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Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 5: Franz Werfel - Stern der Ungeborenen

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 5:
Franz Werfel: Stern der Ungeborenen

Phantastische Literatur in allen ihren verschiedenen Ausprägungen wird allgemein als Teil der Unterhaltungsliteratur betrachtet, um es deutlicher zu sagen der Trivialliteratur. Dass sich aber auch renommierte Autoren der deutschsprachigen Literatur, die zum Teil zu höchsten literarischen Ehren gelangten, mit utopischen und phantastischen Stoffen beschäftigten, wird in dieser Serie aufgezeigt.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Auch in der heutigen Folge geht es um einen Autor, der wegen seiner jüdischen Herkunft von den Nazis verfemt und verfolgt wurde – eines der vielen Opfer der kriegerischen Ereignisse und Verbrechen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Franz Werfel wurde 1980 in Prag geboren und war somit ein Zeitgenosse Kafkas und vieler anderer Intellektueller, die in der Spätphase der alten Österreichisch-Ungarischen Monarchie aufwuchsen. Obwohl Kind einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie, wurde er stark von seiner katholischen Kinderfrau geprägt. Das Spannungsfeld Judentum/Christentum sollte später einen großen Einfluss auf sein literarisches Werk haben. Er diente während des Krieges in Ostgalizien und ging nach dem Kriegsende, welches mit dem Auseinanderfallen der Monarchie verbunden war, nach Wien. Dort begegnete er Alma Mahler, der Witwe Gustav Mahlers. Alma gewann großen Einfluss auf Werfel und sein Schaffen. 1929 heirateten die beiden. Die Ehe war aber nicht glücklich, denn die politischen und sonstigen Ansichten der Ehepartner standen oft in diametralem Gegensatz Alma war antisemitisch eingestellt. Ihr zuliebe trat Franz aus dem Judentum aus, machte dies aber später heimlich rückgängig.

Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an das Dritte Reich kehrten die beiden nicht mehr nach Österreich zurück. Zuerst lebten sie in Frankreich, flohen nach der Besetzung durch die Nazis nach Amerika und ließen sich in Kalifornien nieder. Werfel erhielt bereits 1941 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Bereits herzleidend starb er 1945 an einem Herzinfarkt im Alter von nur 54 Jahren.

Bereits als Jugendlicher veröffentlichte Werfel Gedichte. Sein erstes großes erzählerisches Werk Verdi. Roman der Oper war das erste einer Reihe von Bestsellern, die Werfel ein Leben in Wohlstand ermöglichten und es ihm – im Gegensatz zu manch anderen Geflohenen – erlaubten, auch im Exil in den USA einen hohen Lebensstandard aufrecht zu erhalten. Weitere bekannte Werke Werfels sind Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld sowie Die vierzig Tage des Musa Dagh, welcher den Völkermord an den Armeniern durch die Türken während der Wirren des Ersten Weltkriegs thematisiert. Bei seiner Flucht vor den Nazis hielt sich Werfel einige Zeit in Lourdes auf, was ihn zum Roman Das Lied von Bernadette inspirierte, die Geschichte der heiligen Bernadette Soubirous von Lourdes, der in Visionen die Gottesmutter Maria erschien. Hier schlug Werfels Zuwendung zum Katholizismus durch, obwohl er sich nie taufen ließ.

