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Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 9: Walter Jens: Nein. Die Welt der Angeklagten

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 9:
Walter Jens: Nein. Die Welt der Angeklagten

Phantastische Literatur in allen ihren verschiedenen Ausprägungen wird allgemein als Teil der Unterhaltungsliteratur betrachtet, um es deutlicher zu sagen der Trivialliteratur. Dass sich aber auch renommierte Autoren der deutschsprachigen Literatur, die zum Teil zu höchsten literarischen Ehren gelangten, mit utopischen und phantastischen Stoffen beschäftigten, wird in dieser Serie aufgezeigt.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Der deutsche Altphilologe, Universitätsprofessor und Schriftsteller Walter Jens (1923 – 2013) ist ähnlich wie der in der letzten Folge behandelte Hermann Kasack eine Persönlichkeit, die in der frühen Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg schriftstellerisch hervorgetreten ist und hohes Ansehen in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit erworben hat. Jens wuchs in Hamburg auf. Dem Kriegsdienst entkam er durch ein schweres Asthmaleiden.Von 1941 studierte er Geschichte und Altphilologie in Hamburg und Freiburg, 1944 konnte er im abgekürzten Verfahren promovieren und sich bereits 1949 habilitieren. Er wurde Mitglied der Gruppe 47, die als Plattform die Erneuerung der deutschen Literatur vorantrieb und wesentlich dazu beitrug, die Schatten der Nazizeit abzustreifen. Der Roman Nein. Die Welt der Angeklagten machte Jens berühmt. Er stellt den Totalitarismus in seiner ganzen unmenschlichen Erbärmlichkeit bloß und rechnet auf schriftstellerische Art mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus ab.

Jens bekam eine Professur in Tübingen, schrieb daneben Romane und Erzählungen, Sachbücher und Fernsehkritiken. Er wurde Mitglied der Freien Akedemie der Künste in Hamburg, Präsident des deutschen P.E.N.-Zentrums, der Akademie der Künste in Berlin und Vorsitzender der Maretin-Niemöller-Stiftung. Doch die Schatten der Vergangenheit holten ihn 2003 ein, als bekannt wurde, dass auch er, der sich immer als überzeugter Nazi-Gegner gegeben hatte, in jungen Jahren Mitglied der Partei gewesen war. Nachkriegskinder wie ich, die sich der „Gnade der späten Geburt“, wie Helmut Kohl einmal so treffend bemerkte, erfreuen, sollten sich vor Verurteilungen wegen einer Parteimitgliedschaft als junger Mann hüten. Aber dass Jens dies zuerst jahrzehntelang verschwiegen und nachdem es publik geworden ist, lange bestritten hat, mindert sein Renommee leider doch beträchtlich.

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Der letzte Krieg ist zu Ende. Endlich sind alle Länder der Erde zu einem allumfassenden Weltstaat vereinigt. Der Preis für den Frieden ist hoch. Der Obrigkeitsstaat setzt alles daran, die Individualität der Menschen auszutilgen und ein Heer von folgsamen, austauschbaren, glücklichen Untertanen zu schaffen. Fünf Jahre nach dem Krieg werden die Kirchen zerstört, zwei Jahre später müssen die ersten Universitäten schließen. Weitere zwei Jahre verdammt das Gesetz über die Kunst alle Dichter, Musiker und Maler zum Schweigen. Dann beginnen die Prozesse.

Zweiundzwanzig Jahre nach Kriegsende hat nur noch ein Häufchen von Individualisten überlebt. Walter Sturm ist der letzte von ihnen. Seine Freunde wurden bereits vor ihm angeklagt und verhaftet. Auch er, der frühere Dozent und Schriftsteller, der sich nur noch mit Nachhilfestunden über Wasser halten kann, erhält eine Vorladung in den Justizpalast. Er wird von verschiedenen Subalternen, angefangen vom Portier und den Wächtern, die ihn begleiten, gegängelt und eingeschüchtert. Die vernehmenden Beamten erinnern an Gestapo- oder SS-Leute. Als Sturm zum Richter geführt wird, ist er bereits einigermaßen weichgeklopft. Der Richter macht Walter Sturm endgültig nach allen Regeln seiner Kunst fertig, bis er ihm aus vorerst unbekanntem Grund das neue Herrschaftssystem auf der Erde erklärt:

