Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 46: Lewis Carroll: Alice im Wunderland (1865)
Teil 46:
Lewis Carroll: Alice im Wunderland
(1865)
I
Eigentlich habe ich mich die Nische dieser Kolumne vor allem deshalb zurückgezogen, weil ich über Literatur schreiben will, die den meisten Menschen egal ist. Ich liebe Bücher, die den meisten Menschen egal sind. Ich habe diese Lesestunden um Mitternacht schon einmal mit den Reisen durch tote Städte verglichen, Refugien, in denen ich mich allein bewege – oder fast allein, in denen die Schritte laut widerhallen und die von allen vergessen wurden. Das Betreten von Bestsellern und Kanon-Romanen erscheint mir oft wie das Anstehen bei der sixtinischen Kapelle in Rom und das anschließende Gedrängel. Habe ich Ihnen mal erzählt, dass es dort extra angestellte Leute gibt, die in kleineren Abständen „Schscht!“ rufen, damit an heiligem Ort das Gemurmel abebbt? So erscheint mit oft das Reisen durch Kanon-Literatur. Goethe beispielsweise ist gar nicht so übel. Sein stiller Tasso... Oder der herrlich schlechte, aber reißerische „Groß-Kophta“ … Aber da sind die Leute, die am Eingang stehen und Schscht machen. Das verdirbt mir den Goethe.
Nächste Woche schreibe ich über sehr seltsame Geschichten von Winston Marks. Da gibt es lebendig gewordene Pfannenreiniger, sprechende Ratten und ein Liebesvirus. Wunderbare Geschichten, die keine Sau kennt. Ich freu mich schon. Warum dann über Alice reden?
Erst einmal deshalb, weil keiner Schscht ruft. Oder: die es tun, werden belächelt. Niemand hat diesen Roman je ausgelotet. Hilflose Literaturwissenschaftler bezeichnen ihn als „Meisterwerk der Nonsens-Literatur“. Dabei funktioniert das Buch nach einer geheimen inneren Logik, die selbst mit den Mitteln der Psychoanalyse schwer zu fassen ist. Es ist irgendein verborgenes logisches Uhrwerk, das da tickt, und auf das wir ansprechen, mit einem sechsten Sinn. Kein Wunder, der Verfasser – Charles Ludwig Dodgson, war eine Mathematikdozent in Oxford und ein mathematisches Genie. Freilich, er war noch verrückter als sein verrückter Hutmacher, er war ständig hinter den kleinen Mädchen her, er war verklemmt wie eine rostige Wäscheklammer, aber er war ein Mathe-Ass und ein literarisches Genie, vor dem sich sogar der blasierte Oscar wilde verneigte. Sein Pseudonym spielt auf die steife akademische Atmosphäre in Oxford an – es sind seine ironisch lateinisierten Vornamen Ludwig und Charles – Lewis Carroll.
Nicht Carroll Lewis, was logischer gewesen wäre. Aber Dodgson hatte seine eigene Logik...
II
In letzter Zeit wird Lewis' augenscheinliche Pädophilie allenthalben diskutiert. Fest steht – er liebte so ziemlich jedes kleine Mädchen in seiner Umgebung. Er schrieb ihnen Briefe. Er fotografierte sie in lasziven Posen.
Doch das Merkwürdige – die Mädchen liebten ihn auch. Sie kamen, schrieben ihm zurück, ließen sich gern fotografieren. Der Insel-Verlag hat einst eine kleine Auswahl dieser Briefe und Fotos Carrolls veröffentlicht („Briefe an kleine Mädchen“, 1994), die ein seltsames Psychogramm des Autors entwerfen – es scheint eine Art kompensierter Vaterkomplex gewesen zu sein, der ihn, den Einsamen, Gehemmten, gequält hat. Auch (oder grade weil?) wenn seine Fotos voll subtiler sexueller Unterströmungen sind (War ihm das bewußt? War den Zeitgenossen das bewußt?) - gelten sie heute als verstörende Klassiker der Kinder-Fotografie.
Alice ist eine Erzählung für seine geliebten Mädchen, vor allem für eines: Alice Liddell.