Das letzte Werk Werfels ist Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Er schrieb es zwischen Frühjahr 1943 und Frühjahr 1945. Der Roman wurde erst 1946 posthum veröffentlicht.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Der Protagonist F. W. ist ein Alter Ego des Autors. Er steht unerklärlicherweise seinem Freund B. W. gegenüber, von dem er angenommen hatte, dass er verstorben wäre. Doch B. W. ist wiedergeboren und hat seinen Freund ebenfalls auferweckt, der sich in ferner Zukunft wiederfindet, mindestens 100000 Jahre von seiner Zeit entfernt. Die Erde hat sich verwandelt, die Berge sind großteils eingeebnet, die Bevölkerungsdichte ist drastisch gesunken. Die Menschen leben in Häusern unter der Erdoberfläche. Zuerst ist F. W. unsichtbar, denn materialisiert er wieder vollständig und ist in der Kleidung, mit der er zu Grabe getragen worden war. Er wurde als „Hochzeitsgeschenk“ für die Vermählung zweier junger Leute in die Zukunft gerufen. Mittels eines Mentelobols kann man sich ohne Schwierigkeit über große Entfernungen bewegen, indem man das Ziel zu sich herholt. F. W. wird als Kuriosum von den Menschen dieser fernen Epoche bestaunt. Diese haben sich gegenüber der Menschheit der Jetztzeit körperlich weiterentwickelt. Sie können ein hohes Alter von 200 Jahren erreichen und behalten Zeit ihres Lebens ein jugendliches Aussehen. Sie haben die Körperhaare verloren, die meisten von ihnen tragen aber Toupets. Als Nahrung nehmen sie nur wohlschmeckende Flüssigkonzentrate zu sich und müssen nur noch alle fünf Tage ausscheiden. F. W. benimmt sich am Anfang mangels Kenntnis der aktuellen Sitten ungeschickt, gewinnt aber rasch an Erfahrung. Er erhält Einblick in die Denkwelt der Menschen und diskutiert mit ihnen über die Kriege der Vorzeit:

„Ja, worum ging es in diesen zwei Weltkriegen meiner Lebenszeit, bester Io=Do? Wenn sich das so leicht sagen ließe. Es ging um ein trübes Spülicht, um ein schmutziges Gebräu von Arbeitskrisen und Ersatzreligionen. Je unechter nämlich eine Religion ist, um so fanatischer beißen ihre Anhänger um sich. Meine ehemaligen Zeitgenossen waren fanatisch darauf versessen, keine Seelen und keine Persönlichkeiten zu besitzen, sonder Ich=lose Atome materieller Großkomplexe zu sein. Die einen hingen dem Großkomplex 'Nation' an, indem sie die Tatsache der Zuständigkeit, daß sie nämlich in irgendeinem Lande und unter irgendeinem Volke geboren waren, zum ewigen Wert erhoben. Die anderen hingen dem Großkomplex 'Klasse' an, indem sie die Tatsache, daß sie arm und niedrig geboren waren und dies nicht länger sein wollten, zum ewigen Wert erhoben. Beide Großkomplexe waren jedoch für ihre Anhänger ziemlich leicht austauschbar, da beinahe jedermann sowohl arm war als irgendeiner Nation angehörte. Und so wußten denn die meisten von den einen wie von den andern nicht, warum sie sich gegenseitig umbringen mußten. Sie taten es aus Furcht. Aber sie fürchteten sich weniger voreinander, als sie sich vor ihren eigenen Führern fürchteten, die wiederum aus Furcht vor ihnen, den Angeführten, sie zwangen, sich gegenseitig zu vernichten...“

F. W. entscheidet durch einen geschickten Schiedsspruch den Redewettstreit zweier Philosophen über den Gottesbeweis und wird daraufhin zum Geoarchonten gerufen, dem Oberhaupt des Planeten. Dieser macht die folgende Weissagung:

„Die Fremde, die in die Heimat kommt, macht sich selbst nicht heimisch, die Heimat aber fremd.“

Dieser Satz aus dem Buch hat weit darüber hinaus Bekanntheit erlangt.

Bei den Begegnungen mit weiteren Menschen aus der astromentalen Welt der fernen Zukunft hat F. W. immer wieder Gelegenheit, diese Gesellschaft mit den Zuständen seines früheren Lebens zu vergleichen, Diskussionen zu führen und zu reflektieren. Die Gesellschaft ist nahezu einheitlich geworden, es gibt nur noch ein Volk und eine Sprache. Auf seinem Streifzug durch die Zukunftswelt trifft F. W. den Arbeiter, der als Ahnherr einer riesiger Zahl von Nachkommen aus stellaren Quellen die Menschheit mit benötigten Gütern versorgt. Die Verwandlung der kosmischen Strahlen in Güter erscheint wie ein Wunder:

Als ich endlich auf meine beiden offenen Handflächen blickte, da lag auf jeder ein Paar weißer winziger Babyschuhe. Diesen reizenden Massenartikel hatte ich dem Sternstrahl entwunden. Hochauf lachte der Arbeiter, und auch ich lachte und lachte. Ich fragte nicht weiter nach dem Wie und Was, ich fragte nicht, ob der „Scharf eingestellte Wunsch“ oder etwas anderes genüge, um auf einem der dazu bestimmten Gestirne die richtigen Atome zusammenschießen zu lassen, die zur Fabrikation von Babyschuhen nötig sind.

