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Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914 - 3. Die Themen

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Der viktorianische Schrecken
Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914
3.
Die Themen

Im Sommer 2022 habe ich Haus des Buches in Leipzig zum Thema einen Vortrag gehalten.

Fest entschlossen, das ganze als Lesefassung zu verschriftlichen, fiel mir beim Umarbeiten, wie das immer so ist, noch so viel ein, dass das ganze jetzt für einen Mehrteiler reicht...

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-19143. Die Themen
Im zweiten Teil habe ich zwei wichtige Aspekte aufgezeigt, die es ermöglichten, Horror-Literatur im viktorianischen England „hoffähig“ zumachen: Die frühe Etablierung von solchen Geschichten in respektablen, ja konservativen Magazinen wie „Blackwood's Magazine“ und der starke Anteil schreibender Frauen – und entsprechend vieler Leserinnen. Aber warum fielen diese Geschichten überhaupt auf so fruchtbaren Boden, warum waren sie so beliebt bei den Lesern und führten kein Nischendasein?

Ein Grund ist die Tatsache, dass es sich bei der jener Ära um ein positivistisches und wissenschaftsgläubiges Zeitalter handelte. Der technische Fortschritt boomte in schwindelerregender Weise. So wie wir heute ungläubigen Kindern von Zeiten erzählen, in denen es kein Internet gab, erzählten Eltern ihren Kindern, dass sie noch in der Kutsche gefahren sind, was die eisenbahnverwöhnten Gören vermutlich damals auch ziemlich ungläubig zur Kenntnis nahmen. (Der Eisenbahnboom begann in den 1840ern, bereits 1860 war das grundlegende Schienennetz in Großbritannien so gut wie komplett.) Die rasante wissenschaftlich-technische Entwicklung führte – nicht unähnlich unserem Zeitalter - zu dem Irrglauben, nur das Meßbare, Sichtbare, Logische, Beweisbare habe ein Existenzrecht. Das Lächerlichmachen oder Verfolgen der Irrationalität und der nicht-wissenschaftlichen Fabulierungskunst führte logischerweise zum Abwandern in verschwörungstheoretische Ecken, Aberglauben, oder aber erfreulicherweise auch in eine kreative Literatur, in der sich die Ängste und das Unbehagen am rationalistischen Fanatismus in düsteren Erzählungen Luft machte. Dort, dort, in der Fiktion,  konnte man ungestört zu seinen Ängsten stehen, die man sonst vielleicht verdrängte.

So ist kein Zufall, dass ein zentrales Thema der populären Schauerliteratur gegen Ende des 19. Jahrhunderts völlig identisch mit einer unserer Ur-Ängste ist: Die Furcht vor der KI, der Künstlichen Intelligenz.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Ein Musterbeispiel für diese KI-Angst ist Gulls & Bacchus' „Abenteuer des pfeifenden Omeletts“  (1899), eine äußerst brutale Horror-Erzählung, durchaus eine Vorahnung auf die berüchtigte „Saw“ – Filmreihe. Ein armer Mann wettet mit einem exzentrischen reichen Erfinder, daß er drei Tage in dessen „automatischen“ Schreckenshaus überlebt, in dem sich, wie sich herausstellt, haufenweise „intelligente“Fallen befinden: Stöcke, die nach ihm schlagen, Teller, die ihm das heiße Essen entgegenschleudern, Falltüren, zermalmende Betten – das Grauen des vollautomatisieren Hauses, das sich gegen den Bewohner wendet, wird hier beklemmend inszeniert – eine Zukunft, in der automatisierte Abläufe sich in einen Alptraum umkehren, wird heraufbeschworen. Ein ähnlich eindrucksvolles, wenn auch amerikanisches Beispiel ist „Moxon's Master“ von Ambrose Bierce, (1899) in dem der Schöpfer eines Schachautomaten von der Maschine getötet wird, weil er ihn im Schach besiegt. Der entsetzte Zeuge und Ich-Erzähler realisiert, daß die Maschine so hochgezüchtet wurde, daß sie unbemerkt Emotionen aufbauen konnte. Am nächsten kommt wohl heutigen Ängsten

