge um in Erziehungsdiktatur. Der Schundkampf fand vor allem an den Volksschulen statt, und deren Lehrer waren mehrheitlich Bildungsaufsteiger mit eher einfachem sozialem Hintergrund. Sie wollten das Beste für die Kinder; sie wollten ihnen Zugang zur großen, anerkannten Kultur verschaffen. „Schund“ rief so heftige Reaktionen hervor, weil er anscheinend den Kindern des Volkes den Weg zum Reichtum der Kunst versperrte, ihren Geschmack verdarb. Das schien die schärfsten Eingriffe in die private Lektüre der Schüler zu rechtfertigen.

Zauberspiegel: Gibt es Erkenntnisse, wie hoch die Auflagen von Heftromanen waren und wie viel Prozent davon von Kindern und Jugendlichen gekauft wurden? Und wie konnten sich die Kinder die Hefte leisten, wo doch Eltern (von den Lehrern gemahnt) dafür sorgen sollten, dass derartiges nicht gelesen werden sollte?
Kaspar Maase: Die höchsten Auflagen hatten Heftreihen, die sich primär an Leserinnen wandten – und zwar nicht nur mit Liebesgeschichten, sondern auch mit spannenden und exotisch-abenteuerlichen Erzählungen. So sollen „Romanperlen“ und die „Moderne 10 Pfennig-Bibliothek“ bis zu 100.000 Stück pro Titel verkauft haben. Bei Detektiv- und Abenteuergeschichten für Jungen kann man Spitzenauflagen von 60.000 und einen Durchschnitt von 10.000 pro Heft annehmen. Allerdings hatte jedes Heft viele Leser; die Exemplare kursierten jahrelang, bis sie zerfielen. In den urbanisierten Regionen konsumierte vermutlich die Mehrheit der Jungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit Heftchen; Mädchen waren viel stärker durch häusliche Arbeiten eingespannt und lasen eher bei den älteren Schwestern und den Müttern mit.
Nach 1900 kam Taschengeld auch in Arbeiterfamilien auf, und viele Kinder hatten Nebenjobs, bei denen öfter ein Groschen für sie abfiel. Hefte, die im Laden zwischen 10 und 25 Pfennig kosteten, wurden erschwinglicher, wenn man sie gemeinsam kaufte und in der Gruppe kursieren ließ; es gab auch gebrauchte zu Pfennigpreisen beim Trödler.

Zauberspiegel: Gleiches gilt fürs Kino. Gibt es Erkenntnisse wie Jugendliche den Kinogang finanzierten und wie hoch der Anteil von Kindern und Jugendlichen an den Kinobesuchern war?
Kaspar Maase: Verbreitet waren spezielle „Kindervorstellungen“ (für Menschen bis 16!), da die Mehrzahl der Filme nur für Erwachsene zugelassen war. Dafür gaben auch die Eltern mal einen Fünfer oder Groschen aus. Man konnte darüber hinaus versuchen, durch Hilfsdienste bei Kinobesitzern Zugang zu bekommen. Wo es Filmvorführungen gab, da waren vor dem Ersten Weltkrieg die meisten Kinder schon auf den Appetit gekommen – wobei wieder die Jungen im Vorteil waren.

Zauberspiegel: Waren Heftromane im kaiserreich eine Art Jugendkultur oder kann man das so pauschal nicht sagen?
Kaspar Maase: Das kann man unbedingt so sagen. Sammeln und Tauschen von Heften, Wissen über Serien und ihre Helden (aber auch über preiswerte Lektürequellen) waren damals für das Prestige unter Altersgleichen so wichtig wie heute Wissen über Film- und Popstars. Um die Serie „Jungensstreiche“ herum entstanden sogar in ganz Deutschland sogenannte „Jugendbünde“ – selbstorganisierte Gruppen von Lesern, die gemeinsam Hefte diskutierten und Freizeit verbrachten. Und wie in den meisten öffentlich wahrgenommenen Jugendkulturen gaben auch hier die Jungs den Ton an.

Zauberspiegel: Was waren die Themen und die auflagenstärksten Titel der Heftromane des Kaiserreichs? Gibt es da überhaupt Datenmaterial?
Kaspar Maase: Wie erwähnt, hatten Reihen fürs weibliche Publikum den größten Erfolg. Neben den genannten sind noch die „Komet-Romane“, die „Mignon-Romane“ und „Kürschners Bücherschatz“ zu erwähnen. Hier dominierten Liebesgeschichten im Oberschichtmilieu; doch auch Stoffe wie Spionage, Kriminal- oder Kolonialgeschichten (und ab 1914 der Krieg) gehörten zur Mischung. Bei den eigentlichen Heftserien ist die Datenlage schwierig; ein gutes Indiz scheint mir die Laufzeit zu sein – viele Serien floppten nach kurzer Zeit. Erfolgreich in diesem Sinn waren „Nat Pinkerton - Der König der Detectivs“ (476 Folgen ca. 1907-15), „Buffalo Bill“ (386 Titel 1905-12), „Nick Carter“ (375 Hefte 1906-13) und „Der neue Lederstrumpf“(587 Folgen 1912-23).
Bemerkenswert aus heutiger Sicht sind die Vielfalt der Genres und der Stoffe (von SF bis Esoterik) sowie die Tendenz zur Mischung von Genres (wie in der genau deswegen umstrittenen Serie „Krieg und Liebe“). Ganz offenbar gab es nicht selten „cross-gender-reading“: Jungen und Mädchen lasen Geschichten, die ans andere Geschlecht adressiert waren. Beeindruckend ist die Bandbreite der literarischen Machart; sie reicht von stereotypisierter Ware in ärmlicher Sprache bis zu originellen und komplexen Geschichten, die heute noch gut unterhalten. Mit Blick auf ihr Empörungspotenzial standen Serien obenan, die jugendliche Leser als Jugendliche ansprachen und immer wieder Autoritätspersonen wie Lehrer und Gouvernanten, Väter und Amtspersonen dem Lachen aussetzten. Von Pädagogen meistgehasst waren „Jungens-Streiche. Rüpeleien, Geheimnisse und Abenteuer unserer Jugend“ sowie die Backfischserien „Lu und Lo - die beiden Rangen“, „Prinzessin Übermut“ (400 Hefte ab 1914) sowie „Backfischstreiche“.

Zauberspiegel: Besten Dank fürs Interview …
Kaspar Maase: Ich danke für das Interesse.

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