F. W. lernt schließlich den Großbischof kennen, den Anführer der Katholiken. Dieser unterzieht F. W. einem Exorzismus, um sich zu vergewissern, dass er es mit keinem Diener des Widersachers zu tun hat. Der Großbischof will von F. W. wissen, wie es ist, wenn man tot ist. F. W. hat weitere Begegnungen, darunter den Juden des Zeitalters. Er besucht eine Schulklasse im Innern des Djebels, eines künstlichen Berges. Mit den Schülern übt er Kometenturnen im interstellaren Raum und besucht dabei Johannes Evangelist, Maria Magdalena und den Apostel Petrus, jene Nachbarplaneten der Erde, die früher Merkur, Venus und Jupiter geheißen haben. Auch die Sternenwanderer besucht er, welche mit ihren geistigen Kräften die Tiefen der Galaxis erkunden. Nachdem er wieder auf die Erde zurückgekehrt ist, wird der Reisende Zeuge des ersten Blutvergießens unter den Menschen seit Jahrtausenden. Wie bei einem Katalysator hat seine Anwesendheit das Aufbrechen von Konflikten bewirkt, die seit langem unter der Oberfläche brodeln. Er wird zum Unterhändler zwischen den gegnerischen Parteien ernannt.

Am Ende des dritten Tages seines Aufenthalts lässt der Großbischof F. W. durch die Zeit ins Frühjahr 1945 zurückbringen und an der Ecke von Bedford Drive absetzen. Er hat eine Welt kennengelernt, in der die Menschen frei von Alter und Krankheit leben, ohne Zwang zur Arbeit ihren Vorlieben nachgehen können, sie haben sich aber auch weiter von Gott entfernt als die Menschen seiner Jetztzeit.

Zwei Tage nach Vollendung seines Romanes starb Werfel. Das Werk wurde zuerst auf Englisch publiziert, bevor es 1946 auch auf Deutsch, Werfels Muttersprache, erscheinen konnte. Es wurde bei weitem nicht so erfolgreich wie der Großteil seiner anderen Romane und erlebte damit ein ähnliches Schicksal wie Alfred Döblins Berge, Meere und Giganten. Und genauso wie dieses Werk krankt Werfels Roman an mangelnden technisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen des Autors, was dieser auch freimütig zugab. Im Unterschied zu Döblins Werk reiht sich der Stern der Ungeborenen in eine Reihe von Romanen mit ähnlichem Plot ein – Geschichten, in denen ein oder mehrere Protagonisten durch unterschiedliche Vorgänge (z. B. Wiederauferweckung nach Hibernation, Dilatationsflug in die Zukunft, Zeitreise) in eine Welt der Zukunft gelangen und die dortigen Verhältnisse ihrer Herkunftzeit gegenüberstellen. Eines der bekanntesten Beispiele davon ist Wenn der Schläfer erwacht des SF-Klassikers H. G. Wells. Im deutschsprachigen Raum bleibt Stern der Ungeborenen ein literarisches Kuriosum.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Bibliografie

Deutsche Erstausgabe

Franz Werfel: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Stockholm 1946, Bermann-Fischer

Für diesen Artikel verwendete Ausgabe

Frankfurt am Main, 1981, Fischer Taschenbuch Verlag, Fischer Taschenbuch 2063


Übersicht aller Artikel:

13.09.2018 Franz Kafka: Der Prozess & Das Schloss
04.10.2018 Alfred Kubin: Die andere Seite
18.10.2018 Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten
01.11.2018 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel
15.11.2018 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen
29.11.2018 Gerhart Hauptmann: Die Insel der großen Mutter
13.12.2018 Ernst Jünger: Heliopolis & Gläserne Bienen
27.12.2018 Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom & Das große Netz
10.01.2019 Walter Jens: Nein. Die Welt der Angeklagten
24.01.2019 Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik & KAFF auch Mare Crisium
07.02.2019 Marlen Haushofer: Die Wand
21.02.2019 Günter Grass: Die Rättin

 

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