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Heyne Science Fiction Classics 52 - Philip George Chadwick

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 52: Philip George Chadwick
Die Todesgarde

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

Im Sommer 1940 begann die Luftschlacht um England. Hitler versuchte mit allen Mitteln, die Luftherrschaft auf der Insel zu erreichen und damit die Kapitulation des Britischen Empire zu erzwingen. Eine damals kaum registrierte Episode dabei war, dass auch das Auslieferungslager des Verlages Hutchinson getroffen und dabei fast die gesamte Erstausgabe des Buches The Death Guard vernichtet wurde, welche einen grauenhaften künftigen Krieg zwischen Großbritannien und den europäischen Mächten schildert, in dem künstlich erzeugte Soldaten kämpfen. Der Roman ging somit in den Wirren des Krieges unter und wurde erst Jahrzehnte später wiederentdeckt. Eine Neuausgabe erschien 1992, welcher ein Vorwort des kenntnisreichen Autors, Herausgebers und SF-Historikers Brian W. Aldiss vorangestellt wurde. Diese Ausgabe war die Grundlage für die in der Heyne SF-Reihe 1994 herausgegebene deutsche Übersetzung. Über den englischen Autor Philip George Chadwick (1893 – 1955) ist kaum etwas bekannt. The Death Guard war sein einziger Roman, der stark durch die Hunderttausende verschlingende Blutmühle an der Westfront im Ersten Weltkrieg beeinflusst war. Er verfasste auch einige Kurzgeschichten. Chadwick war ein Mitglied bei den Fabiern, einer britischen Organisation, die den Sozialismus auf friedlichem Weg einführen wollte und großen Einfluss auf die Labour Party hatte, später auch Aktivist der Unabhängigen Linken. Er war Anhänger von H. G. Wells, von dem man seinerseits sagte, dass er seinerseits von Chadwicks Buch begeistert war. Nachdem das Buch aber unter den geschilderten Umständen verschollen war, glaubte man lange, es sei nur ein Produkt von Wells' übersteigerter Phantasie.

Heyne Science Fiction ClassicsDas Buch enthält die Aufzeichnungen von Gregory Beldite, des Enkels von Edom, dem Gründer der gleichnamigen Werke, in denen das Verhängnis seinen Anfang nimmt. Edom entdeckt zufällig am Straßenrand Goble, einen heruntergekommenen, demobilisierten Soldaten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Er erkennt, dass der heimatlose Goble ein intelligenter Mann mit seltsamen Ideen ist und nimmt ihn mit auf sein Landgut. Aus dem vorläufigen Aufenthalt von Goble wird ein dauernder. Goble ist ausgebildeter Biochemiker und hat die Idee, den Schrecken des Krieges ein für alle mal ein Ende zu machen, indem England eine unbesiegbare Armee aufstellt, der niemand gewachsen ist.

„Millionen von uns, die ihr ganzes Leben mit Erfinden und Herstellen zugebracht haben, und als der Krieg ausbrach, gab es in all den Ländern nicht einen, der irgend etwas herzustellen vermochte, was das Kämpfen für ihn erledigt hätte. Mit all unseren Panzern und Gewehren und Flugzeugen mußten wir unsere eigenen armseligen, schwächlichen Körper an die Front schleppen, um zu verteidigen, was wir erschaffen hatten; mußten wir zulassen, daß wir in genau die Maschinen verwandelt wurden, die wir anders nicht herstellen konnten. Als versuchte man, Fensterkitt einzuschmelzen!

Da war diese gewaltige Kriegsmaschinerie, die alles verschlang, was sie finden konnte. Gehirne, Geld, Opferbereitschaft, und alles letztendlich abhängig von uns schlecht angepaßten, kriecherischen kleinen Zweibeinern, Wesen, die im wesentlichen fürs Leben gedacht waren und nun versuchten, gefühllose Teilchen der Todesmaschine zu sein! Jeder Kunstgriff, jede Wissenschaft wurde angewendet und vergeudet – mit Ausnahme der grundlegendsten aller Wissenschaften, der Biologie. Niemand dachte daran, nicht einmal ich. Da stand ich nun mit meinem ganz aufs Leben ausgerichteten Bewußtsein, aufs Leben an seiner eigentlichen Wurzel, und um mich herum studierte und produzierte die Welt den Tod. Ich sah die Querverbindungen nicht! Ich hätte die beiden Elemente kombinieren und ein Lebewesen erschaffen sollen, das töten wollte, das im Töten schwelgte und das nicht beim ersten Stoß sterben würde.“

(Zitiert aus: Philip George Chadwick: Die Todesgarde. München 1994, Heyne SF 5140, S. 38f)

