Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914 - 6. Das unbekannte Erbe
Der viktorianische Schrecken
Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914
6. Das unbekannte Erbe
6. Das unbekannte Erbe
Zum Schluss würde ich gern ein paar Bemerkungen zur generellen Qualität dieser Literatur machen.
Es liegt auf der Hand, dass es wie in jedem Genre Höhen, Routine und Tiefen gibt. Natürlich gibt es die herausragenden Klassiker, die ich schon erwähnt habe, aber wie steht es mit dem Durchschnitt? Was taugt das unbekannte Erbe? Sollten wir es annehmen, oder lieber ausschlagen? Lohnt die Suche nach unbekannten Schätzen überhaupt ?
Durchblättert man die 21 Bände der Wimbourne-Edition viktorianischer Ghost-Stories, fällt allerdings schon auf, daß wir da eine bestimmte Typologie haben, die sich schier endlos wiederholt.
Nehmen wir eine Durchschnittsgeschichte wie Louisa Baldwins Erzählung „The Shadow on the Blind“ (1894) - da ist das alte verwunschene Haus, das arglose Ehepaar das einzieht und die dunklen Andeutungen des Vermieters und der Nachbarn ignoriert, die erwähnen, daß die vorigen Mieter fluchtartig das Anwesen verlassen haben. Das Haus wird saniert, zur Einweihung gibt es einen Maskenball, unter denen der alte Spuk zunächst gar nicht auffällt. Als dann klar wird, daß das Haus besessen ist, weil hier ein Mord stattgefunden hat, verläßt auch die neue Familie das Haus wieder fluchtartig. Wir glauben das alles schon auswendig zu kennen, wenn wir nur die ersten drei Seiten gelesen haben. In der Tat ist das ein Plot, den wir abgewandelt bis heute wiederfinden, er könnte leicht modernisiert auch noch in einem Heftroman von heute (Gespester-Krimi, John Sinclair) auftauchen. Eine ewige ästhetische Frage – sind solche Plots „ewige Topoi“ , die immer zünden, weil sie uns immer bewegen, wie eine gute Liebesgeschichte? Oder sind es längst überkommene Klischees, die schon abgestanden wirkten, als sich noch fast neu waren? In der Tat gab es schon in den 1860er Jahren Artikel, die sich über diese Art von Geistergeschichte lustig machten – auch die druckt die Wimbourne-Edition gelegentlich ab.
Denn von dieser Sorte finden sich natürlich unzählige Exemplare in den alten Magazinen.
War der viktorianische Boom im Grunde eine ewige Variation desselben Themas, mit so raren Ausnahmen, daß sie schnell gezählt sind?
Ich rate zur Vorsicht bei solchen Einschätzungen. Meine weicht fundamental ab. Sie mag vielleicht etwas unorthodox sein, gibt aber Anlass zur Hoffnung.
Daß wir diese Sorte in Anthologien so oft finden, hat eher mit phantasielosen Herausgebern als mit phantasielosen Autoren von einst zu tun. Zunächst wecken Anthologien oft falsche Erwartungen, weil sie Geistergeschichten mit Schauergeschichten gleichsetzen. Nicht alle Geistergeschichten wollten gruselig sein und die Leser erschrecken. Es gibt wunderbare Exemplare, die nur amüsieren wollten oder unterhalten, das berühmteste Beispiel ist sicher Oscar Wildes „Canterville Ghost“ (1887), immer noch heißgeliebt von jung und alt, aber bestimmt nicht wegen seines Grusel-Potenzials. In dieselbe Kategorie fällt die köstliche (wohl immer noch unübersetzte) Parodie „The Curse of the Catafalques“ von F. Anstey (1882).
Ein anderes Problem ist, daß viele Generationen von Geschichtenjägern die alten Magazine nach bestimmten Mustern durchsiebt haben, und natürlich schallt es aus dem Wald so heraus, wie man hereinruft. Wenn man nach übernatürlichen Wesen mit klirrenden Ketten im Nachthemd sucht, findet man sie. Bezeichnenderweise wurden nur selten viktorianische Horror-Anthologien wirklich nach dem Gesichtspunkt zusammengestellt, ob eine Erzählung Schrecken beim Leser auslöst. Fast alle Anthologie-Herausgeber sondern etwa im Vorfeld Geschichten aus, in denen das übernatürliche Element nicht echt ist, sondern sich als Betrug, Traum oder Mißverständnis erweist – oder einfach andere nicht übersinnliche, makabre Aspekte des Horrors beschreiben. Sie ignorieren damit eine Menge Meisterwerke.
Etwa Richard Marshs „Der Pfeifensammler“ (1891), um ein Beispiel von vielen zu nennen. Die Story ist so unkonventionell, daß sie bis heute deutschen Übersetzern entgangen ist, sie passt einfach nicht ins Raster einer typischen Gruselgeschichte. Und doch hat sie mir eine Heidenangst eingejagt.
