... Thomas Thiemeyer über Nachfolgen, Leser und »Die Stadt der Regenfresser«
: Ich versuche, mir darüber keine all zu großen Gedanken zu machen. Ich sage mir immer: Das betrifft in erster Linie die Mitarbeiter des Loewe-Verlags. Wie sie das Buch herausbringen, positionieren und bewerben ist ihr Ding. Und was ich bisher gesehen habe, machen sie einen großartigen Job. Hinzu kommt, dass ich mit Kai Meyer befreundet bin und er sogar schon mal ein Bild von mir gekauft hat.
Aber manchmal, in einer stillen Stunde überkommt mich so ein Gefühl, dass die Schuhe eben doch verdammt groß sind.
: Es geht um einen fünfzehnjährigen Jungen namens Oskar Wegener, der im Berlin des ausklingenden 19. Jahrhunderts sein Dasein als Taschendieb fristet und eines Tages in die Gewalt eines zwielichten und unheimlichen Mannes gerät. Es stellt sich heraus, das dieser Mann Carl-Friedrich Donhauser ein unehelicher Sohn des großen Naturforschers Alexander von Humboldt ist. Und genau wie sein Vater bereist er die Welt, entdeckt versunkene Kulturen und stößt auf seltsame Wesen und gefährliche Gegner. An seiner Seite, und in Begleitung von Eliza, seiner haitianischen Haushälterin, sowie Charlotte, der Nichte des Forschers, darf Oskar mit auf Reisen gehen. Was er dabei erlebt ist dann so haarsträubend, dass es ihm daheim in Berlin kein Mensch glaubt.
: Zunächst einmal gar nicht. Zu Beginn steht der Wunsch nach einer spannenden, mitreißenden Geschichte mit all den Elementen, die eine solche Story verlangt: Exotische Orte, interessante Figuren, überraschende Wendungen. Auch sprachlich gibt es zunächst mal kaum Unterschiede. (Was vielleicht damit zusammenhängt, dass ich in erster Linie für mich schreibe und nicht für eine imaginäre Leserschaft.)
Die Unterschiede offenbarten sich später im Detail. Während ich mir im Thriller oftmals längere Einführungen erlaube, besteht im Jugendbuch der Wunsch nach einem unmittelbaren Eintauchen in die Geschichte. Keine langen Einstiegsszenen, sondern der direkte Kontakt mit den Hauptfiguren. Szenen mit Dichte und Atmosphäre. Die Personen müssen direkt fassbar sein, sich vom Papier lösen und ein Eigenleben erlangen. Nicht wie im Erwachsenenbereich, wo ich mir für die Entwicklung mitunter mehrere Kapitel Zeit lasse und widersprüchliche, psychologisch komplexe Charaktere erschaffen kann. Jugendbuchprotagonisten definieren sich im wesentlichen über ihre Handlung, was natürlich einen unmittelbaren Einfluss auf die Geschichte hat. Das Tempo ist tendenziell höher und die Struktur straffer. Alles Dinge, die ich gelernt habe, während ich die Bücher schrieb.
: Ich hatte schon länger eine Idee für eine Buchreihe, die im ausklingenden 19.Jh. spielt. Mich fasziniert einfach diese wundersame Welt von vor über hundert Jahren, in der eine Aufbruchstimmung herrschte, wie wir sie vielleicht nie wieder erleben werden. Die Elektrizität steckte noch in den Kinderschuhen und Deutschland wurde von einem Kaiser regiert. Die Welt war zu weiten Teilen unerforscht und die weißen Flecken auf den Landkarten unermesslich groß. Wir fingen gerade an die Lüfte zu erobern und der Ozean war ein dunkles, tiefes Nichts. Für einen Entdecker ein herrlicher Zustand. So kam es zu der Idee einen Abenteurer zu erschaffen, der all das entdecken darf und dazu noch viel mehr. Und was läge näher, als ihn als Verwandten des womöglich größten Naturforschers aller Zeiten anzulegen, dem unvergleichlichen Alexander von Humboldt? Das war die Geburtsstunde von Carl Friedrich.
