Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 11: Marlen Haushofer - Die Wand
Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 11:
Marlen Haushofer: Die Wand
Endlich eine Frau in dieser Artikelserie! Wurde da einfach eine Quotenfrau in den exklusiven Männerclub hineingeschmuggelt, dazu auch noch eine Österreicherin? Keine Angst, die Autorin ist zwar nicht so bekannt wie etliche hochdekorierte Herren, die hier bereits vorgestellt wurden, aber hat sich ihren Platz durchaus verdient. Sie wurde als Marie Helene Frauendorfer 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren, nahe der Gegend, in der ihr später bekanntester Roman spielen würde. Sie studierte Germanistik in Wien und Graz, schloss aber das Studium nicht ab, denn sie heiratete bereits 1941 und nahm einen unehelich geborenen Sohn in die Ehe mit, der dann noch ein weiterer Sohn entspross. Die Familie lebte in der alten Eisenstadt Steyr. Haushofer wurde 1950 geschieden, heiratete aber den geschiedenen Ehegatten, einen Zahnarzt, 1958 nochmals. Ab 1949 trat Haushofer mit Erzählungen in Zeitschriften und Zeitungen an die Öffentlichkeit. Die Novelle Das fünfte Jahr über das Heranwachsen eines Kindes brachte ihr 1952 größere Aufmerksamkeit. 1963 erschien mit Die Wand ihr wohl interessantestes Werk. Bereits 1970 erlag die Autorin, noch nicht fünfzigjährig, einer Krebserkrankung. Ihr Werk fiel beinahe dem Vergessen anheim, wurde im Zuge der Frauenbewegung aber wieder publik und es gab ab den achtziger Jahren eine Reihe von Neuauflagen.
Betrachtet man die Biografie Haushofers, dann ist es kein Wunder, dass sie von der Frauenbewegung wiederentdeckt wurde. Sie war wohl alles andere als eine angepasste Frau, wie es der totalitären Ideologie als Ideal vorschwebte, die in ihren jungen Jahren herrschte. Studienabbruch, uneheliches Kind, Scheidung und nochmalige Heirat des gleichen Mannes, hat man es hier mit einer Querdenkerin zu tun? Oder gab es eine gläserne Wand zwischen ihr und ihrer Umwelt? Auf jeden Fall lohnt es sich, in ihre Literatur heineinzulesen. Neben Kasacks Die Stadt hinter dem Strom und Hesses Glasperlenspiel ist Die Wand für mich der beeindruckendste Roman der gesamten vorliegenden Artikelserie.
Eine Frau in mittleren Jahren – die Icherzählerin des Romans – wird von einem befreundeten Ehepaar zu einem Wochenende in einer Jagdhütte in den oberösterreichischen Bergen eingeladen. Es kann eine schöne Zeit werden, denn es ist Anfang Mai. Das Jagdhaus befindet sich am hinteren Ende eines schluchtartigen Tals, es gibt nur eine schmale Straße als Verbindung in die Außenwelt. Die Gastgeber fahren am Abend nochmals ins Dorf hinunter, wollen aber zur Nachtruhe wieder da sein. Als sie aber nicht zurückkehren, geht die Frau am nächsten Tag zusammen mit Luchs, dem Jagdhund des Paares, den mehrstündigen Fußweg hinunter ins Dorf, um festzustellen, was die beiden aufgehalten hat. Der bei einer Biegung am Ende der Schlucht vorausgelaufene Luchs kehrt winselnd und an der Nase blutend zurück. Die Erzählerin geht weiter und stößt plötzlich an ein unsichtbares Hindernis, das kein Weiterkommen ermöglicht. Die Wand lässt keinen Kontakt mehr mit der Außenwelt zu. In einiger Entfernung kann die Erzählerin ein kleines Häuschen sehen, vor dem ein alter Mann regungslos steht. Es scheint, als wäre die Welt außerhalb der Wand eingefroren. Die Frau kehrt in die Jagdhütte zurück. Alle Versuche, über den Radioempfang Nachrichten zu erhalten, schlagen fehl, denn es gibt nur Summen und Rauschen zu hören. Als Mensch völlig auf sich alleingestellt, muss die Erzählerin ihr weiteres Leben als Selbstversorgerin aufbauen. Trost gibt ihr Luchs, der ihr treuer Gefährte in vielen einsamen Tagen ist. Sie hat Glück, dass ihr auch eine Katze und eine trächtige Kuh zulaufen. Das ist allerdings ein zweischneidiges Schwert, denn die Kuh ist zwar Milchlieferant, sie zu betreuen erfordert aber die ganze Kraft der Städterin, die nur wenig Ahnung von landwirtschaftlicher Arbeit hat. Die Kuh will gemolken werden, man muss ausmisten, aber auch für den Winter Heuvorräte anlegen. Brennholz wird benötigt. Die schwere Arbeit bringt die Erzählerin oft an den Rand ihrer Kräfte.