Ein Sammler bekommt von einem anderen konkurrierenden Sammler, den er nicht ausstehen kann, eine seltene Pfeife aus dem Amazonas geschenkt – geschnitzt von Ureinwohnern. Auf dem Stengel der langen Pfeife ist ein gräßliches Ungeheurer (Eine Mischung aus Echse und Insekt) geschnitzt herausgearbeitet. Immer wenn der Sammler die Pfeife raucht, erlebt er drogenhafte Zustände, in denen er glaubt, das Monster hätte sich bewegt. Das Grauenvolle: Wenn er wieder zu sich kommt, befindet sich das Wesen in leicht veränderter Stellung – und näher am Mundstück…
Ein anderes Problem ist, daß nicht immer an den richtigen Stellen noch originellen Geschichten gesucht wird. Interessante Reservoire sind die (meine Bezeichnung!) „Geister-Magazine“. Damit meine ich nicht etwa Magazine, in denen Spukgeschichten erschienen, sondern Magazine, die niemanden interessierenund daher nur noch ein Schattendasein führen, und in die niemand, obwohl sie leicht zugänglich sind, einen Blick wirft.
Zwei groteske Beispiele. Eine der berühmtesten Zeitschriften der Ära ist die schon erwähnte „All the Year Round“, die Dickens gründete. Bis 1870 ist sie so gründlich erforscht wie kaum ein andres Periodikum der Zeit. Nach dem Tod von Dickens erschien das Blatt Woche für Woche noch bis 1895, also ein Vierteljahrhundert lang! Es existieren keine Bibliographien fürdie Zeit nach Dickens' Tod. Ich habe trotz intensiver Recherche in allen relevanten Fachzeitschriften nicht eine einzige Abhandlung gefunden, die sich auch nur flüchtig mit den Ausgaben nach 1870 beschäftigt. Wir wissen einfach nicht, was für Schätze dort noch ruhen. Ja die Unkenntnis ist so grotesk, daß die englische Wikipedia schreibt: „After Dickens's death, his son would own and edit the magazine from 25 June 1870 until the end of 1895 (or possibly just until 1888)“.
[Nach Dickens' Tod übernahm und edierte sein Sohn das Magazin vom 25. Juni 1870 an bis zum Ende 1895 (oder möglicherweise nur bis 1888)]
Ein großes Rätsel? Von wegen! Man könnte ja einfach mal im Mikrofilm bei archive.org nachschauen und würde dann feststellen, daß Dickens' Sohn die Zeitschrift tatsächlich bis 1895 redigiert hat. Das macht aber keiner. Obwohl der Mikrofilm ist für jeden zugänglich ist.
Etwas abschreckend, aber eine schöne Herausforderung für Geschichtenjäger ist, daß die viele Geschichten dort anonym erschienen – das war eine alte Police von Dickens, der wollte, daß man ein Werk nicht auf Grund des großen Autoren-Namens, sondern allein aufgrund seiner Qualität bewertet. Dickens' schöne Idee erweist sich heute als fatal, denn natürlich hätten servile Geschichtenjäger längst alle Storys von Wilkie Collins herausgepickt und vermarktet – so werden sie unerkannt (falls es sie gibt) weiter in den alten Nummern schlummern, obwohl jeder zufällig auf sie stoßen und sie lesen kann, ohne zu ahnen, daß es Collins ist. [Zugegeben: Das ist ein provokatives und eher unwahrscheinliches Beispiel, denn Collins würde vermutlich irgendwann wirklich gute Geschichten in seine Gesammelten Werke aufgenommen haben. Aber ganz von der Hand zu weisen ist es nicht...]
Ein ähnliches Phänomen stellt die Ignoranz von legendären Zeitschriften in späten Stadien dar. (Ich erwähnte es schon im letzten Teil.) Die einstigen viktorianischen Flaggschiffe der Spannungsliteratur, allen voran Belgravia, Cornhill Magazine, Temple Bar und London Society, die einst Hunderttausende erreichten, sanken um 1890 zu reinen Fanzines ab, die Auflagenziffern rasten in den Keller. Sie führten nur noch ein Nischendasein. Die Schlussfolgerung der Mainstream-Literaturwissenschaft: Nix mehr zu holen hier. Keine Big Names ploppen hier auf, vielleicht abgesehen von einigen frühen Arbeiten späterer Stars wie Richard March in Cornhill oder Arthur Conan Doyle in London Society.