Die Stimme sagte: „Es gibt drei Klassen von Menschen auf der Erde, siehst du, drei riesige Klassen. Da ist zunächst die Klasse der Richter. Es gibt sie in jedem Lande und in jeder Stadt. …

Die zweite Klasse – das heißt eigentlich die dritte, aber um der Deutlichkeit willen muß ich jetzt die Reihenfolge vertauschen, womit ich mich freilich sehr ins Unrecht setze - bildet der Stand der Angeklagten. Er ist natürgemäß der bei weitem größte. Die Angeklagten sind die Schuldigen. In dem Augenblick, wo sie Angeklagte sind, ist ihre Schuld offenbar, und sie sind für die höheren Richter als Angeklagte sichtbar." …

Die Stimme des Richters hob sich wieder. "Der Angeklagte bleibt, auch wenn er seine Strafe abgebüßt hat, im Stande des Angeklagten. Ich sagte dir ja, er ist gezeichnet. Er kann sich aber, jedenfalls scheinbar, in die Stufe der Zeugen emporarbeiten. Wenn es ihm gelingt, einen anderen eines Verbrechens gegenüber der Obrigkeit zu bezichtigen, so wird er dadurch zum Zeugen. Es ist also verständlich, daß ein aus der Haft entlassener Angeklagter für die anderen eine außerordentliche Gefahr bedeutet. Andererseits muß der Angeklagte, der einen anderen anklagt und so zum Zeugen wird, darauf gefaßt sein, daß der von ihm Angezeigte, wenn er entlassen ist, alles aufbieten wird, um seinen Ankläger wieder in die alte Gruppe zurückzustoßen. Dies ist der einzige Grund, warum bisweilen Angeklagte an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren: um Rache an ihren Anklägern zu nehmen, deren Namen – das können wir uns seit sechs Jahren leisten, es hat uns sehr viel Mühe gekostet, bis wir uns diesen besonders wichtigen Zug erlauben durften – ihnen mehrfach in den Verhandlungen genannt wird. Es gibt Angeklagte, die die Hölle auf sich nehmen – denn das ist es: nach der Strafe auf die alte Stelle zurückkehren zu müssen -, nur, um auf ihren Ankläger zu treffen. Du siehst, es wird sich einer immer mehr als der andere bemühen, seinen Beruf bis zum letzten ernstzunehmen und das Äußerste zu leisten, was ihm möglich ist. Von Jahr zu Jahr steigen die Arbeitsleistungen. Sie steigen ins Riesenhafte."

Nach seiner Vernehmung wird Walter Sturm entlassen und für den nächsten Tag auf acht Uhr wieder einbestellt. Er besucht seine Freundin Gisela Waltz und erzählt ihr, dass er verhaftet worden ist. Als zwei Wächter vor der Tür stehen und ihn mitnehmen, ist er überrascht, denn es ist noch früh. Noch überraschter ist er, als sie sagen, dass Gisela Bescheid gewusst hätte. Hat sie ihn verraten? Die beiden Wächter stoßen Walter beim Marsch Richtung Justizpalast immer wieder in die Seite und verhöhnen ihn, ob er wohl besoffen ist, weil er schwankt. Sie marschieren durch die trostlos wirkende Stadt.

Im Mondlicht waren die Spruchbänder, die man von Balkon zu Balkon über die schmutzig engen Straßen und Gäßchen gespannt hatte, deutlich zu erkennen. Sie wellten sich im Novemberwind.

„MEHR ARBEIT – MEHR HÄUSER!“
Und auf der Rückseite:
„SCHAFFT DEN ZWÖLF-STUNDEN-TAG!“

Das Plakat an der Ecke Gransow-Gasse und Milchstrße schrie:
„HÜTET EURE GESUNDHEIT!“

Und auf der Rückseite stand:
„WER DURCH EIGENE SCHULD KRANK WIRD, HAT KEIN RECHT AUF ARBEIT:“

Immer wieder die gleichen Worte von den Plakaten herab:
„BROT – WOHNUNG – ARBEIT – GESUNDHEIT!“

Zurück im Justizpalast, wird Walter bei der nächsten Vernehmung über seine Freundin ausgefragt und seine Worte werden ihm solange im Mund umgedreht, bis die Aussage herausinterpretierbar ist, dass auch sie Staatsfeindin ist. Walter Sturm wird in einen Sammelraum mit fünf anderen Angeklagten gelegt, die einander allesamt misstrauisch beobachten, weil sie glauben, dass unter ihnen ein Spion der Staatsmacht ist. Auch Walter wird verdächtigt, weil er im Unterschied zu den anderen Gefangenen seine Uhr anbehalten durfte. Am nächsten Tag wird er auf Anordnung des Richtes durch das Gebäude geführt und sieht die Zellen und Vorrichtungen, in denen Angeklagte teilweise bis zum Tode gemartert werden. Schließlich wird er wieder zum Richter geführt.

