Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 7: Ernst Juenger - Heliopolis & Glaeserne Bienen
Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 7:
Ernst Jünger: Heliopolis & Gläserne Bienen
In den bisherigen Folgen dieser Artikelserie haben wir uns hauptsächlich (mit Ausnahme vielleicht von Gerhart Hauptmann) mit Autoren beschäftigt, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer politischen Einstellung und/oder ihrem literarischen Werk in krassem Gegensatz zu der Ideologie standen, die ihren negativen Höhepunkt in den unseligen Jahren des Naziregimes fand. Ernst Jünger (1895 – 1998) fällt in eine ganz andere Kategorie, obwohl es zu einfach wäre, ihn als Nazi zu bezeichnen. Am ehesten kann man ihn als Nationalkonservativen sehen, welcher der Demokratie abgeneigt war und stark durch den preußischen Militarismus geprägt wurde. Der als Kind einer wohlhabenden Familie in Heidelberg geborene und in Norddeutschland aufgewachsene Jünger erwarb sich bereits als Schüler den Ruf eines Poeten. Achtzehnjährig riss er von zuhause aus und schloss sich der französischen Fremdenlegion an, aus der ihn sein Vater nur wegen seines jugendlichen Alters herausholen konnte. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete sich Jünger sofort als Kriegsfreiwilliger und kam nach seiner militärischen Ausbildung an die französische Front. 1915 wurde er erstmals verwundet. Die dritte Verwundung erhielt brachte ihm das Eiserne Kreuz erster Klasse ein. Seine Kriegstagebücher, die er führte, wurden erst 2010 veröffentlicht. Allerdings sind sie als die Quelle für sein Buch In Stahlgewittern zu betrachten, das 1920 erschien und Jüngers Ruhm als Literat begründete, ihm aber auch heftige Kritik einbrachte. Das Werk ist wohl die literarische Antithese zu Erich Maria Remarques Antikriegsbuch Im Westen nichts Neues.
Nach dem Krieg blieb Jünger noch bis 1923 bei der Reichswehr, schied dann aber aus und studierte Zoologie. Er war ein erklärter Gegner der Weimarer Republik und befürwortete eine nationale Revolution, die ein autoritäres System an die Macht bringen sollte. Allerdings geriet er trotz seiner in vieler Hinsicht ideologischen Nähe in Gegensatz zu den Nazis. Sein Roman Auf den Marmorklippen, 1939 erschienen, gilt vielen als eine Parabel auf den Nationalsozialismus. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, meldete sich Jünger erneut freiwillig und wurde Besatzungsoffizier in Paris. Nach der Befreiung von Paris durch die Alliierten und dem Abzug aus Frankreich wurde er aus der Wehrmacht entlassen. Der Zusammenbruch und die Besetzung Deutschlands brachte für Jünger ein Publikationsverbot durch die Besatzungsmacht. Nach dessen Aufhebung verfasste er eine Anzahl von Werken, unter denen einige Bestseller wurden, wie Strahlungen, 1949 erschienen. Die Verleihung des Goethe-Preises an ihn 1982 veursachte einen politischen Skandal. Kurz vor seinem Tod konvertierte der Hundertjährige noch zum römisch-katholischen Glauben.
Die Persönlichkeit Jüngers zu beschreiben fällt absolut nicht leicht. Die Widersprüche, die Brüche, die Radikalität der Ansichten, das Einzelgängerische, das sich in Ablehnung von vermeintlich Sinnesverwandten äußerte, verunsichert, schreckt ab, lässt einen ratlos kopfschüttelnd zurück. Als Schriftsteller war der Mann allerdings ein Hochbegabter.
Heliopolis, Rückblick auf eine Stadt, erschien 1949 und wurde zu einem der erfolgreichsten Romane Jüngers. Der Kommandant Lucius de Geer kehrt mit einem Schiff von einer Reise, die ihn jenseits der Hesperiden geführt hat, zurück in die Stadt Heliopolis. Die Stadt ist ein Machtzentraum im Mittelmeerraum. Es wird nicht näher erläutert, wo sie sich befindet. In der Handlung tauchen aber immer wieder sprachliche Versatzstücke aus dem Französischen, Portugiesischen, Spanischen und Italienischen auf.
