Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914 - 4. Dickens, Weihnachtsgrusel und Moral
Der viktorianische Schrecken
Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914
4. Dickens, Weihnachtsgrusel und Moral
4. Dickens, Weihnachtsgrusel und Moral
Warum wurde der Horror und die Phantastik so offen akzeptiert, ja herbeigesehnt und ermutigt, während man ihn anderswo als lästige Erscheinung der Trivialliteratur abtat? Ich habe schon einige Aspekte erwähnt, zwei Merkwürdigkeiten seien hier in diesem Teil unbedingt noch hinzugefügt – die Weihnachtstradition und die Verknüpfung von moralischen Werten mit dem Horror in der Frühphase. Beide Aspekte schufen dem britischen Schauergeschichten lange eine weitere breite Straße der Akzeptanz.
Ist es nicht sonderbar, daß sich ausgerechnet zu Weihnachten eine britische Horror-Tradition herausbildete, die das massive Erscheinen von Horror-Geschichten im Dezember auf dem Markt nicht nur tolerierte, sondern geradezu forderte? Nur wenige Magazine entzogen sich dem Brauch und druckten im letzten Heft des Jahres keine Horror-Story. Das Fehlen hätte ihrem Ruf massiv geschadet. Lange Zeit war es sogar Brauch, daß die renommierten Magazine Extra-Weihnachts-Ausgaben brachten, in denen es besonders gruselig zuging – Belgravia war dafür bekannt und natürlich Dickens „All the Year Round“.
Tatsächlich hatte England die Weihnachtsgruseltradition zweifelsohne seinem größten Romanautor Charles Dickens zu verdanken.
Der wird 1850 Chef der Wochen-Zeitschrift „Household Words“ und ist auf der Suche nach guten Gruselstories für sein Blatt.
Das exzellent geschriebene Magazin zieht bald einen jungen Journalisten in seinen Bann, der ein Gespür fürs Düstere und Morbide hat - Wilkie Collins. Collins schreibt für Dickens' Zeitschrift erste moderne Horror-Geschichten wie „Ein schauerlich fremdes Bett“. Diese Storys in den frühen 1850er Jahren haben so großen Anklang, daß Dickens eine geniale Idee kommt:
Eine Horror-Anthologie zu Weihnachten mit Rahmenhandlung! 1852 gibt’s als Extra-Weihnachtsausgabe das erste von vielen köstlichen Grusel-Heften: „A Round of Stories“ heißt das Ganze. Dickens schreibt hier (und auch später) meist die Rahmenhandlung, und seine Mitarbeiter die entsprechenden Geschichten. Gleich das erste Heft enthält einen Klassiker: Elisabeth Gaskells „Geschichte des Kindermädchens“, in der ein rachsüchtiges totes Kind versucht, ins Haus einzudringen, um das dort lebende Kind zu töten, bis heute ein Meisterstück von enormer Intensität. Eine gewisse Shining – Vorahnung ist hier zu spüren…
(Nicht zufällig erwähne ich Stephen King immer wieder, er hat viele Anleihen bei viktorianischer Schauerliteratur genommen, die bekannteste Hommage ist vielleicht die an die „Affenpfote“ von W.W. Jacobs von 1902, wo ein Ehepaar versucht, ihren toten Sohn mit Hilfe eines Zaubers wiederzubeleben, was gründlich schiefgeht. Die Erzählung war eine wichtige Inspiration für „Friedhof der Kuscheltiere“.)