E.E. Kelletts Geschichte „The Poet Malgre Lui“ (Der Poet wider Willen, 1901) über einen Deep Fake erster Klasse – ein Erfinder baut einen Computer, der dröge Prosa in erstklassige Lyrik verwandelt.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Einen anderen Aspekt der viktorianischen Ära lieben wir so sehr, dass wir auch heute noch allzu gerne zu ihm zurückkehren. Nicht selten spielen auch heutige Romane mit der Ära der großen territorialen und archäologischen Entdeckungen. Damals war das alles noch frisch und unreflektiert, etwa die Angst vor der Fremdartigkeit anderer Kulturen, die durch Expeditionen in den Kolonien heraufbeschworen wurde, Fluch-Mythen aus Ägypten, die in den 1870ern populär wurden (also lange vor der Fluch-Hysterie der 20er Jahre) die Mumienfurcht (erste Mumien waren nun in Londoner Ausstellungen zu sehen, oder die Touristen sahen sie in Ägypten selbst), Angst vor unberechenbaren Ureinwohnern, die Amok liefen oder heidnische Götter beschworen,  und natürlich eingeschleppte Krankheiten – die Angst vor Pandemien spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Eine der populärsten Ängste und das vielleicht älteste Thema des viktorianischen Horrors überhaupt war die Angst vor dem Wahnsinn. Dass sie eine so große Rolle spielt, liegt auf der Hand – in einer stark normierten, rationalistischen Zeit, in der genau festgelegt scheint, wie Vernunft aussieht, war einerseits die Angst groß, für wahnsinnig gehalten zu werden und in düsteren Irrenanstalten zu verrotten, aber natürlich auch, Wahnsinnigen zu begegnen, Serienmördern etwa, die ohne rationale Erwägungen töten.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Beide Ängste waren so unbegründet nicht – Intrigen, in denen etwa lästige Verwandte in Irrenhäuser verfrachtet wurden, kochten in Sensationsprozessen hoch, und spätestens seit Jack the Ripper (1888) war die Angst vorm verrückten Serienmörder populär. Zwei Mega-Bestseller, die mit der Wahnsinns-Angst spielen, seien hier erwähnt, zum einen natürlich „The Woman in White“ (1859) von Wilkie Collins, der Sensationsroman der 1860er schlechthin, noch radikaler greift Charles Reade das Thema in „Hard Cash“ (1863) dem eigentlichen spannenden Irrenanstalt-Thriller jener Tage. Reade, der Techniken Döblins vorwegnahm und als einer der ersten mit pseudorealistischen Elementen spielte wie Zeitungsausschnitten und Gerichtsprotokollen – verstärkte durch seine scheinbar „hautnahe“ Berichterstattung den Schrecken noch und ließ ihn real erscheinen.

Und bezeichnenderweise wird auch einer der ersten Zeitreisenden der viktorianischen Literatur für verrückt gehalten. Man verfolgt ihn, und er nimmt sich das Leben, weil ihm keiner glaubt (Grant Allen, Pausodyne 1881).

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914In der spätviktorianischen Ära kommt dann noch eine typische Jahrhundertwende-Angst vor dem Weltuntergang hinzu. Populär war die Bedrohung durch durch Kometen oder Meteore, die genährt war durch zwei echte, damals als Bedrohung empfundene kosmische Ereignisse, von denen man im Voraus wusste, daß sie eintreten würden: der sogenannte Leoniden-Sturm von 1899 (Eintritt in eine besonders dichte Meteor-Wolke), und die Annäherung an den Halleyschen Kometen 1910. Beides verlief dann in der Realität harmlos, aber hinterher ist man ja immer schlauer. Beim Halleyschen Kometen befürchtete man übrigens nicht so sehr einen Zusammenstoß, sondern das Eintauchen der Erde in den giftigen Schweif. Schreckensvisionen von einer vergifteten Menschheit tauchten auf, am suggestivsten wohl ausgemalt in Arthur Conan Doyles Bestseller „Im Giftstrom“ (1913). Dass solche Ängste durchaus nicht unberechtigt waren, zeigt das Tunguska-Ereignis von 1908, bei dem (vermutlich) ein kleiner Komet in der sibirischen Taiga einschlug und verheerende Schäden anrichtete.