Zwischen den beiden Kaps, die dunkle Bäume krönten, erhob sich in weitem Halbkreis die Stadt Heliopolis. Sie schloß sich um den Alten oder Binnenhafen, von dem aus die Straßen am Hang emporstrahlten. Sie gleißte über dem blauen Meere im Mittagslicht, das ihre Farben löschte, während die Abendsonne das rötliche Gestein erweckte, aus dem die Altstadt errichtet war. Die Neustadt dagegen wurde nach dem letzten der Großen Feuerschläge aus Marmor aufgebaut. Die Fläche hatte lange in Trümmern gelegen, bis einerseits der technische Fortschritt die Atmosphäre gesichert hatte und andererseits die Verfügung über die schweren Waffen vom Regenten zum Monopol erhoben worden war. Dann hatte man die Pläne berühmter Städtebauer ausgeführt. Die Klimaheizung, der Ambianzzerstäuber, das schattenlose Licht und andere Mittel des kollektiven Luxus gaben dem Leben in diesem Viertel seinen Stil. In den weißen Straßen, die auch bei Nacht in hellem Licht erglänzten, herrschte eine monotone Behaglichkeit.
Jünger machte kein Hehl daraus, dass ihn die Lage Neapels zu seiner Beschreibung inspiriert hatte. Die Stadt ist ein Moloch, in dem sich eine Kultur, die in vielem an die Antike erinnert, und futuristische Technik mischen. Der frühere Herrscher, der Regent, hat die Stadt verlassen und sich irgendwo im Weltraum niedergelassen. Die Diadochen sind auf der einen Seite der Prokonsul, zu dessen Gefolge Lucius gehört, und als Gegenspieler der Landvogt. Der Prokonsul hat den Oberbefehl über das Militär und ist im Besitz der Energieversorgung, dem Energeion. Er residiert im Palast. Der Landvogt dagegen verschanzt sich in einem unterirdischen Bunker. Er ist der Volkstribun, der es versteht, die Massen für seine Zwecke aufzuwiegeln. Dazu dient ihm das Zentralamt, sein Geheimdienst. Im toxikologischen Institut des Landvogts macht Dr. Mertens, ein Wiedergänger des KZ-Arztes Mengele, grausame Experimente mit satanisch gequälten Gefangenen.
Neben anderen futuristischen Elementen wie Raketenschiffen, Schwebepanzern, Energiestrahlen, zentrale Energieversorgung, ist Jüngers Beschreibung des Phonophors interessant. Wir würden heute Smartphone dazu sagen:
„Der Allsprecher, Ausführung für normales Gehör. Unkäuflich, unverkäuflich, unübertragbar und nur an der Funktion des Trägers haftend, nicht aber an der Person, von seltenen Ehrungen abgesehen.
Erteilt in jedem Augenblick Orts- und astronomische Zeit, Länge und Breite, Wetterstand und Wettervoraussage. Ersetzt Kennkarte, Pässe, Uhr, Sonnenuhr und Kompaß, nautisches und meteorologisches Gerät. Vermittelt automatisch die genaue Position des Trägers an alle Rettungswarten bei Gefahren zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft. Verweist im Peilverfahren an jeden gewünschten Ort. Weist auch den Kontostand des Träges bei Energeion aus und ersetzt auf diese Weise das Scheckbuch bei jeder Bank und jeder Postanstalt und in umittelbarer Verrechnung die Fahrkarten auf allen Verkehrsmitteln. Gilt auch als Ausweis, wenn die Hilfe der örtlichen Behörden in Anspruch genommen wird. Verleiht bei Unruhen Befehlsgewalt.
Vermittelt die Programme aller Sender und Nachrichtenagenturen, Akademien, Univesitäten sowie die Permanentsendungen des Punktamts und des Zentralarchivs. Gibt Einblick in alle Bücher und Manuskripte, soweit sie durch das Zentralarchiv akustisch aufgenommen und durch das Punktamt registriert worden sind, ist an Theater, Konzerte, Börsen, Lotterien, Versammlungen, Wahlakte und Konferenzen anzuschließen und kann als Zeitung und Auskunftsmittel, als Bibliothek und Lexikon verwandt werden.
Gewährt Verbindung mit jedem anderen Phonophor der Welt, mit Ausnahme der Geheimnummern. Ist gegen Anrufe abschirmbar. Auch kann eine beliebige Menge von Anschlüssen gleichzeitig belegt werden – das heißt, daß Konferenzen, Vorträge, Beratungen möglich sind. Auf diese Weise vereinen sich die Vorzüge des Fernsprechers mit denen des Radios.“
Es herrscht Unruhe in der Stadt. Wieder einmal ist sie vom Landvogt inszeniert. Opfer sind die Parsen, eine ethnisch-religiöse Minderheit, deren Angehörige immer wieder Pogromen unterliegen und als Sündenböcke herhalten müssen. Lucius sucht den parsischen Buchbinder Antonio Peri auf, dem er wertschätzend gegenübersteht und der seine Manuskripte bindet, um sich davon zu überzeugen, dass er wohlbehalten ist. Dabei lernt er dessen Nichte Budur kennen. Er kehrt in seine Wohnung im Palast zurück und besucht anschließend die Kriegsschule, zu dessen Leiter er vom Prokonsul ernannt worden ist. Er gerät mit dem General, seinem unmittelbaren Vorgesetzten, in Meinungsverschiedenheiten über den Ausbildungsplan.