Hier ist wohl die Wohlanständigkeit Dodgsons aus den Fugen geraten. Wir wissen nicht, warum die Eltern von Alice 1863 die Treffen der beiden plötzlich und rigoros untersagten. Später begann eine wilde Austilgungs-Orgie, was die Dokumente betraf, die Licht in das Dunkel bringen können. Aber manchmal enthüllen die Lücken ebensodeutlich das Geschehene wie die Dokumente selbst. Carrolls Erben vernichteten seine Tagebücher aus dieser Zeit. Alices Mutter verbrannte alle Briefe Carrolls an ihre Tochter.
Jedenfalls inspirierte Alice Liddell den Autor zu den beiden Kinderbüchern – vermutlich den ersten bedeutenden Kinderbüchern der Weltliteratur. (Wobei der zweite Band „Through the Looking-glass“ [Durch's Spiegelglas; im deutschen oft mit „Alice im Spiegelland“ übersetzt] zwar immer im selben Atemzug mit dem Wunderland-Roman genannt wird, aber kaum die Bekanntheit des ersten erreichte – dies seltsame Buch hebe ich mir für einen späteren Artikel auf.)
Ich rekapituliere hier den Inhalt nur kurz, denn er ist ja hinlänglich bekannt. Alice beobachtet auf einer Wiese ein weißes Kaninchen, das eine Taschenuhr hervorzieht. Das verwundert sie, und sie verfolgt das Tier durch einen Kaninchenbau. Dort befindet sich ein senkrechter tiefer Schacht, in den sie stürzt. Und damit stürzt sie ins Wunderland, eine Welt, die der menschlichen Logik anscheinend entgegengesetzt ist. Die Tiere können sprechen, ja sogar Spielkarten agieren – die Herrscher sind König und Königin aus dem Spielkartenreich. Alice kann ihre Größe mit Hilfe von Speisen und Getränken regulieren – in einem Fall im Pilzen (eine Anspielung auf Opiate und Rauschmittel?) - und sie begegnet den sonderbarsten Geschöpfen – legendär ist die Teeparty bei Siebenschläfer, Märzhase und Verrücktem Hutmacher (Das Kapitel „Eine verrückte Teegesellschaft“ gilt als eine der großen Meisterwerke humoristischer Literatur). Einige Figuren sind außerdem unsterblich geworden, etwa die Grinsekatze, eine Art Guru des Wunderlandes, sie kann sich so unsichtbar machen, das nur ihr das Grinsen übrigbleibt. Das Ganze gipfelt in einer Art Showdown-Parodie, Alice wird von den Spielkarten der Prozess gemacht - das Ganze wirkt wie eine surreale Vorahnung auf Kafkas „Prozess“.
Immer wieder wurde von der analytischen Schule auf die Beziehung des Werks zum Traum hingewiesen – das Größer- und Kleiner-Werden, die plötzliche Verwandlung von Gegenständen und Wesen (aus einem Säugling wird plötzlich ein Schwein), die verquere Traumlogik, verzerrt wahrgenommene Bewegungsabläufe (Alice fällt durch den Schacht quasi in Zeitlupe) – aber diese Deutung greift viel zu kurz, zumal Carroll sie selbst anbietet – am Ende erwacht Alice auf der Wiese des Beginns aus einem Alptraum. So einfach würde ein Knobel-Freak wie Carroll (der auch zahlreiche mathematische Rätsel erfand) es uns nicht machen.
Alles ein symbolistisches Schlüsselwerk? Hat jeder Satz eine tiefere Bedeutung, sind die Aussprüche der Grinsekatze so etwas wie traumverzerrte Lebensweisheiten? Das wiederum hieße das Werk überinterpretieren, es zu einem philosophischen Konstrukt hochrüsten. Was Schwachsinn ist. Und doch scheint eine gewisse Tiefe in der Bemerkung der Grinsekatze zu stecken, das Alice nicht im Wunderland wäre, wenn sie normal wäre – weil alle in dieser Welt verrückt seien. Sogar die Gäste. Weil sie gekommen sind.
