Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914 - 5. Golden Age und Niedergang
Der viktorianische Schrecken
Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914
5. Golden Age und Niedergang
5. Golden Age und NiedergangWie erwähnt, kam aber der eigentliche kreative Schub in Form und Inhalt in den 1890er Jahren. Warum war das so?
Die Massenpresse hatte gewaltige Forstschritte gemacht. Nicht nur die Technik gab effektive Möglichkeiten her, schnell und preiswert hochwertige Magazine zu produzieren.
Lesehunger der Briten war enorm gewachsen, auch in den unteren Schichten. Das war die Frucht eines intensiven Bildungsprogramms der britischen Regierung. Lasen bis in die 1880er Jahre hinein vor allem Gebildete, konnten nun weite Teile der Bevölkerung lesen, auch das Dienstpersonal, oder die Landarbeiter - und das taten sie auch.
Populär-literarische Magazine gabs, wie erwähnt, die ganze viktorianische Ära hindurch, doch nichts kam dem Boom der 1890er gleich, als die moderne Illustrierte erfunden wurde. Die historische Bedeutung der neuen britischen Illustrierten lag nicht in ihrem Bilderreichtum, wie man oft liest. Technisch waren die Amerikaner den Briten in dieser Hinsicht längst überlegen. Harper's Magazin und die junge Cosmopolitan ließen in dieser Hinsicht nichts zu wünschen übrig, das Modell wurde denn auch bald im Ausland erfolgreich kopiert.
Doch anders als in Großbritannien hatten die amerikanischen Verleger ein ausgesprochen skeptisches Verhältnis zum Horror und der Sensationsliteratur. Der halbseidene Dime-Novel-Markt boomte und brachte wöchentlich reißerische Geschichten. Davon wollte man sich geflissentlich in den „seriösen“ Blättern distanzieren. Bis etwa 1910 galten die Genres Krimi, Horror und Phantastik als anrüchig, man bevorzugte „saubere Literatur“, wie man das nannte.
Man könnte denken, daß das junge Medium Pulp fiction sich nun begeistert auf die Phantastik stürzte, um einem möglichen Leserbedürfnis in den USA entgegenzukommen. Doch weit gefehlt – in dieser Frage gaben sich diese Blätter noch konservativer als die „seriösen“ Hochglanzmagazine. Der Grund: Die Ratten verließen das sinkende Schiff. Anders als in Deutschland ging der Heftroman ab 1910 den Bach runter, man wollte von diesem Strudel nicht mitgerissen werden und distanzierte sich heftig gegen alles, was an die „Dimes“ erinnerte. Das niedrige Niveau des Horrors in diesen Heften wirkte wie Gift, und die Pulps wollten damit nichts zu tun haben. Mit Ausnahme des Munsey-Konzerns hielt man sich bis 1920 zurück. Munsey hatte viel Geld mit Burroughs Tarzan gemacht, dort lachte der Dollar, und so blieb die Phantastik auf diese Magazine des Konzerns wie All Stoy oder Argosy beschränkt.
Der Umstand, daß 1923 in den USA mit „Weird Tales“ in Magazin speziell für Horror und Dark Fantasy auf den Markt kam, war also der Tatsache geschuldet, daß es kaum ein anderes Magazin gab, das so etwas drucken wollte.
Die Briten brauchten solch ein Magazin nicht. Solche Geschichten waren in Großbritannien stets willkommen und hatten eine Akzeptanz in der breiten Bevölkerung wie sonst nirgendwo in der westlichen Welt. Anders als in den USA entsprangen die neuen Magazine um 1890 nicht etwa dem Bedürnis der Autoren, sich freier artikulieren zu können, sondern dem Druck Lesemassen, denen es einfach zu wenig erschwingliche gute Spannungsliteratur auf dem Markt gab. Das neue Potenzial der Illustrierten lag also vor allem in der Unzahl guter phantastischer Autoren, die plötzlich eingeladen und ermutigt wurden, für akzeptable Summen so viel Horror-Literatur zu schreiben, wie sie wollten – deswegen ist diese Ära in England ein Eldorado dieses Genres.