Nach jahrelangen Versuchen gelingt es Goble, künstliches Leben zu erschaffen. Nachdem von einer Haushälterin Gerüchte ausgestreut werden, die nicht nur den Pfarrer alarmieren, übersiedelt das ganze Forschungslaboratorium aus Klima- und Geheimhaltungsgründen nach Belgisch-Kongo, wo ein großes Lager aus dem Boden gestampft wird, in dem neben den führenden Europäern eine Menge schwarzer Arbeiter schuften. Dies ist ein großer Kritikpunkt am Buch, denn der Autor begegnet den Afrikanern mit unverhohlenem Rassismus und stellt sie als ungebildete, abergläubische Halbmenschen dar, welche in den seltsamen Gestalten, welche gezüchtet werden, ihre Brüder sehen. Das Team im Kongo wird durch Professor Dax verstärkt, der seine fachliche Expertise einbringt, auch die hohe Politik in Gestalt des Ehrenwerten Sirs Rupert Vessant, eines hochrangigen Beraters der britischen Regierung, steigt in die Produktion mit ein. Goble gelingt es tatsächlich, entfernt menschenähnliche Gestalten zu erschaffen. Die Ähnlichkeit ist aber nur äußerlich, denn die Möpse, wie sie genannt werden, oder auch nur „Fleisch“, haben kein Hirn, und durch ihre pflanzenähnliche Körperzusammensetzung sind sie fast unverwundbar. Sie sind aber durch äußere Reize konditonierbar und werden zu einer schrecklichen Armada herangezogen – sie sind Die Todesgarde. Gregory Beldite reist nach Kongo und arbeitet als Malocher beim Aufziehen, der Konditionierung und Fütterung der Möpse mit, und bekommt so Einblick in das grausige Geschehen.

Ich nehme an, daß ich während meines Aufenthalts in der Fleischfabrik alle Stadien des Vierzehnten Prozesses und der Ausrüstung der Garde bis zur „Einsatzbereitschaft“, wie wir es nannten, durchlief. Ich lernte, wie der „Ketchup“, von dem sich die Einheiten ernährten, getestet wurde, wie ich feststellen konnte, ob er frisch war und ihm die Kühlung nicht geschadet hatte und wie er für den Versand neu abgefüllt wurde; ein paar Tage lang half ich bei den Zuchtbecken aus (bei Nacht hin und wieder zurück) und beobachtete das Wunder einer schaumig aussehenden Flüssigkeit, die sich aus Tanks in flache Bottiche ergoß, unter der chemischen Behandlung sprudelnd und schäumend zu kugelförmigen, lebenden Organismen wurde, gefühllos wallend und kämpfend und sich gegenseitig verzehrend, sich ständig gegenseitig verzehrend, bis die Sieger dieses Verdauungswettbewerbs in einem bestimmten Wachstumsstadium durch eine Art Abfluß ausgelassen und getrennt wurden und jeder in seinen eigenen Brutkasten kam. Dort begannen sie Gestalt anzunehmen, streckten sie rudimentäre Gliedmaßen in die Wärme hinaus wie stachellose Kakteen, wurden fett und schwollen an und verwandelten sich vor unseren Augen in Möpse.

(Zitiert aus: Philip George Chadwick: Die Todesgarde. München 1994, Heyne SF 5140, S. 192f)

Eine erste große Krise gibt es, als ausgekommene Möpse im Kongo ein Massaker unter Einheimischen einrichten und die belgische Regierung eine öffentliche Untersuchung sowie eine Entschuldigung des Empire und die Schließung des Lages verlangt. Die Europäer schließen sich wegen der manifest gewordenen Bedrohung durch die künstlich erzeugten Soldaten zusammen und rüsten gegen das Empire auf, ein erneuter großer Krieg droht. Als der Konflikt wirklich ausbricht und die Angreifer mit enormen Kräften eine Invasion auf der britischen Insel starten, marschieren die Kolonnen der Todesgarde aus ihren Fabriken und Depots.

„Allmächtiger! Was für Männer!“ hab ich gesagt.

Und dann seh ich, daß es gar keine Männer waren.