Für mich lag da immer der Schlüssel. Wir leben in einer Welt der Regeln und Gesetze, die scheinbar vernünftig sind, aber auf ein Alien wohl total durchgeknallt wirken. Manchmal scheint so etwas Carrollsches auch konkret im Alltag auf. Letzte Woche diskutierte ich mit Freunden das Phänomen, warum in manchen ostdeutschen Restaurants draußen der Kaffee nur in Kännchen, nie in Tassen ausgeschenkt wird. Du willst nur eine Tasse? Dann mußt du dich reinsetzen. Wir zerbrachen uns die Köpfe für einen logischen Grund – wir fanden keinen. Es scheint Bestandteil einer „Verrückten Teegesellschaft“ ala Alice zu sein. „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“ - sagt Karl Valentin – ist Alice ein Spiegel des Sich-Fremdfühlens in einer Welt, in der ein Außenseiter die Regeln nicht versteht?
Auch wenn das vielleicht ein richtiger Ansatz ist – glücklicherweise ist das Buch damit nicht auszuloten. Es ist eine literarische Sphinx, schön, geheimnisvoll und schrecklich, voller Rätsel – und als kollektives Märchen so mächtig, dass nicht einmal die (vermutete) Pädophilie ihres Autors den Ruhm eintrüben kann. Es ist das schönste Paradox der britischen Literatur, das Carroll da ersann – gewaltiger als all die hunderten hübschen Paradoxa, die Wilde erfunden hat. Er hat zwei der merkwürdigsten, verdrehtesten, absurdesten Romane aller Zeiten geschrieben – und hat alles richtig gemacht! Man liest sie noch. Er war ein Sonderling und eine sexuell extrem zwielichtige Gestalt, die wir nur schwer lieben können – doch seine Bücher werden hartnäckig geliebt!
III
Die Wirkung des kleinen Romans war überwältigend. Er wurde schnell in alle Weltsprachen übersetzt und auch in solche, die außer den Muttersprachlern nur ausgekochte Experten verstehen. Es gibt allein 35 deutsche Übersetzungen.
Das ist nicht nur ein Indiz für den Erfolg, sondern auch ein Zeichen dafür, wie schwer dies Werk zu übertragen ist. Es steckt voller Wortspiele und Anspielungen auf zeitgenössische Texte. Soll man da am Original bleiben oder es in heutige Methaphern übertragen, mit heute gebräuchlichen Anspielungen?
Nur ein kleines Beispiel für unzählige solcher Schwierigkeiten:
„Mine is a long and a sad tale.“ said the mouse, turned to Alice and sighing.
„Its a long tail, certainly“ said Alice, looking down with wonder at the mouse's tail, but why you call it sad?“
Hier ergibt sich der Wortwitz natürlich durch die im englischen gleichklingenden Wörter tale (Geschichte) / tail (Schwanz).
Wörtlich übersetzt: „Meine Geschichte (tale) ist lang und traurig“, sagte die Maus und seufzte. „Klar, das ist ein langer Schwanz“ (tale/tail), sagte Alice, erstaunt auf den Schwanz (tail) der Maus blickend, „aber wieso bezeichnest du ihn als traurig“?
Vieler dieser Sachen gehen in Übersetzungen verloren.
Auch verfilmt wurde das Buch über 30 mal (der sehr gute Wikipedia-Artikel listet die Filme ausführlich auf, rechnet allerdings auch die Alice-im-Spiegelland-Filme mit dazu. Viele sind es allerdings nicht...)
Seltsam ist es mit der legendären Disney-Verfilmung von 1951. Zunächst ein absoluter Flop, ist er heute fast so populär wie das Buch. Vieles überlagert sich selbst in meinem Kopf, der ich das Buch unzählige Male gelesen habe. Die Nichtgeburtstagsfeier – gabs die nur im Trickfilm oder auch im Buch...?
Ein Wort noch zu den Illustrationen. Man könnte eine mehrbändige Ausgabe nur mit ihnen füllen. Legendär sind die der Erstausgabe von John Tenniel. Meine absoluten Lieblingsillustrationen sind die von Franz Haaken für den Kinderbuchverlag Berlin. Unschlagbar. Übrigens hat auch Carroll selbst das Buch durchgehend illustriert – etwas unheimlich, diese Skizzen – wirken wie ein Mitteldung aus mittelalterlichem Holzschnitt und Kindergekrakel. Sie sind in der englischen Wordsworth-Ausgabe enthalten.
Die beiden neueren Alice-Verfilmungen von Disney mit Johnny Depp (2010/16) sind übrigens keine Verfilmungen der originalen Carroll-Romane, sondern frei erfundene Fortsetzungen.
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