Dickens war als Chefradakteur an seine Verleger gebunden; nach knapp 10 Jahren trennte er sich von ihnen und gründete seine eigene Zeitschrift. Dort trieb er die Entwicklung der düsteren Spannungsliteratur weiter voran und ermutigte junge Autorinnen und Autoren, sich in diesem Genre zu versuchen – das Magazin „All the Year Round“ wird vor allem zum Eldorado früher Thriller. Hier erschien Collins „Frau in Weiß“ in Fortsetzungen und später auch dessen „Monddiamant“. Und Dickens veröffentlichte kurz vor seinem Tod eine der verstörendsten Horror-Geschichten der Ära, die enormen Einfluss auf spätere Ikonen der Horror-Literatur haben sollte: „Grüner Tee“ erscheint als Fortsetzung erstmals am 23. Oktober 1869. Der Autor ist der Ire Sheridan Le Fanu (ich habe schon seine Vampir-Geschichte Carmilla erwähnt). Grüner Tee präsentiert einen Ich-Erzähler, der als erster großer Geisterjäger der Literaturgeschichte eingeht, die sinistre Atmosphäre hat Einfluss auf die berühmteste Horror-Novelle der viktorianischen Epoche, Stevensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde, und sogar Lovecraft wird sich davon noch beeinflussen lassen.
Der Anblick von Dämonen ist nie erfreulich, doch ein Pfarrer ist gezwungen, ständig einen zu sehen, weil er grünen Tee trinkt. Damals war das noch eine Wunderdroge, die – so glaubte man – bei übermäßigem Genuß Halluzinationen oder Ärgeres hervorruft, und so sieht der Pfarrer eine bösartige astrale Affengestalt, die auf der Bibel thront und ihn letztlich in den Wahnsinn treibt.
Die Weihnachts-Extra-Ausgaben „All the Year Round“ bleiben oft fürs Gruselige reserviert – auch über Dickens Tod hinaus. Auch anderswo kopiert man die Tradition – Das berühmteste politische Wochen-Blatt Englands, die ehrwürdige „Illustrated London News“ imitiert das ebenso wie die eigentlich als Satire- und Klatschblatt bekannt gewordene Magazin „London Society“ Ja Grusel- und Thriller-Autorin Mary Braddon wird sogar ein Magazin gründen, daß nur zu Weihnachten erschien – „The Misteltoe Bough“ (Der Mistelzweig). Sehr rare Exemplare übrigens, mir ist nie eins zu Gesicht gekommen, nicht mal als Scan oder Mikrofilm. Einige der besten Horror-Geschichten Braddons erschienen hier, etwa „The Face in the Glass“. Die Bibliographie Frau Braddons gibt als Quelle für Gruselgeschichten auch so obskure Blätter wie „Sheffield Weekly Telegraph Christmas Number“ an – ich erwähne das, um deutlich zu machen, wo überall solche Weihnachtsausgaben mit Grusel-Themen aufploppten. Praktisch überall also. Die Anzahl der gedruckten Geschichten ist entsprechend uferlos.
Ob das alles heute noch brauchbare Lektüre ist? Höchstwahrscheinlich nicht.
Trotz Dickens und mutiger Frauen, die die Horrorgeschichte vorurteilslos vorantrieben, ist natürlich der Weg zur modernen Form, wir sie heute kennen und wie sie sich um 1900 endgültig ausprägte, steinig gewesen. Es war ein langer mühsamer Weg aus den Sümpfen der christlichen (Schein)moral und abgedroschenen Gespenster-Klischees hin zu einer freien, ungebundenen und vorausweisenden Prosa.
Das fällt besonders auf beim Lesen frühviktorianischer Gruselgeschichten der 1840er und 50er Jahren, die ich persönlich nur schwer genießbar finde. Es gibt immer ein moralisches Konstrukt, die Gespenster sind immer Täter oder Opfer, die keine Ruhe finden, Strafe und Buße spielt eine zentrale Rolle. Eigentlich sind es Warnmärchen und pädagogische Fabeln. Die bekannteste dieser Art dürfte Dickens' „Cristmas Carol“ sein, ein moralinsaures Weihnachtsmärchen mit dem Geizhals Scrooge, der von den Geistern zu einem besseren Menschen erzogen wird. Um ehrlich zu sein, ich fand die Geschichte immer abscheulich. Und sie verstellt den Blick auf bessere Gespenstergeschichten. Obwohl sie zwar typisch ist für die frühe Ära, ist es keine exemplarische Gespenster-Geschichte des Viktorianismus. Selbst Dickens hat später bessere Horror-Stories geschrieben (siehe in Teil 3 die Bemerkungen zum „Bahnwärter“) und natürlich auch herausgegeben. Doch für viele steht sie (abschreckend!) für eine ganze Gattung, und verscheucht so neugierige Leser, die sich sonst vielleicht weiter mit der Thematik beschäftigt hätten.