Die eigentliche Revolution mit begann 1891 mit der Gründung des Strand Magazine, ein Magazin, das sofort fast ausschließlich auf Kurzgeschichten und Spannungsliteratur setzte. Die ersten Ausgaben bis zum Sommer des Jahres brachten wenig Bemerkenswertes (meist Übersetzungen ausländischer Geschichten), bis die ersten Sherlock Holmes-Stories zu erscheinen begannen. Das war eine doppelte Sensation – nicht der Privatdekektiv an sich war neu, wenn auch Holmes ein so besonderer Detektiv war, daß er alles Bisherige in den Schatten stellte. Entscheidender war die Erfindung der Serie und der Serien-Staffel. Daß ein Held in einer Reihe von Kurzgeschichten staffelweise auftritt, was Doyles großer Beitrag für die Moderne. Diese Staffeln hatten in der Regel 12 Folgen, manchmal auch 10, die hintereinander in den Ausgaben folgten.
Solche Staffeln wurden dann auch wichtig für die frühe Horrorliteratur. Ab den späten 1890ern kamen die Geisterjäger in Mode, die Okkult-Detektive, also gewissermaßen die Vorläufer von John Sinclair & co. Es gibt eine sehr schöne sechsbändige Ausgabe mit solchen Klassikern im Choachwhip Verlag, leider teilweise schon wieder vergriffen. Dort werden einige der Reihen vorstellt. Mit dabei zwei Klassiker: „Carnacki, The Ghostfinder“ (1910-12) von William Hope Hodgson und der erste Serien-Geisterjäger überhaupt, Flaxman Low (1898-99) von Hesketh and Kate Pritchard, die unter einem Pseudonym schrieben. Das war übrigens kein Ehepaar, sondern ein Mutter-Sohn-Team, äußerst selten in der Literaturgeschichte.
Diese Detektive waren eigentlich schon typische Sinclairs oder Larry Brents, die wurden gerufen, um unerklärliche Phänomene aufzuklären, was sie dann nach überlegener Holmes-Manier auch taten. Sie blühten dann auf in den 1910er Jahren, wo die Geisterjäger ihren Höhepunkt hatten, zum Teil in äußerst einfallsreichen Serien. Nicht immer waren diese Fälle wirklich übersinnlich, es gab auch das Entlarven von Betrügern – besonders populär war eine kleine Detektiv-Reihe, in der ausschließend Scharlatane überführt wurden wurden. In L. T. Meads (das ist wieder mal, wen überraschts, eine Frau) „John Bell, the Ghost Exposer“ waren die Betrüger so genial und einfallsreich, daß die Serie im Grunde zur originellen frühen SF gehört, sie arbeiteten mit gigantischen Magneten oder komplizierten Mordmaschinen.
Natürlich begann sich nach 1900 die klassische Ära der dunklen Phantastik dramatisch und erfreulich weiterzuentwickeln, dazu gehören die frühen Arbeiten von E. F. Benson, einer der vielseitigsten Horror-Autoren der Zeit, und M.R. James, der zu einer Art E.T.A. Hoffmann der Briten wurde und mit seinen verschrobenen Geschichten, in denen oft alte Bücher, Gelehrte und Bibliotheken eine wichtige Rolle spielten, viele spätere Autoren beinflußte.
Arthur Macken und Algernon Blackwood erkundeten die Dark Fantasy neu und arbeiteten viel mit Naturkräften, heidnischen Ritualen und Gottheiten. Diese Autoren sollten H.P. Lovecraft stark inspirieren.
Nicht vergessen sollte man auch einige Nachzügler von H.G. Wells in dieser Zeit wie „Die ersten Menschen auf dem Mond (1901)“ und „Die Riesen kommen“ (1904), einer seiner besten Romane, wo durch ein fehlgelaufenes Experiment die Insekten auf gigantische Dimensionen anwachsen und später auch Menschen mit dem manipulierten Nahrungsmittel in Berührung kommen, was fatale Folgen hat.