„Jetzt sehen Sie“, sagte der Richter, „daß ich meine lange Rede gestern nicht umsonst gehalten habe. Sie haben einen Menschen angeklagt, Walter Sturm. Sie selbst sind kein Angeklagter mehr, Sie sind ein Zeuge. Sehen Sie, darum ließ ich Sie noch einmal herkommen. Ich wollte Ihnen Gelegenheit geben, ein Zeuge zu werden. Sie haben sehr klug gehandelt“. …

„Ich widerrufe!“ sagte Sturm.

„Ich habe es mir gedacht“, sagte der Richter. „Sie können widerrufen, aber ich möchte Ihnen sagen, daß es nichts nützt. Ihre Aussage ändert an der Verurteilung ihrer Freundin nichts mehr.“

Am nächsten Tag wird Walter Sturm unter Begleitung eines jungen Beamten zu Gisela geschickt. Sie trägt die Spuren einer Behandlung durch die Staatsmacht. Walter gesteht ihr, dass ihm eine Aussage zu ihren Ungunsten entlockt worden ist und erbittet ihre Verzeihung. Sie schickt ihn mit der Aussage weg, dass es genug ist. Als um fünf Uhr zwei Wächter der Staatssicherheit anklopfen und sie zum nächsten Verhör mitnehmen wollen, ist sie bereits tot. Sie hat Gift genommen.

Walter wird ein letztesmal zum Richter geführt, der ihm erklärt, dass er ihn schon jahrelang beobachtet und zu seinem Nachfolger designiert hat. Doch dieses Mal widersteht er dem Würgegriff der Staatsmacht und sagt NEIN. Letzte Amtshandlung des alten Richters ist, den Angeklagten zu erschießen, bevor auch er tot zu Boden sinkt, am Schluss seines Lebens im Dienst des Staates an der Übergabe seines Amtes gescheitert. Doch der letzte Individulist ist tot, und Milliarden von Lebewesen auf dem Planeten führen ihr eintöniges, freudloses Leben weiter. Sie sind Angeklagte, Zeugen oder Richter. Früher nannte man sie Menschen.

Der Roman erhielt überaus freundliche Kritiken. Die Rezensenten wiesen auf den Einfluss von Kafka hin, was stimmte, und auf den von Orwell, den Jens aber überhaupt nicht kannte. Der Vergleich mit Orwell ist aber durchaus angebracht. Nein. Die Welt der Angeklagten reiht sich würdig in die Reihe der großen Antiutopien des zwanzigsten Jahrhunderts neben Wir von Jewgenij Samjatin, Schöne neue Welt von Aldous Huxley sowie 1984 und Farm der Tiere von George Orwell ein.


Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Bibliografie

Deutsche Erstausgabe

Walter Jens: Nein. Die Welt der Angeklagten
Hamburg/Stuttgart/Baden-Baden 1950, Rowohlt Verlag

Für diesen Artikel verwendete Ausgabe

München 1977, Wilhelm Heyne Verlag, Das besondere Taschenbuch 3


Übersicht aller Artikel:

13.09.2018 Franz Kafka: Der Prozess & Das Schloss
04.10.2018 Alfred Kubin: Die andere Seite
18.10.2018 Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten
01.11.2018 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel
15.11.2018 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen
29.11.2018 Gerhart Hauptmann: Die Insel der großen Mutter
13.12.2018 Ernst Jünger: Heliopolis & Gläserne Bienen
27.12.2018 Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom & Das große Netz
10.01.2019 Walter Jens: Nein. Die Welt der Angeklagten
24.01.2019 Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik & KAFF auch Mare Crisium
07.02.2019 Marlen Haushofer: Die Wand
21.02.2019 Günter Grass: Die Rättin

 

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