Als der Polizeichef des Landvogts, Messer Grande, durch das Attentat eines Parsen getötet wird, der sich für die Ausschreitungen gegen sein Volk rächen will, richtet der Mob ein durch die Schergen des Landvogts gesteuertes Blutbad unter ihnen an und brennt ihre Häuser nieder. Die ganze Geschichte erinnert beängstigend an die Ereignisse in der sogenannten Reichskristallnacht 1938. Lucius wird dazu ausersehen, als Gesandter des Prokonsuls dem Landvogt persönlich wegen des Attentats zu kondolieren. Es gelingt ihm dort, Budur freizubekommen, die wie viele andere Parsen gefangengenommen wurde und in die er sich verliebt hat. Die Befreiung ihres Onkels misslingt aber. Da kommt es Lucius recht, dass er zum Leiter eines Kommandounternehmen ernannt wird, das die Insel Castelmarino angreifen soll, wo sich die Kerker des Landvogts und das toxikologische Institut befinden. Das Unternehmen gelingt zwar, doch Antonio Peri ist durch die Folter und einen Strahlertreffer so schwer verwundet, dass er kurz darauf stirbt. Der General nutzt die Tatsache, dass Lucius erkannt und ein Auslieferungsbegehren des Landvogts für ihn übergeben worden ist, den ihm unbequem Gewordenen abzuservieren. Lucius demissioniert, ist aber überrascht, als der Raumkapitän Phares, der Kommandant des Regentenschiffes, eintrifft und ihm anbietet, in den Dienst des Regenten zu treten. Zusammen mit Budur verlässt Lucius Heliopolis, seiner weiteren Bestimmung entgegenfliegend. Ein Vierteljahrhundert sollte es währen, bis sie im Gefolge des Regenten zurückkehren würden.
Faszinierend am Roman ist das gleichzeitige Vorhandensein von antiken und futuristischen Elementen. Diese haben mich seltsamerweise an A. E. van Vogts Zweiteiler Das Atom-Imperium erinnert. Das Werk sticht auch durch stimmungsvolle Beschreibungen wie die der Stadt hervor, wie oben zitiert. Dazwischen finden sich immer wieder geschichtsphilosophische Betrachtungen sowie Bezüge auf Jüngers gesellschaftspolitische Einstellungen, und das nicht zu knapp, denn die schmale Handlung lässt dafür sehr viel Raum. Wenn man dieses Weltbild schon nicht teilt (wie ich es keinesfalls tue), ist es aber so geschildert, dass es zum Nachdenken anregt.
Die Erzählung Gläserne Bienen – Roman zu sagen wäre übertrieben, höchstens als Novelle könnte man sie auch bezeichnen – spielt in einer nicht definierten Zeit nach dem Ende des großen Krieges. Der Icherzähler Rittmeister Richard, ein früherer Militär, der nach dem Ende der Kavallerie noch auf Panzer umgeschult wurde, sich im zivilen Leben aber nicht durchsetzen konnte und akut von Verarmung bedroht ist, bewirbt sich nach Vermittlung eines Freundes aus Militärzeiten beim schwerreichen Industriellen Zapparoni als Leiter dessen Sicherheitsdienstes. Zapparoni hat ein Vermögen mit seinen Robotermaschinen gemacht. Nach der Gesprächseinleitung verschwindet der Industrielle unter einem Vorwand und lässt den Bewerber in seinem Garten allein. Dieser beobachtet dort die gläsernen Bienen, welche aus Blüten den Nektar entnehmen, um auf wesentlich effizentere Weise als es die Insekten selber können Honig zu gewinnen. In einem Teich findet Richard abgeschnittene menschliche Ohren und nimmt an, dass Menschen Angriffen der Miniroboter zum Opfer gefallen sind. Wütend erschlägt er eines der Automateninsekten mit einem Golfschläger.