Ich war sehr mager geworden. In Luises Frisierspiegel sah ich manchmal verwundert meine neue Erscheinung. Mein Haar, das stark gewachsen war, hatte ich mit Nagelschere kurz geschnitten. Es war jetzt ganz glatt und von der Sonne gebleicht. Mein Gesicht war mager und gebräunt und meine Schultern eckig, wie die eines halbwüchsigen Knaben.
Meine Hände, immer mit Blasen und Schwielen bedeckt, waren meine wichtigsten Werkzeuge geworden. Ich hatte die Ringe längst abgelegt. Wer würde schon seine Werkzeuge mit goldenen Ringen schmücken. Es schien mir absurd und lächerlich, daß ich es früher getan hatte. Seltsamerweise sah ich damals jünger aus als zu der Zeit, als ich noch ein beqemes Leben geführt hatte. Die Fraulichkeit der Vierzigerjahre war von mir abgefallen, mit den Locken, dem kleinen Doppelkinn und den gerundeten Hüften. Gleichzeitig kam mir das Bewußtsein abhanden, eine Frau zu sein. Mein Körper, gescheiter als ich, hatte sich angepaßt und die Beschwerden meiner Weiblichkeit auf ein Mindestmaß eingeschränkt. Ich konnte ruhig vergessen, daß ich eine Frau war. Manchmal war ich ein Kind, das Erdbeeren suchte, dann wieder ein junger Mann, der Holz zersägte, oder, wenn ich Perle auf den mageren Knien halten auf der Bank saß und der sinkenden Sonne nachsah, ein sehr altes, geschlechtsloses Wesen. Heute hat mich der merkwündige Reiz, der damals von mir ausging, ganz verlassen. Ich bin noch immer mager, aber muskulös, und mein Gesicht ist von winzigen Fältchen durchzogen. Ich bin nicht häßlich, aber auch nicht reizvoll, einem Baum ähnlicher als einem Menschen, einem zähen braunen Stämmchen, das seine ganze Kraft braucht, um zu überleben.
Sie pflanzt Erdäpfel und Bohnen an, denn das Haus ist zwar gut mit Lebensmittelvorräten ausgestattet, aber sie schwinden dahin und wird sich die Wand jemals wieder emporheben?
Während des langen Rückwegs dachte ich über mein früheres Leben nach und fand es in jeder Hinsicht ungenügend. Ich hatte wenig erreicht von allem, was ich gewollt hatte, und alles, was ich erreicht hatte, hatte ich nicht mehr gewollt. Wahrscheinlich ist es meinen Mitmenschen ebenso ergangen. Gerade darüber haben wir, als wir noch zueinander sprachen, nie gesprochen. Ich glaube nicht, daß ich noch einmal Gelegenheit haben werde, mich mit anderen Menschen darüber zu unterhalten. So bin ich nur auf Vermutungen angewiesen. Damals auf dem Rückweg in mein Tal war ich mir noch nicht klar darüber, daß mein früheres Leben ein jähes Ende gefunden hatte, das heißt, ich wußte es schon, aber nur mit dem Kopf, und also glaubte ich nicht daran. Erst wenn das Wissen um eine Sache sich langsam im ganzen Körper ausbreitet, weiß man wirklich. Ich weiß ja auch, daß ich, wie jede Kreatur, einmal sterben muß, aber meine Hände, meine Füße und meine Eingeweide wissen es noch nicht, und deshalb erscheint mir der Tod so unwirklich. Seit jenem Junitag ist Zeit vergangen und allmählich fange ich an zu begreifen, daß ich nie wieder zurück kann.