Ich sag Ihnen, ich konnt's nicht glauben. Ich habe meinen Augen nicht getraut. Ich hab nicht mal meine Pfeife anzündet! Ich stand da – wie vom Schlag gerührt, konnt aber immer noch sehen. Die Soldaten gingen an mir vorbei, Dreikäsehochs von Jungen mit weißen, verängstigten Gesichtern, die aussahen, als hätten sie mit ihrem Leben schon abgeschlossen. Dann gingen die andren vorbei. Drei Fuß waren sie von mir entfernt, gerad über den Gehsteig rüber, ihre eisernen Schuhe schlugen Funken aus der Straße, als sie vorbeischlurften, ihre ekligen Körper glänzten von Schweiß, und geatmet haben sie – wie war das noch? Hu-ah, hu-ah. Das furchtbarste Geräusch, das Gott je zugelassen hat. Tiere, das war'n sie, aber schlimmer als jedes Tier, das je gelebt hat. Sieben Fuß hoch! An manchen Stellen mit matter Panzerung ausstaffiert, zwischen der das Fett hervorquoll, die schweinsartigen Gesichter auf ihre dicken Hälse gesenkt, und die Augen – wenn man Augen dazu sagen will – glasig und irgendwie wie tot.

(Zitiert aus: Philip George Chadwick: Die Todesgarde. München 1994, Heyne SF 5140, S. 253f)

Sie sind weder durch Schrapnell noch durch Giftgas aufzuhalten und wälzen die Invasoren nieder. Ein beispielloser Schrecken überzieht das von erbarmungslosen Luftangriffen geschundene Land, in dem die Menschen reihenweise durch die Bomben und elektrisch geladenes Gas umkommen. Doch die Todesgarde muss gefüttert werden, denn bekommen sie nicht ihren ketchupähnlichen Brei, verstreuen sie sich wild und massakrieren die Einheimischen mit ihren Quartspießen genauso wie die Angreifer, denn sie können Menschen nicht wirklich unterscheiden. Nur die Spezialisten, die mit ihnen umgehen können, haben eine Überlebenschance. Die Waffe richtet sich gegen die Nation, die sie losgelassen hat. Mehr noch: Ein getöteter Mops ist nichts anderes als eine riesige Samenkapsel, aus der wieder seltsames Leben entsteht. Es sind Neoblasten, die nicht wie ihre „Eltern“ einem strengen Aufzuchtverfahren unterliegen, sondern wildes Fleisch sind, welches das Land terrorisiert und Mensch und Vieh gleichermaßen frisst. Nur mit Flammenwerfern kann dieser Seuche begegnet werden.

Der Krieg eskaliert weiter, Großbritannien verwandelt sich in ein zerbombtes, verwüstetes und ausgeblutetes Land, in dem jeder nur noch um das nackte Überleben kämpft. Die Alliierten stellen dem Empire ein Ultimatum, welches mit der Drohung beantwortet wird, mit Transportflugzeugen riesige Kontingente der Todesgarde auf dem Kontinent abzusetzen, was die Vernichtung Europas bedeuten würde. Erste Flieger sind bereits in Flandern gelandet, dem Schlachtfeld des Ersten Großen Krieges, die Bataillone der Todesgarde stampfen vorwärts. Gregory als Erben der Dax-Beldite-Werke gelingt es, in die unterirdische Kommandozentrale in London einzudringen, den eigentlichen Befehlshaber Vessant auszuschalten und Verhandlungen mit dem alliierten Oberbefehlshaber zu führen, die mit einem für beide Seiten tragbaren Frieden enden. Man macht sich auf, alle „Brüder“, welche durch das Land ziehen, zu verbrennen und so die Erde von dieser Heimsuchung zu reinigen.

Wie kaum ein anderes Buch warnt der Roman vor den Schrecken des Krieges und vor den Möglichkeiten, welche eine von allen ethischen Überlegungen befreite, „wertfreie“ Wissenschaft totalitären Regimes bietet. Hier ist nichts von der „gemütlichen“ Katastrophe zu spüren, wie man sie in manchen Romanen von britischen Landsleuten Chadwicks, beispielsweise John Wyndham oder R. C. Sherriff, erfahren kann. Auf der Rückseite der deutschen Ausgabe von 1994 steht „Ein echter verschollener Klassiker der englischen Science Fiction Literatur, entstanden am Vorabend des Zweiten Weltkriegs“. Dem ist nur wenig hinzuzufügen, außer dass der Roman in Wirklichkeit bereits kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges geschrieben wurde, aber erst 1939 zwischen zwei Buchdeckel kam. Er hätte auch perfekt in die Heyne Science Fiction Classics gepasst, doch diese Reihe war bereits seit 1987 eingestellt. Das ist Grund genug, den Roman hier noch zusätzlich zu den in der Classics-Reihe erschienenen Titeln zu präsentieren.

 

Bibliographie

Anmerkung:
Es werden die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics sowie die Originalausgabe des Werks angeführt.

1994


5140 Die Todesgarde
Originalausgabe 1939 als The Death Guard


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Tags: Science Fiction and Fantasy

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