Der Boom, die eigentliche goldene Ära der britischen unheimlichen Literatur lag in den 20 Jahren zwischen 1890 und 1910. Seltsamerweise machte nicht der 1. Weltkrieg 1914 dem florierenden Markt ein Ende, was nachvollziehbar wäre. Ein Abstieg in Qualität und Quantität ist schon 1911-13 zu bemerken.
Woran liegt das? Zum Einen hatte sich der Spannungsliteratur-Boom etwas totgelaufen, viele Illustrierte, die zunächst erfolgreich das Strand-Magazine kopiert hatten, gingen ein, wie das verdienstvolle Ludgate Magazine- in den letzten Jahren seines Erscheinens (1899-1901) ein wichtiger Hafen für Phantastische Literatur – Horror-Experte Mike Ashley hält den Untergang dieses Blattes sogar für eine kleine Tragödie.
Auch The Idler strich die Segel 1911, ein sehr hochwertiges Literatur-Magazin, (gegründet von Jerome K. Jerome, der hier vor allem für seinen humoristischen Roman „Drei Männer auf einem Boot, ganz zu schweigen vom Hund“ bekannt wurde), das viel zur Entwicklung der niveauvollen Schauergeschichte beigetragen hat. Erfreulicherweise wurde es in den späten Jahren von einem Mann weitergeführt, der selbst leidenschaftlicher Horror-Fan war: Robert Barr, der Autor vom „Doom of London“).
Auch Magazine wie Argosy, Belgravia und Temple Bar entschliefen sanft – man liest oft, dass sie auch qualitativ absackten, aber meiner persönlichen Erfahrung nach ist das nicht der Fall. Die späten Jahre von Belgravia und Temple Bar wurden anscheinend nur noch wenig gelesen, sie stecken aber voller bisher nie anthologisierter geschweige denn übersetzter Phantastik, vermutlich entgingen sie früher der Aufmerksamkeit der meisten Leser, weil nur noch wenige Exemplare gedruckt wurden und sie fast zu so etwas wie Fanzines herabsanken. Durch die nun wieder zugänglichen Mikrofilme wird es aber in naher Zukunft möglich sein, diese Schätze zu heben.
Auffallend ist, daß in diesen Ausgaben vor allem zunehmend unbekannte Schriftsteller schrieben. Kein Wunder, viele Top-Autoren wandten sich nach Amerika und bedienten da den aufstrebenden Markt, wie Conan Doyle oder P. G.Wodehouse. Andere Stars merkten rechtzeitig, daß mit dieser Art von fantastischer Literatur nichts mehr zu holen ist und änderten ihren Stil – sie begannen andere Werke zu schreiben wie H.G. Wells oder E.F. Benson.
Das Aufblühen der Pulp-Szene in Amerika ab 1910 spielte nicht nur eine anregende, sondern auch eine lähmende Rolle in der phantastischen Literatur der Briten. US-Autoren hatten ab jetzt die Nase vorn, spätestens seit 1913, als Edgar Rice Burroughs die literarische Bühne betrat. Es wird ein typisches Phänomen der 20er und 30er Jahre sein, daß talentierte SF-Autoren sich gleich nach Amerika wenden und dort Erfolg haben, während man sie in England kaum kennt – John Russell Fearn gehört hierher und der junge John Wyndham (der sich damals noch mit seinem richtigen Namen John Beynon auswies). Auch der vielleicht beste britische Horror-Autor der 20er/30er Jahre, Herbert Russell Wakefield, wurde vor allem in Amerika als letzter großer Verfasser traditioneller Horror-Literatur gefeiert und erschien nicht selten in Weird Tales. Er war auch mit einer Amerikanerin verheiratet.
Ein anderer Grund für das Entschlummern der Phantastik war der Aufstieg Englands zur Krimi-Großmacht. Dem hatte die USA bis spät in die 20er lange hinein nur wenig entgegenzusetzen. Die Leute liebten das neue Genre und fanden das etwas altbackene Horror-Genre nicht mehr so spannend. The Golden Age des Horrors wurde vom goldenen Zeitalter des Krimis abgelöst. 1920 betrat Hercule Poirot schwungvoll die Litearatur-Bühne, auf der grade die letzten Kulissen der Gotihc-Kultur ins Lager verschoben wurden.
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