Doch die Sache mit den Ohren war nur eine Falle Zapparonis, der beobachten wollte, wie Roland auf Stresssituationen reagiert. Die Ohren waren in Wirklichkeit künstlich und gehörten vorher androidenhaften Automaten Zapparonis. Richard hat die Prüfung auf seine Eignung als Sicherheitsbeauftragter nicht bestanden. Allerdings erscheint er dem Magnaten für eine Aufgabe geeignet, in seinem Haus ein Schiedsgericht für Streitigkeiten zwischen seinen hochbegabten, aber menschlich schwierigen Erfindern zu leiten. So nimmt die Geschichte ein gutes Ende und der Bewerber kann seine zuhause wartende Frau zum Essen ausführen.
Die handlungsarme Erzählung spielt sich hauptsächlich im Kopf des Protagonisten ab, der während seiner Vorstellungstour bei Zapparoni immer wieder Erlebnisse aus seiner Vergangenheit reflektiert. Autobiografische Elemente des Autors liegen mehr als nahe. Bemerkenswert ist der erste Satz des Klappentextes aus der Neuausgabe des Buches von 1990:
Dies ist keine Science Fiction, sondern eine Zukunftsvision von Ernst Jünger, aber darin geht es um Entwicklungen der modernen Hochtechnologie, und sie werden ernster genommen als in den vielen Romanen, die es darauf anlegen, die technischen Gemeinplätze von morgen zu antizipieren.
Diese Aussage ist etwa genauso sinnbefreit, wie wenn man sagt, etwas ist nicht blau, weil es blau ist. Und sie ist typisch für den Dünkel der Vertreter der sogenannten „großen“ Literatur, denn wenn einer, den sie als einen der Ihren ansehen, etwas schreibt, das wie Science Fiction aussieht, dann kann es nicht Science Fiction sein. Denn SF ist Trivialliteratur und ernstzunehmende Autoren geben sich mit so etwas nicht ab. Gerade von Klett-Cotta, einem Verlag, der immerhin mit der Veröffentlichung von Tolkiens Herr der Ringe einen immensen Beitrag zur Popularisierung des Schwestergenres Fantasy im deutschen Sprachraum leistete und der in seiner Hobbit Presse auch den einen oder anderen ambitionierten SF-Roman veröffentlicht hat, könnte man doch eine differenziertere Betrachtungsweise erwarten.
Mit dieser Artikelserie verfolge ich ganz klar das Ziel, Mauern zwischen den literarischen Lagern abzureißen und Liebhaber von phantastischer Unterhaltungsliteratur, wie sie sich gewiss in großer Zahl unter den Besuchern des Zauberspiegels befinden, auch Einblicke in verwandte Stoffe der Literaturelite zu geben. Den Protagonisten der selbsternannten literarischen Elite rate ich dagegen, die Nase nicht immer gar so weit in die Höhe zu recken, denn sonst könnte es hineinregnen.
Kommentare
Die zitierte Neuausgabe von Klett-Cotta hat nun auch schon fast 30 Jahre auf dem Buckel. Finden solche Diskussionen heute überhaupt noch statt? Ist es nicht eher so, dass Autoren wie Werfel, Hesse oder Schmidt einfach in Vergessenheit geraten sind, zumal ihre Tradition mangels Talent oder Verkaufserfolg nicht fortgeführt wurde?
Ich sehe das differenziert.
Von den Autoren der Artikelserie sind Kafka, Hesse, Hauptmann und Grass Ikonen der deutschsprachigen Literatur, werden natürlich im Literaturunterrricht behandelt und auch nach wie vor gelesen. Ihre Werke sind meiner Meinung nach großteils erhältlich.
Kubin (als Schriftsteller), Döblin, Werfel, Jünger, Kasack, Jens, Schmidt sind in der mittleren und jungen Generation kaum bekannt. Döblins Giganten und Arno Schmidts Elaborate, zu denen wir erst kommen, sind außerdem aus unterschiedlichen Gründen nur mit großem Durchhaltevermögen lesbar.
Haushofer war eine Außenseiterin, die durch die Verfilmung ihres Romans posthume Publizität erfahren hat.
Utopisch-phantastische Elemente finden sich aber auch bei anerkannten Mainstram-Autoren der jungen Generation wie Dietmar Dath oder Christian Kracht. Schriftsteller, die aus der SF-Ecke kommen, wie Brandhorst oder Eschbach, schreiben ihre Romane mit einer "handwerklichen" Qualität, die weit über der von Schundfetzautoren vergangener Jahrzehnte liegt. Der Fall ist also nicht hoffnungslos, dass die Decke zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur durchlässiger wird.