: Aufmerksame Leser werden sicher die eine oder andere Ähnlichkeit meiner Figuren mit bestehenden literarischen Vorbildern erkennen. Auch bestimmte Handlungselemente dürften vertraut wirken. Ich habe das ganz bewusst so angelegt. Ich wollte ein Gefühl der Vertrautheit bei meinen Lesern erzeugen, ein Gefühl von Geborgenheit und Wiedererkennen, ohne die literarischen Vorbilder zu kopieren. Ein Oskar Wegener mag einige Charaktereigenschaften eines Oliver Twist haben, er besitzt aber auch ein paar neue, die ihn ungewöhnlich machen. Carl Friedrich von Humboldt wiederum mag ein wenig an William von Baskerville aus »Der Name der Rose« erinnern, auch wenn er wesentlich kräftiger ist und sein Haar zu einem Chinesenzopf zusammengebunden trägt. Ich greife bei meinen Figuren gerne auf Klischees zurück um diese dann zu verändern und zu durchbrechen. So bekommen sie etwas Frisches und Einprägsames, ohne den Leser durch ihre völlige Fremdartigkeit zu irritieren.
: Südamerika ist für mich leider noch ein weißer Fleck auf der Landkarte. Ich bin eher der Mittelmeer- und Afrikaspezialist. Ich musste also auf umfangreiches Recherchematerial zurückgreifen.
Aber natürlich habe ich vor, irgendwann mal dorthin zu reisen. Bis es soweit ist, schicke ich Oskar und Humboldt dorthin. Die sollen mal die Lage erkunden und mir erzählen, wie es war.
: Alexander von Humboldt war eines der letzten wirklichen Universalgenies. Er betrieb Forschungen in den Bereichen der Physik, Chemie, Geologie, Mineralogie, Vulkanologie, der Botanik, Zoologie, Klimatologie, Ozeanographie und Astronomie. Da er in Kontakt mit ungezählten internationalen Spezialisten stand, schuf er ein riesiges wissenschaftliches Netzwerk. Dieses fachübergreifende Denken und Forschen ist etwas, was in unserer Zeit fehlt. Heute sind die Universitäten voll von Wissenschaftlern, die so hochspezialisiert arbeiten, dass sie kaum etwas von dem mitbekommen, was zwei Türen weiter erforscht wird. Außerdem ist er ein deutscher Forscher und ich wollte Romane schreiben, die ihre Wurzeln in Deutschland haben.
: So wie ich mich bei Lob immer fühle: Es ist mir peinlich, aber gleichzeitig freue ich mich. Komisch, oder?
: Ich bin so begeistert, dass ich mich nach Fertigstellung des 2. Bandes gleich an Band 3 gemacht habe. Meine arme Lektorin. Die kommt kaum noch zu anderen Dingen.
Was mir soviel Freude bereitet, ist die Loslösung von den lästigen Sachzwängen. Gewiss, es steckt immer noch eine Menge Recherche in diesen Romanen, aber im Vergleich zu meinen Erwachsenenromanen darf ich viel freier drauf los fabulieren. Es ist, als würde ich alle Leinen kappen und einfach auf und davon segeln.
Vielleicht ist es aber auch einfach nur die Faszination für diese wundersame Zeit, wer weiß?
: Als nächstes geht es in das Reich der Tiefsee. Humboldt und seine Gefährten bekommen den Auftrag, nach einem Ungeheuer zu suchen, das den Mittelmeerraum vor Kreta für Schiffe zur Todesfalle werden lässt. Sie werden dabei in Abenteuer hineingezogen, die ihre wildesten Vorstellung übertreffen. Ich gebe zu, das klingt ein wenig nach 20.000 Meilen unter dem Meer, aber das geschieht mit voller Absicht. Die Leser werden schnell merken, dass die Geschichte eine völlig andere Wendung nimmt. Ich habe Jules Verne sogar einen Gastauftritt verpasst, ebenso Nikola Tesla. Ich frage mich, ob den beiden die Geschichte wohl gefallen hätte...
: Das hoffe ich natürlich sehr. Ideen gibt es genug. Aber ob es ein Wiedersehen gibt, hängt einzig und allein von den Lesern ab.
: Ich habe zu danken.