Seltsamerweise scheint kaum jemand auf den Gedanken gekommen zu sein, daß sich grade in diesen späten, nur noch von Hardcore-Fans gelesenen Ausgaben eine Subkultur gebildet haben könnte, die unabhängig vom Massengeschmack nicht ganz neue, aber ungewöhnliche Wege ging. Und es fällt in der Tat auf, daß hier viel experimentiert wurde mit einer engeren Verzahnung von SF und Horror. Zombies werden mit Hilfe von Chemie gezüchtet, Identitäten mithilfe einer komplizierten Maschine getauscht. Ein Zeitreise-Elixir steht kurz vorm Abschluss, der wahnsinnige Wissenschaftler braucht nur noch eins für seine Zukunftsfahrt: Jungfrauenblut... Ein Haus, das selbst lebt und seine Einwohner vertreiben will, nimmt schon eine schöne Story von Robert Bloch aus den 30ern vorweg. Um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Eine andere wichtige Quelle, die bisher kaum erforscht wurde, sind Tageszeitungen. im Papiermeer einstiger Dailies fündig zu werden, braucht viel Geduld. Der Australier Terry Walker etwa hat sich auf australische Tageszeitungen spezialisiert und kürzlich einen bis jetzt völlig unbekannten Horror-Autor entdeckt: Ernest Favenc, der ausschließlich für solche flüchtigen Tageserzeugnisse schrieb. Seine fesselnden Storys über seltsame und unheimliche Bedrohungen in der australischen Wüste aus den 1890er Jahren schlagen einen erstaunlich modernen Ton an und sind Äonen weit vor jedem klischeebehafteten Schloßgespenst entfernt. Sie sind jetzt in einer siebenbändigen virtuellen Ausgabe Roy Glashan's Library zu bewundern.
Und Natürlich – letzter Punkt – ist auch eine Buchausgabe mit Geschichten keine Garantie für Unsterblichkeit. Story-Sammlungen, die Autoren und Autorinnen selbst von ihnen Zeitschriftenbeiträgen zusammengestellt haben, sind heute rare Sammlerstücke oder gar ganz vergessen und erreichen nur selten ein größeres interessiertes Publikum. Und auch frühe Anthologien sind oft obskur geworden – tauchen sie im Netz oder im Antiquariat wieder auf, ist man oft erstaunt, welche Vielfalt die Auswahl von Sammlungen viktorianischer Horror-Literatur aus den 100 Jahren 1880-1980 bieten, oft eben mit noch gewagter Mischung aus Geistergeschichte, dunkler SF und den contes macabres, so der alte Fachbegriff für Horror-Erzählungen, deren Inhalt nicht unbedingt klassische Gespenster/Vampir/Werwolfthemen aufgreifen muß, sondern sich ungewöhnlicherer Möglichkeiten bedient, den Leser zu erschrecken. So manche ausgefallene Anthologie von 1979 ist inzwischen schon wieder so vergessen, als stamme sie aus dem Jahr 1879.
Und ich rede hier in dieser Reihe nur über die englischsprachigen Originalgeschichten. Das mag dem Leser eine Ahnung verschaffen, wie viel Literatur mangels Übersetzungen noch kein deutsches Publikum erreicht hat.
Das Feld der wieder zu entdeckenden Geschichten ist also groß.
In wenigen Jahren könnte künstliche Intelligenz eine große Hilfe sein, sie wiederzufinden. Noch ist KI überfordert, wenn man sie bittet, in alten Mikrofilmen gruselige Geschichten aufzufinden, doch schon bald könnte das möglich sein, weit über eine reine Stichwortsuche hinaus. Die KI wird vermutlich aufgrund bestimmter Parameter selbst einschätzen können, ob eine Geschichte SF- oder Horror-Elemente enthält.
Aber ob nun maschinell oder menschlich gesucht wird - ich denke, wir können uns auf eine Menge schöne Funde freuen. Einiges ist auch schon ans Licht gekommen – eine kleine Übersicht über frei verfügbare Textsammlungen im Netz gibt’s in der nächsten und letzten Folge.
Kommentare
Ich fand die google blogs immer ganz ok für solche Sachen, ich war mal richtig gut mit dem Design und so, ist aber schon wieder ewig her, daß ich das angefasst hab, deswegen hab ich vieles wieder vergessen. Ich finds unkompliziert und kostet nix. Sollte ich die Übersetzerei und mal ausbauen (ich komm so selten dazu wegen meines Jobs), wär ich schon am Überlegen, ob man nicht mal ne richtige Seite kauft. Die Hauptfreitzeit geht fürs Finden & Digitalisieren gefundener Sachen für Roy Glashans Library drauf - wir haben dort hunderte von Texten konserviert. Doch Roy ist Mitte Achtzig, wer weiß, wie lange das noch läuft. Im Moment kümmert er sich um die Seite. freeread.com.au/index.html
Ein schönes Projekt von vielen, an denen ich beteiligt war, ist die Rekonstruktion aller originalen van-Dusen-Stories. freeread.com.au/@RGLibrary/JacquesFutrelle/@JacquesFutrelle.html
Er wird wohl gegen Ende des Jahres erscheinen.
Zunächst wird es einen Band mit kürzeren Erzählungen von F. Anstey geben.
Dieser wunderbare Artikel ist ja eine wahre Fundgrube für unübersetzte Geschichten.
Da werde ich mich noch eine Zeit mit beschäftigen.