Horror als abschreckende Moritat – das hat, muß man zur Verteidigung der Frühform sagen, ja durchaus eine zählebigere Tradition, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Waren es im Horrorfilm der 90er nicht immer die sexy Girls, die dran glauben mußten, weil sie dann doch die eine oder andre Nummer zu viel schoben, und überlebte dann nicht doch immer die „Tugendhafte“?
Auch „Jekill und Hyde“ ist in gewissem Sinn noch ein moralisches Traktat, wenn auch besser verhüllt. Das Neue in dieser Novelle war die Tatsache, daß Gut und Böse in einer Person stecken können und beide Extreme kein Schwarzweiß-Denken zulassen, doch der Appell an die Tugend ist in der Geschichte grade am Ende laut genug.
Erste Änderungen am moralischen Konstrukt kamen in den 1860ern. Mary Braddon erfindet beispielsweise die blonde Schurkin, das schöne Biest. Die wird zwar am Ende bestraft, aber wir fangen schon an mitzufiebern, der Grundstein für den „invertierten Thriller“ ist gelegt, wie sie dann in seiner krassesten Form bei Patricia Highsmith oder Jim Thompson im 20 Jahrhundert erscheint. In ihrem bahnbrechenden Roman „Lady Audleys Geheimnis“ (1862) ist die böse Intrigantin nicht mehr häßlich oder gesellschaftlich benachteiligt, sondern eine wunderschöne kaltschnäuzige und reiche Blondine, die Urmutter aller fiesen Blondinen in Hard Boiled Krimis. (Natürlich gab es den Typus schon früher, etwa in Dumas' „Drei Musketieren“, doch selten zuvor stellte die Literatur eine solche Figur in den Mittelpunkt eines Romans.)
James Payne ging noch weiter - In „Lost Sir Massingberd“, einem Mega-Bestseller von 1864, wird der britische Adel erstmals als hemmungslos böse und verderbt dargestellt, während die Sinti und Roma extrem positiv gezeichnet werden. Diese Sensations-Romane (Sensational Novel), wie sie damals genannt wurden, waren keine Horror-Romane im eigentlichen Sinne, eher Frühformen des Thrillers, Übernatürliches spielte kaum eine Rolle, allerdings gingen Autoren wie Braddon, Collins, Payne oder Wood oft erstaunlich weit in der Drastik der Darstellung, die schon sehr modern anmutet. Sir Massingberd etwa versteckt sich in einer alten hohlen Eíche, um seinen Verfolgern zu entgehen und bleibt dort stecken und verreckt – seine verweste Leichte wird erst Monate später von spielenden Kindern (!) im Baum gefunden. Der grausige Schluß war den Lesern bald so geläufig, daß spätere Taschenbuch-Ausgaben der viktorianischen Ära ihn schon auf dem Cover zeigten. Spoiler schienen kein schwerwiegendes ästhetisches Problem der Ära gewesen zu sein.
Kommentare
Die anderen Artikel von Matthias sind dir aber geläufig? Auch wenn die ein anderes Thema haben z.B. www.zauberspiegel-online.de/index.php/phantastisches/gedrucktes-mainmenu-147/30631-amazing-pulps-teil-1-das-erste-sf-magazin-der-welt-hugo-gernsbacks-amazing-1926-29
defms.blogspot.com/2022/08/fantastic-pulp-3.html