Aber auch die Umweltverschmutzung spielte schon eine Rolle bei Weltuntergangsphantasien, etwa in Robert Barrs Erzählung „The Doom of London“ (1894) , in der die Londoner Bevölkerung im Smog-Nebel erstickt – auch kein wirklich realitätsfremdes Szenario…

Berühmt wurde auch die virtuose gleichnamige Geschichtenreihe „The Doom of London“ von 1903 von Fred M. White, in der er London sechsmal auf verschiedene Weise untergehen läßt.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Andere später populäre Themen erleben ihre Premiere in dieser Ära wie menschenfressende Pflanzen (herausragend ist hier „Carnivorine“ von Lucy Hooper, 1889). Das neue Subgenre des Eisenbahnhorrors hatte schon recht früh, Ende der 1850er Jahre, Einzug in die Literatur gehalten – nicht nur Geister längst verstorbener, meist ermordeter Fahrgäste spielten eine Rolle in diesem wichtigen Subgenre, sondern auch die Angst vor Entgleisungen – leider eine durchaus reale und häufige Gefahr, die auch for den Eleven der Literatur nicht haltmachte.  Charles Dickens höchstselbst kam 1865 bei der Staplehorst-Katastrophe nur knapp davon und verarbeitete ein Jahr später seinen Schock in der Horror-Erzählung „The Signalman“. Dickens erholte sich nie ganz von dem Zwischenfall – Dan Simmons machte später die Staplehorst-Entgleisung zum Ausgangspunkt seines Horror-Romans „Drood“ (2009), der viele Horror-Aspekte der viktorianischen elegant wieder aufgreift.

Ein später Höhepunkt des Eisenbahnhorrors war Edgar Wallace's Entgleisungsorgie „The Barford Snake (Die Serpentine von Barford, 1909), eine Geschichte über eine berüchtigte Schienenkurve, in der es auf unheimliche Weise immer wieder zu desaströsen Entgleisungen kommt.

Allmählich gerät hier mein Versuch, den vielfältigen Horror der Ära zu rubrizieren, ins Stocken, denn vieles ist so einzigartig und bizarr, daß es sich eben nicht rubrizieren läßt – diese Einfälle stehen gesondert für sich. Mein Kollege Scott Pell, ein leidenschaftlicher Hobby-Jäger nach unbekannten viktorianischen Horror-Geschichten, schreibt oft über seine schiere Fassungslosigkeit beim Lesen, da tauchen Storys auf, die so bizarr sind, dass sie selbst heute in Zeiten wirklich schräger Serien, Comics und Romane verstören: eine schöne Dame, die eine lebende Tarantel als Brosche trägt, ein verrückter Forscher, der ein abscheuliches Saugrüssel-Monster aus elektrischer Energie gewinnt (natürlich wird er von ihm gefressen), intelligente Dschungelinsekten, die einen Professor der Etymologie entführen, um Experimente an ihm durchzuführen und vieles mehr.

Es tauchen auch erstmals Elemente auf, die sogar genrebildend werden sollten.

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Guy Boothbys Romanreihe „Dr. Nikola“ etwa bringt 1895 das erste Mal den omnipotenten satanischen Magier, der die Welt beherrschen will, auf den Markt - das Urbild für viele Superschurken im Comic! Und natürlich wäre die schon erwähnte Erfindung des Lost-Race-Romans, der Prototyp der vielen Geschichten von uralten Zivilisationen in abgelegenen Winkeln der Erde (oder im Erdinnern) , wie er von Haggard und Milford geprägt wurde. Und nicht zuletzt der Zukunfskriegsroman, dessen Reigen mit Chesney's „Battle of Dorking“ 1871 beginnt.

Rhoda Broughton liefert 1872 den ersten Horror im modernen Stephen Kingschen Sinne. Urban und gleichzeitig abgrundtief böse ist „Der Nasenmann“. (The Man with the Nose“)

Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914Ein Pärchen ist auf Hochzeitsreise in Deutschland, sie entwickelt paraniode Züge und glaubt sich stets verfolgt von einem Mann mit einer hässlichen Nase. Der verfolgt sie bis nachts in die Hotelzimmer. Der junge Ehemann sieht nichts und glaubt natürlich an eine Überspanntheit seiner Frau - doch irgendwann ist sie verschwunden, und an der Rezeption sagt man ihm, ein Mann mit eigenartiger Nase hätte seine Frau abgeholt.

Die Liste ließe sich lange fortsetzen – war ich im letzten Teil auch noch tun werde.

Ach ja richtig – Gespenstergeschichten, die auf klassischen Schlössern und in verlassenen Häusern spielen, gibt’s natürlich auch. Zuhauf.

Die Übersicht
1. Das bekannte Erbe
2. Maga und die Frauen
3. Themen
4. Dickens, Weihnachtsgrusel und Moral
5. Golden Age und Niedergang
6. Das unbekannte Erbe
7. Gratis-Storysammlungen bei mobileread und RGL. Eine Liste

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