Es gibt auch Fleischnahrung, denn Rehe und Hirsche durchstreifen die Gegend und die Menschen haben längst die größeren Raubtiere ausgerottet. Nur ein Fuchs kommt über das Kätzchen, welches von der alten Katze geworfen wurde. Aber irgendwo muss auch ein Kater sein, denn die Katze wird erneut Mutter. Auch die Kuh Bella bekommt ihr Kalb. Der Erzählerin bleibt nichts anderes übrig, als Geburtshilfe zu leisten. Nachdem das Überleben einigermaßen gesichert ist, beginnt die Frau, die Gegend hinter der Jagdhütte zu erkunden und den Berghang hochzusteigen. Sie findet mehrere Holzknechthütten und eine Almhütte, alle verlassen. Für heuer ist es zu spät, aber nächstes Jahr will sie den Sommer mit ihren Tieren auf der Alm verbringen. Einige Male kehrt sie zur Wand zurück und findet sie nach wie vor unüberwindlich. Viele Vögel sind an ihr im Flug angestoßen und verendet. Der alte Mann, den sie in der Ferne sehen konnte, ist mittlerweile – steif wie ein Stock – umgefallen. Die Szene bleibt gespenstisch, unerklärlich. Es ist ein großes Glück, dass die Erdäpfel und Bohnen tatsächlich ausgetrieben haben und eine Ernte ermöglichen. So kommt die Erzählerin mit den ihr anvertrauten Tieren über den Winter. Im nächsten Jahr bezieht sie wie geplant ein Sommerquartier auf der Alm, um der Kuh und dem mittlerweile tüchtig gewachsenen Stierkälbchen eine bessere Ernährung als das staudige Grünzeug unten am Waldesrand zu bieten. So scheint es, als gäbe es bei allen traurigen Begleitumständen sogar eine Art von Bergidylle. Doch diese wird im zweiten Jahr nach dem Niedergehen der Wand jäh beendet, als ein fremder Mann – der erste Mensch, dem die Erzählerin seit dem traumatischen Ereignis begegnet, auf der Alm auftaucht, den jungen Stier tötet und auch Luchs erschlägt, der ihn verteidigen will. Die Frau handelt ohne zu zögern. Sie erschießt den Mann mit dem Jagdgewehr. Im dritten Winter nach dem Auftauchen der Wand schreibt sie den Bericht über ihre Erlebnisse.
Ich habe fast vier Monate dazu gebraucht, diesen Bericht zu schreiben. Jetzt bin ich ganz ruhig. Ich sehe ein kleines Stück weiter. Ich sehe, daß dies noch nicht das Ende ist. Alles geht weiter. Seit heute früh bin ich ganz sicher, daß Bella ein Kalb haben wird. Und, wer weiß, vielleicht wird es doch wieder junge Katzen geben. Stier, Perle, Tiger und Luchs wird es nie wieder geben, aber etwas Neues kommt heran, und ich kann mich ihm nicht entziehen. Wenn die Zeit ohne Feuer und ohne Munition kommen wird, werde ich mich mit ihr befassen und einen Ausweg suchen. Aber jetzt habe ich anderes zu tun. Sobald das Wetter wärmer wird, werde ich darangehen, die Kammer in Bellas neuem Stall umzubauen, und es wird mir auch gelingen, die Tür auszubrechen. Ich weiß noch nicht wie, aber es wird mir bestimmt noch einfallen. Ich werde Bella und dem neuen Kalb ganz nahe sein und werde sie Tag und Nacht bewachen. Die Erinnerung, die Trauer und die Furcht werden bleiben und die schwere Arbeit, solange ich lebe.
Heute, am fünfundzwanzigsten Februar, beende ich meinen Bericht. Es ist kein Blatt Papier übriggeblieben.
Zu erneuter Aufmerksamkeit gelangte das als unverfilmbar geltende Werk, als es Julian Pölzler 2012 mit einer überzeugenden Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmte. Kenner Innerösterreichs haben möglicherweise bemerkt, dass die Szene, in der die Erzählerin an die Wand anstößt, am in den Felsen hineingeschlagenen Wanderweg entlang des vorderen Gosausees gedreht wurde, und die Almszenen im wunderschönen Gebiet unterhalb der Salzburger Bischofsmütze. Aber das ist natürlich unwichtig, es zählt nur, dass die literarische Vorlage größtenteils werkgetreu filmisch umgesetzt wurde. Auch dass die Hauptdarstellerin keine österreichische Klangfarbe hören ließ, tut dem Beifall keinen Abbruch.